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Während einer Gesprächsrunde zum selben Thema beim German Marshall Fund of the United States (GMF) lieferte der britische Journalist Tim Judah einige Tage nach dieser Veranstaltung zahlreiche Innenansichten aus den von den Separatisten besetzten Gebieten. Der auch für den Economist tätige Reporter berief sich dabei auf vor Ort durchgeführte Recherchen und konnte so eigene Schlussfolgerungen hinsichtlich der Vorgänge im Donbass präsentieren.
Zu Beginn der Veranstaltung beim CSIS, die von Heather A. Conley, Senior Vice President für Europa, Eurasien und die Arktis, moderiert wurde, präsentierte Vitaly Naida, Leiter der Spionageabwehr des ukrainischen Sicherheitsdienstes, zahlreiche Erkenntnisse seiner Behörde hinsichtlich des Agierens russischer bzw. prorussischer Truppen in der Ostukraine. So seien in der Konfliktregion reguläre russische Militäreinheiten aktiv. Darüber hinaus liefere Russland in hohem Maße schweres Gerät, Waffen, Treibstoff, modernste Technik und sonstige militärische Ausrüstung an die Separatistenhochburgen im Donbass. Naida unterstrich zudem, dass die Gefahr einer vollständigen russischen Invasion des ukrainischen Staatsgebietes noch immer gegeben sei, besonders in den Regionen, die von strategischer Bedeutung für eine direkte Landverbindung zwischen der Krim und Russland sind.
Im Anschluss daran reflektierte Andriy Taranov die andauernde Konfliktsituation und offenbarte Handlungsimplikationen zur Beilegung der Krise. Die Ukraine sei vor allem vor zwei Herausforderungen gestellt: Zum einen versuchten russische Spezialeinheiten und Geheimdienste terroristische Zellen in den Städten der Ukraine zu organisieren. Zum anderen existierten zahlreiche militärische Ausbildungslager für Separatisten auf ukrainischem Territorium. Dieser Problematik gelte es entschieden entgegenzutreten. Den OSZE-Beobachtern in der Region bescheinigte Taranov diesbezüglich eine positive Wirkung, auch wenn deren Anzahl naturgemäß zu niedrig sei, um die Umsetzung der Vereinbarungen von „Minsk II“ flächendeckend zu überwachen. Von besonderer Bedeutung seien dabei erstens eine dauerhafte Waffenruhe, zweitens die Einführung von Grenzkontrollen (zwischen der Ostukraine und Russland) und drittens der Abzug aller fremden Truppen und Kämpfer von ukrainischem Territorium. Auf die Frage, was der Kreml mit der Krim vorhabe, antwortete er, dass die Halbinsel höchstwahrscheinlich als militärischer Vorposten Russlands im Schwarzen Meer genutzt werden solle. Darüber hinaus sei festzustellen, dass die selbsternannten Republiken im Osten der Ukraine keine eigenen Ziele verfolgten, sondern vollständig vom Willen Moskaus abhängig seien. Die Separatisten würden dementsprechend vom Kreml kontrolliert und letztlich auch befehligt. Dennoch habe es Russland momentan offenbar schwer, neue Kämpfer in der Konfliktregion zu rekrutieren, da die Verluste auf Seiten der Aufständischen zu hoch seien. In der Folge erhöhten sich auch die Flüchtlingszahlen in Richtung Westukraine.
„If we control the border, the conflict will be finished quickly.”
Des Weiteren erwarte die ukrainische Regierung von der internationalen Staatengemeinschaft die Aufrechterhaltung der Sanktionen. Auch eventuelle Waffenlieferungen würden aus Taranovs Sicht dazu beitragen, zahlreiche Menschenleben zu retten.
Aufgrund der kulturellen Nähe zwischen Ukrainern und Russen wurde auch die Gefahr einer Infiltration der ukrainischen Sicherheitsdienste durch russische Staatsbürger thematisiert.
Beim GMF hob der Moderator der Veranstaltung Derek Chollet zunächst die Bedeutung von Journalisten wie Tim Judah hervor, die präzise und aktuelle Informationen über die Gegebenheiten in Krisengebieten zur Verfügung stellen können. Judah wolle mit seiner Arbeit zeigen, wie die Realität in der Ostukraine momentan aussieht und unter welchen Bedingungen die Menschen in der Konfliktregion derzeit leben müssen.
