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Die laizistische Republikanische Volkspartei (CHP) mit ihrem neuen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu als stärkstem Herausforderer Erdoğans kam nur auf 25,9 % der Stimmen. Dies ist zwar ein Zuwachs von 5 % gegenüber 2007 (20,9%) und beschert der CHP 135 Sitze in der Großen Nationalversammlung (2007 waren es nur 112 Sitze), dennoch blieb die Partei des Republikgründers Atatürk deutlich hinter den Erwartungen zurück. Meinungsumfragen sagten ihr noch einige Tage vor den Wahlen bis zu 30 % der Stimmen voraus.
Als dritte Partei zieht die Nationalistische Aktionspartei (MHP) mit 53 Abgeordneten ins türkische Parlament ein. Sie erhielt 12,9 % der Wählerstimmen und überschritt somit die im türkischen Wahlsystem geltende Hürde von 10 Prozent komfortabel. Noch wenige Wochen vor den Wahlen wurde die MHP durch eine Reihe von kompromittierenden Sexvideos erschüttert, die Unbekannte ins Internet stellten. Die Affäre führte zum Rücktritt von zehn führenden MHP-Politikern und zu einer parteiinternen Krise. Einige Umfragen sahen die MHP danach bereits unter die Zehnprozenthürde rutschen. Hätte die MHP den Einzug ins Parlament nicht geschafft, wäre eine Zweidrittelmehrheit für die AKP nicht auszuschließen gewesen.
Des Weiteren werden im neuen Parlament 36 Abgeordnete vertreten sein, die als unabhängige Kandidaten bei den Wahlen angetreten sind. Sie wurden von der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) unterstützt, die selbst keine Chance hatte, über die Zehnprozenthürde zu kommen. Die BDP ist Nachfolgepartei der 2009 verbotenen DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft), die bei den Wahlen von 2007 mit 20 Sitzen Fraktionsstärke erreichte. Mit 36 Abgeordneten wird die BDP die kurdischen Interessen wirksam vertreten können.
Laut vorläufigem Ergebnis werden im Parlament 78 Frauen vertreten sein, ein erfreulicher Anstieg gegenüber dem bisherigen Stand (48). Erstmals seit 50 Jahren wird in die Große Nationalversammlung auch ein christlicher Abgeordneter einziehen: Der Aramäer Erol Dora, der als unabhängiger Kandidat in der Provinz Mardin gewählt wurde.
Zu den Wahlen waren mehr als 51 Millionen registrierte Wähler aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag nach vorläufigen Angaben bei 87 Prozent und damit noch höher als vor vier Jahren (84,5%). Um die Wählerstimmen bewarben sich 15 politische Parteien und 203 unabhängige Kandidaten.
Das Wahlergebnis bedeutet für Erdoğan und seine Partei eine klare politische Bestätigung. Gleichwohl kann die AKP mit ihrem Erfolg nicht ganz zufrieden sein. Denn trotz des deutlichem Stimmenzuwachs wird sie im Parlament über weniger Sitze verfügen als bisher: Die Zahl ihrer Mandate sinkt von 341 auf demnächst nur noch 326 (von insgesamt 550). Dies bedeutet, dass die AKP eine neue Verfassung nicht mehr im Alleingang durchsetzen kann: Verfassungsänderungen können im Parlament entweder mit einer Zweidrittelmehrheit (367 Stimmen) verabschiedet, oder nach einer Zustimmung von mindestens 330 Abgeordneten einer Volksabstimmung vorgelegt werden. Darüber entscheidet der Staatspräsident. Die jetzige Situation bedeutet, dass sich Erdoğan und seine Partei mit der Opposition verständigen müssen.
Politische Beobachter sind sich einig: Die Einführung einer zivilen und demokratischen Verfassung gehört zu den wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung. Noch in der Wahlnacht kündigte Erdoğan an, gemeinsam mit der Opposition und allen gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich Nichtregierungsorganisationen, an einer neuen Verfassung arbeiten zu wollen. Allerdings gab es ähnliche Ankündigungen bereits vor vier Jahren, als die AKP bei vorgezogenen Neuwahlen im Juli 2007 einen überragenden Sieg errungen hatte. Eine unabhängige Expertengruppe wurde damals mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragt, der dann allerdings schnell in den Schubladen der AKP-Gremien verschwand und nicht weiter zur Diskussion stand.
Ein weiteres dringendes Thema, dass auch im Rahmen einer neuen Verfassung aufgegriffen werden muss, ist die Lösung der Kurdenfrage. Hier wird sich die AKP auf die BDP hinzubewegen müssen, gegen die sie einen scharfen, teilweise nationalistisch gefärbten Wahlkampf führte. Die dahinter vermutete Strategie, wonach national orientierte Wähler der MHP abgeworben werden sollten (um diese dann unter die Zehnprozenthürde zu drücken), ging jedoch nicht auf. Nun wird die AKP einer Diskussion um regionale Autonomie und politische Rechte für die Kurden nicht mehr ausweichen können.
Das Thema Europa spielte im Wahlkampf praktisch gar keine Rolle. Die Türkei ist während der neunjährigen Regierungszeit der AKP eine wirtschaftlich erstarkte, politisch einflussreiche Regionalmacht geworden, die sich außenpolitisch alle Optionen offen hält. Zwar hat Premierminister Erdoğan kurz vor den Wahlen angekündigt, sein zukünftiges Kabinett umzubilden und unter anderem ein eigenes Ministerium für die Angelegenheiten der Europäischen Union schaffen zu wollen. Ob dies jedoch als Signal für eine Wiederbelebung des stagnierenden EU-Beitrittsprozesses zu deuten ist, bleibt abzuwarten.