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Der Rücktritt der drei Ressortminister für Inneres, Justiz und Verkehr wird im Artikel 114 der türkischen Verfassung vorgeschrieben. Damit soll verhindert werden, dass die Regierung vor den Wahlen Gesetze erlässt, die der Regierungspartei mögliche Vorteile im politischen Wettbewerb verschaffen könnten. Bis zur Ernennung einer neuen Regierung werden diese Ministerien von unpolitischen Bürokraten geführt, im konkreten Fall von den jeweiligen Staatssekretären. Neben den Ministern müssen aber auch all jene Kandidaten, die ein Staatsamt oder eine hohe öffentliche Funktion bekleiden, von ihren Ämtern zurücktreten. Dies betrifft den öffentlichen Dienst, Gewerkschaften, Verbände, staatliche Betriebe und Banken.
Die Wahlen zur Großen Türkischen Nationalversammlung am 12. Juni werden einige Neuerungen betreffen. Dank der Verfassungsänderung von 2007 dürfen sich erstmals Kandidaten ab einem Alter von 25 Jahren für ein Parlamentsmandat bewerben. Bei einer jungen Gesellschaft wie der türkischen betrifft dies eine zahlenmäßig große Bevölkerungsgruppe. Erstmals in der Geschichte der Republik dürfen Wahlkampagnen in anderen Sprachen als Türkisch geführt werden, dies ist vor allem in den kurdischsprachigen Wahlbezirken im Südosten der Türkei von großer Bedeutung. Die bisherigen hölzernen Wahlurnen werden durch transparente Plastikboxen ersetzt und Wähler können ihre Stimme ohne Identitätsausweis nach Angabe Ihrer Identitätsnummer abgeben. Auch dies ist vor allem in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten vorteilhaft.
Nicht wählen dürfen indes türkische Staatsbürger im Ausland. Ein entsprechendes Urteil des Hohen Wahlrats (Yüksek Seçim Kurulu –YSK) sorgte bei Premierminister Recep Tayyip Erdoğan und seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP für großen Ärger. Von den etwa 5 Millionen im Ausland lebenden Türken sind schätzungsweise 3 Millionen wahlberechtigt, allein in Deutschland könnten über 1,6 Millionen türkische Staatsbürger ein Stimmrecht haben.
Dies ist ein erhebliches Wählerpotenzial, zumal viele Beobachter davon ausgehen, dass eine Mehrheit dieser Menschen konservativ - und damit AKP - wählen würde. Ein Gesetz der AKP-Regierung, wonach im Ausland lebende Türkei per Briefwahl oder e-mail abstimmen können, wurde vom Türkischen Verfassungsgericht im Frühjahr 2008 annulliert. Erdoğan und sein Kabinett ließen deshalb Vorbereitungen einleiten, um zumindest eine Stimmabgabe an den türkischen Botschaften und Konsulaten zu ermöglichen. Dies erfordert neben technischen Vorkehrungen auch Sicherheitsmaßnahmen, die mit dem jeweiligen Gastland abgestimmt werden müssen. Für Premier Erdoğan war es deshalb besonders ärgerlich, dass er über die negative Entscheidung des Wahlrats während seines Deutschlandbesuches am 28. Februar 2011 erfuhr.
„Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte uns, dass es von deutscher Seite keine Probleme mit dieser Angelegenheit (Stimmabgabe an Botschaften und Konsulaten) gibt. Die Wahlbehörde traf ihre Entscheidung, während ich noch darüber Gespräche (in Deutschland) führte. Wollen sie mich sabotieren?“ wurde Erdoğan in den türkischen Medien zitiert. Die Wahlbehörde YSK begründete Ihre Entscheidung damit, dass bis zum Wahltermin nicht genügend Zeit für die technischen und sicherheitsrelevanten Vorkehrungen vorhanden sei und berief sich dabei auf ein entsprechendes Gutachten des Außenministeriums. Die türkische Regierung will trotzdem prüfen, ob das Urteil von YSK noch angefochten werden kann. Sollte es bei der aktuellen Regelung bleiben, müssten im Ausland lebende Türken in die Türkei reisen, um an den Grenzübergängen ihre Stimme abgeben zu können.
Der Auftritt des türkischen Premierministers und AKP-Vorsitzenden vor seinen Landsleuten im Düsseldorfer ISS Dome am 27. Februar 2011, der in Deutschland auf viel Kritik gestoßen ist, hatte eine starke wahlkämpferische Komponente. Einerseits konnte die für die AKP interessante konservative Wählerzielgruppe in Deutschland direkt durch den charismatischen Wahlkämpfer Erdoğan angesprochen werden, anderseits wurde an die Wählerschaft in der Türkei das klare Signal gesendet, der türkische Premierminister setzt sich nachdrücklich für die Rechte der Türken im Ausland ein.
Die Haltung des türkischen Staates zu seinen Bürgern im Ausland ist seit längerem eindeutig: sie sollen der Türkei gegenüber loyal und verbunden bleiben („ihre Identität bewahren“). In diese Richtung arbeiten türkische Institutionen im Ausland: die Auslandsvertretungen, Konsulate, die Religionsbehörde Diyanet (in Deutschland DİTİB), Kultureinrichtungen und Vereine. Anfang 2010 wurde beim Premierministeramt in Ankara ein eigenes Amt für Auslandstürken errichtet, das von Staatsminister Faruk Çelik geleitet wird. Çelik ist im Kabinett Erdoğans auch für die Religionsbehörde Diyanet sowie die Entwicklungsagentur TIKA zuständig.
Die Rede Erdoğans in Düsseldorf fand in den türkischen Medien relativ wenig Aufmerksamkeit, da die Berichterstattung vom plötzlichen Tod des früheren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan dominiert wurde. Erbakan, der am 27. Februar im Alter von 84 Jahren an Herzversagen starb, hatte 1969 die islamistische Bewegung Milli Görüş gegründet und wird als Geistesvater des politischen Islam in der Türkei bezeichnet. Er gilt zudem als politischer Ziehvater einiger heutiger Spitzenpolitiker der AKP, vor allem des jetzigen Ministerpräsidenten Erdoğan. Dieser trennte sich jedoch von seinem Mentor und gründete 2001 gemeinsam mit Abdullah Gül und weiteren ehemaligen Weggefährten Erbakans die AKP. Erbakan versuchte zwar, mit der eigenen „Glückseligkeitspartei“ (Saadet Partisi) weiterhin im Politikgeschäft zu bleiben, spielte aber fortan nur noch eine Nebenrolle. Bei den kommenden Wahlen im Juni gilt als wahrscheinlich, dass viele der Stimmen von Erbakans Glückseeligkeitspartei an die AKP übergehen werden.
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