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Deutsch-Ukrainisches Forum zur Aufarbeitung totalitärer Vergangenheit
Am 23. und 24. Oktober 2008 veranstalteten Konrad-Adenauer-Stiftung Ukraine, Europäischer Austausch, die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde und die Polnisch-Ukrainische Stiftung für Zusammenarbeit PAUCI gemeinsam die Vierten Kiewer Gespräche unter dem Titel „Geschichte und Erinnerungspolitik in der Ukraine und Deutschland heute“ in Kiew. Mehr als 100 Experten, Wissenschaftler, Politiker und Gäste aus beiden Ländern beteiligten sich an den Diskussionen um Zugang zu den Akten, Verfolgung der Täter, den Umgang mit totalitären Vernichtungserfahrungen und der Entwicklung einer Erinnerungskultur in der Ukraine und Deutschland.
Der amtierende Vorsitzende des Instituts für Nationales Gedächtnis, Professor Ihor Juchnowsky, überbrachte zur Eröffnung der Veranstaltung die Grußworte des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko. Dieser bedankte sich für die deutschen Angebote eines Lernens aus den Erfahrungen der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit, insbesondere durch die Konrad-Adenauer-Stiftung.
Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine, Dr. Hans-Jürgen Heimsoeth, und Eckart von Klaeden MdB, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion betonten in ihren Grußworten die Bedeutung des Umgangs mit der Vergangenheit für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft und eines Staates, in dem Humanismus und europäische Werte die Grundlage der politischen Ordnung darstellen. Beide wiesen darauf hin, dass Erinnerungskultur auch eine Streitkultur impliziert, die Pluralismus voraussetzt und eine politisierte oder gar ideologische Geschichtsschreibung verbietet.
Freier, umfassender und unabhängiger Zugang zu den Akten ist notwendig
Deutsche Erfahrungen und ukrainische Fortschritte im Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit schilderten die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Marianne Birthler, und der amtierende Präsident des Geheimdienstes der Ukraine, Walentyn Nalyvaichenko. Marianne Birthler verwies darauf, dass eine wahrhaftige Beschäftigung mit der Geschichte einen freien und umfassenden Zugang zu den Akten erfordere, um historische Ereignisse möglichst unvoreingenommen beurteilen zu können. Im Falle der Aufarbeitung totalitärer Diktaturen sei dies vor allem ein Zugang zu Gerechtigkeit für die Opfer.
In der Diskussion wurde die Frage erörtert, ob eine Institution wie der Geheimdienst der Ukraine, die Anfang der neunziger Jahre aus dem ukrainischen Anteil des sowjetischen KGB hervorging, eine tatsächlich wahrheitsgemäße Öffnung der Archive beabsichtigt und diese auch gewährleisten kann. Auch wenn die bereits erfolgten Aufklärungsarbeiten und die Freigabe der Akten aus den dreißiger Jahre durch den Geheimdienst als erste Schritte in der Ukraine weitgehende Anerkennung fanden, äußerten viele Diskussionsteilnehmer Zweifel am freien Zugang für alle Interessierte, Umfang und Vollständigkeit der geöffneten Archive und der Unabhängigkeit der Institution.
Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld als Element der Identitätsfindung
Einen wichtigen Raum nahmen während der gesamten Konferenz die individuellen Erfahrungen von Persönlichkeiten ein, die in Zeiten totalitärer Diktaturen den Widerstand gegen das System gewagt hatten. In den Schilderungen ehemaliger Dissidenten wurde die persönliche Dimension der Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung deutlich - auch für den Prozess der Identitätsfindung.
Wolfgang Templin, Myroslaw Marynovych und Jewhen Sacharow machten aber auch darauf aufmerksam, dass die alleinige Positionierung als Opfer für die demokratische Entwicklung eines Landes hinderlich sei. Gerade die Auseinandersetzung mit den Vertretern der Dissidenz, ihrer Verfolgung und der Unrechtsjustiz zwinge eine Gesellschaft dazu, sich auch mit der eigenen Schuld zu beschäftigen. Die ukrainischen Teilnehmer machten darauf aufmerksam, dass die die Aufklärung und Entschädigung der Opfer betreffenden Gesetze ihre Aktualität verloren hätten und neuer Formulierung bedürften.
Die historische und juristische Aufarbeitung totalitärer Vergangenheit hat vor allem Anerkennung der Opfer des eigenen Staates und die Verfolgung der Täter zum Ziel. Im Verlauf der Vierten Kiewer Gespräch wurde deutlich, dass dies in der Ukraine vielfach schwieriger ist als in Deutschland, weil zu unterschiedlichen Zeiten die Verfolgten zu Verfolgern wurden und umgekehrt.
Vor allem kritisierten Experten, Historiker und Politiker aber die Versuche der Konstruktion einer einheitlichen ukrainischen nationalen Identität als Ziel staatlicher Erinnerungspolitik. Im Vordergrund sollte eine möglichst breite Aufklärung stehen, die langfristig in jedem Fall einen Beitrag zur Identitätsfindung leisten könne. Das Ergebnis dieser Identitätsfindung dürfe jedoch nicht dem eigentlichen Prozess vorangestellt werden. Es sei zudem gefährlich, alte Helden und Geschichtsmythen durch neue zu ersetzen, da dies eine offene Herangehensweise an die Aufarbeitung der Vergangenheit ausschließe und letztlich der kritisierten ideologischen sowjetischen Geschichtsschreibung gleichkomme.
Forderung nach umfassendem Erinnern ohne politische Instrumentalisierung und „Erinnerungspolizei“
Andrij Pawlaschyn merkte in diesem Zusammenhang an, dass die derzeitige ukrainische einseitige Erinnerungspolitik in ihm den Gedanken an eine „Erinnerungspolizei“ aufkommen lassen würde. Es sei wichtig, dass Historiker Fakten zur Verfügung stellen und Geschichtsdeutungen anbieten und diese nicht aufzwingen. Die Geschichtsdeutung müsse Gegenstand der Historikerstreits werden und keine Konsensbasis der Diplomaten. Die Idee einer einheitlichen historischen Erinnerung Europas lehnten auch andere Teilnehmer des Forums ab, so auch der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, Dr. Uwe Lehmann-Brauns. Wichtig sei es jedoch, einheitliche Standards der Geschichtsforschung und –schreibung zu etablieren, um eine alleinige Darstellung der Opfer- oder der Siegerperspektive zu verhindern und eine vielschichtige Erörterung der Ereignisse zuzulassen.
Ebenso wenig, wie es eine einheitliche europäische Geschichtsschreibung geben kann, kann es auch ein europäisches Gedächtnis geben, so der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Helmut König. Im Gegenteil sei die Vielfalt der Erinnerungen viel wichtiger. Nur dank dieser kann eine europäische Gemeinschaft aufgebaut werden, in der durch Diskussionen negative Vergangenheit verarbeitet, vergessen und gegenseitig verziehen werden kann. Denn das Vergessen könne nicht über kommunikatives Schweigen erfolgen, sondern nur über den Prozess des Erinnerns. Der Grundsatz „Vergeben und Vergessen“ funktioniert nicht und dies sei die wichtigste Lehre für die gegenwärtige Erinnerungspolitik. Die Teilnehmer des Forums regten abschließend den Einschluss der osteuropäischen Geschichte in die europäische Geschichtsschreibung an.