So seien die Lebensumstände in den von den Separatisten besetzten Regionen weiterhin als „schwierig“ zu bezeichnen. Mangelhafte staatliche Ordnungsmaßnahmen und Infrastruktur sowie die große Gefahr, als Kollateralschäden der Kämpfe zum Opfer zu fallen, führten zu Desillusionierung und Verstimmung unter der lokalen Zivilbevölkerung. Nach Judah mache die ukrainische Zivilgesellschaft beide Konfliktparteien für die momentane Situation verantwortlich. An den Geldautomaten sei kein Bargeld mehr zu bekommen, die meisten Geschäfte hätten geschlossen und die ehemals modernen Supermärkte könnten nur noch ein äußerst begrenztes Warenangebot zur Verfügung stellen. Darüber hinaus seien die Bürger in ständiger Sorge, für die Kämpfe eingespannt zu werden. In der Folge habe ein großer Teil der Mittelklasse, besonders Familien, die Kampfzone im letzten Jahr in Richtung Westukraine, Russland, Belarus oder Polen verlassen.
Außerdem diskutierte Judah den Bedarf der Ukraine nach ökonomischer und militärischer Unterstützung. Erstere sei wichtig, um die Wirtschaft zu stabilisieren und den Staatsbankrott zu verhindern. Militärische Hilfe sei jedoch ebenfalls notwendig. Zwar produziere das Land bereits eigene Fahrzeuge, Uniformen, Waffen und Munition; aber dennoch benötige die ukrainische Armee auch technologisch fortschrittlichere Ausrüstung wie Radar oder Zielvorrichtungen (z.B. Drohnen und Artilleriegeschütze). Judah vertrat die Ansicht, dass die europäischen Staaten Waffenlieferungen an die Ukraine vermutlich zustimmen werden, sollten die von Russland unterstützten Rebellen eine weitere Stadt (z.B. Mariupol) angreifen bzw. einnehmen. Die Sanktionen gegen Russland seien nach Judah erfolgreicher als erwartet, da sie einerseits zentrale Moskauer Unternehmensgeschäfte negativ beeinflussten und andererseits die Separatisten ohne die Verhängung von wirtschaftlichen Druckmitteln vermutlich noch weitere Territorien erobert hätten.
Des Weiteren sprach Judah die spezielle Natur dieses Konfliktes an. So versuche Russlands Präsident Putin durch die Schaffung eines Propagandakrieges eine „alternative Realität“ zu schaffen. Mit modernen Technologien sei es einfacher als je zuvor, Propaganda zu verbreiten. Judah ist der Meinung, dass die westliche Staatengemeinschaft mehr Journalisten in die Ukraine schicken sollte, um eine wahrheitsgemäße Berichterstattung zu gewährleisten. Geschehe dies nicht, werde der Kreml die Deutungshoheit über den Konflikt erlagen.
Generell bewege sich der Krieg auf einen frozen conflict zu. Der anfänglich schnelle Vormarsch der Separatisten wurde durch die nunmehr besser organisierte ukrainische Armee aufgehalten; nichtsdestoweniger sei das langfristige Ziel der Rebellen weiterhin, die eroberten Gebiete zu halten und das sogenannte Neurussland (Новороссия, Noworossija) zu errichten bzw. wieder herzustellen. Die in Minsk vereinbarte Waffenruhe werde häufig gebrochen, um drohende Geländegewinne des jeweiligen Gegners zu verhindern. Letztlich zeichne sich so eine Manifestierung der Frontlinie(n) ab, was die These des drohenden eingefrorenen Konfliktes bestätige. Tim Judah schloss seine Ausführungen diesbezüglich mit den Worten: „It’s not a ceasefire in the sense that everybody has ceased firing.“
Die Krise in der Ostukraine scheint sich also als dauerhafter Konflikt in der unmittelbaren EU-Nachbarschaft zu manifestieren. Zwar sorgte das ää„Minsk II“-Protokollää für eine generelle Beruhigung der Lage; doch die häufigen Verletzungen des Abkommens lassen die Situation unverändert instabil erscheinen. Die Ausführungen der Referenten machten die prekären Umstände in der Konfliktregion deutlich und betonten die anhaltende Gefahr einer weiteren Eskalation zwischen den von Russland unterstützten Rebellen und den ukrainischen Regierungstruppen. Welche Rolle die westliche Staatengemeinschaft im Falle einer weiteren Aggression Russlands einnehmen wird, darauf darf man gespannt sein.
Ein Bericht von Lucas Netter
Verantwortlich und Redaktion: Dr. Lars Hänsel