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„Die kritische Literatur war für mich das Brot neben dem wirklichen Brot“
Die DDR schmückte sich gern mit dem Titel „Leseland“ und sah sich in der Nachfolge der großen Dichter und Denker der deutschen Geschichte. Literatur sollte nach dem Krieg im Stile des „Sozialistischen Realismus“ geschaffen werden und die neue Zeit, den sozialistischen Neuanfang unterstützen. Doch Autoren und Autorinnen, die gesellschaftliche Probleme und Schwierigkeiten aufgriffen, erhielten schnell das Etikett „Staatsfeind“ und gerieten in das Visier der Stasi. Die Grenzen der DDR-Kulturpolitik, in denen sich die Autoren bewegen mussten, waren also eng. Die Folgen kritischer Literatur waren oft Publikations- und Berufsverbote. Es war es unumgänglich, einen schmalen Grat zu beschreiten, wollte man in diesem System beides: Schreiben und Überleben. Dieses Spannungsfeld wurde in einem Podiumsgespräch „Es ging seinen Gang“ - Kritische Literatur in der DDR mit den Autoren Utz Rachowski und Udo Scheer und im Anschluss durch die gleichnamige Ausstellung des Martin-Luther-King Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage Werdau e.V., die noch bis zum 15.5.2019 in der Erfurter Außenstelle des BStU zu sehen ist, beleuchtet. Der Titel bezieht sich in auf einen Roman von Erich Loest: „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ von 1978.
Systemkritische Literatur fungierte in der DDR als Ersatzöffentlichkeit, was wiederum oftmals die Stasi und ihre Überwachungsmethoden auf den Plan rief. Von besonderer Bedeutung ist dies im Blick auf den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution von 1989. Politische Verfolgung, Bespitzelung, Einschüchterung und Überwachung der Kulturschaffenden waren feste Bestandteile zur Sicherung der Herrschaft der SED. Die Friedliche Revolution von 1989 beendete eine 40-jährige Phase der politischen Unterdrückung, Entmündigung und Unfreiheit und mündete ein Jahr später in die Wiedervereinigung Deutschlands. Der politische Umbruch, der in diesen beiden Jahren kulminierte, führte nicht nur zum Untergang der DDR, sondern auch zum Ende des Kalten Krieges, der seit 1945 die Weltpolitik bestimmte. Dass, was im Herbst 1989 geschah, hatte es bis dato in der deutschen Geschichte noch nicht gegeben. Wesentlich für die friedliche Revolution in der DDR war, dass sie aus der breiten Masse der Bevölkerung heraus getragen wurde und gewaltfrei ablief. Und eben für die war die „kritische Literatur“ ein wichtiger Faktor.
Nach einer Begrüßung durch Alrun Tauchè, Leiterin der Erfurter Außenstelle des BStU und Dr. Markus-Liborius Hermann im Namen der KAS moderierte Oda Maertens von der BStU-Außenstelle Erfurt das Podiumsgespräch mit dem Publizisten und Autor Udo Scheer sowie dem Schriftsteller Utz Rachowski. Scheer, 1951 in München geboren, siedelte 1960 siedelte in die DDR über. Er studierte von 1970 bis 1974 Gerätebau in Jena und war Mitglied im 1975 verbotenen „Arbeitskreis Literatur und Lyrik“ in Jena. Die Veröffentlichung seiner literarischer Arbeiten wurden bis 1989 weitgehend durch die Partei- und Staatsführung der DDR und das Ministerium für Staatssicherheit, das ihn bespitzeln ließ, verhindert. Scheer beschrieb, wie der SED-Staat ihn und andere massiv in ihrer literarischen Tätigkeit hinderte und stattdessen einen sozialistischen Realismus förderte, der v.a. durch viele Tabuthemen geprägt war, etwa die Armee und die Wirtschaft: „Wenn Probleme beschrieben werden durften, dann nur lösbare Probleme. Und letztlich sollten die Vorzüge des Sozialismus durchscheinen.“ So aber war natürlich keine Literatur zu machen. Scheer ist nach der Friedlichen Revolution v.a. für seine beachteten Arbeiten zu Jürgen Fuchs, Günter Ullmann und Reiner Kunze bekannt.
Rachowski, geboren 1954 in Plauen/Vogtland, wurde 1971 von der Erweiterten Oberschule ausgeschlossen. Er konnte zwar 1977 sein Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Freiberg nachholen und in Leipzig ein Medizinstudium beginnen, doch wurde er dort bereits nach zwei Semestern exmatrikuliert und arbeitete fortan als Heizer. Wegen der Verbreitung eigener Gedichte sowie der Vervielfältigung und Verbreitung von Texten von Jürgen Fuchs, Wolf Biermann und Reiner Kunze wurde er 1979 wegen „staatsfeindlicher Hetze in Versform“ sieben Monate verhört, angeklagt und zu 27 Monaten Haft verurteilt. 1980 wurde er in die Bundesrepublik entlassen. Ein Schritt, den er damals v.a. wegen seines in seiner Haftzeit geborenen Kindes tat, den er aber noch lange bereute.
Scheer und Rachowski schilderten lebhaft ihre sich zum Teil überschneidenden biographischen Erfahrungen und beschrieben die Literatur und besonders die kritische Literatur als „Lebenselixier“ (Scheer) und „Brot neben dem wirklichen Brot“ (Rachowski). Damit warfen sie ein wichtiges Schlaglicht auf die heute zum Teil wieder verklärte und verharmloste DDR-Diktatur.
Anschließend wurde die Ausstellung „Es ging seinen Gang“ - Kritische Literatur in der DDR eröffnet, die sich anhand zahlreicher DDR-Schriftsteller wie Erich Loest, Jürgen Fuchs, Reiner Kunze, Stefan Heym und Christa Wolff diesem Thema widmet.
Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der BStU Außenstelle Erfurt statt.