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Professor Schliesky stieg mit einer Beschreibung der Krisenentwicklung innerhalb der letzten vier Jahre ein: Die ursprüngliche Banken- und Finanzkrise habe sich zu einer Staatsschuldenkrise ausgewachsen, die eine Identitäts- und Sinnkrise der europäischen Integration nach sich ziehe. Vor diesem Hintergrund seien auch die Akteure, Gefäße und Prozesse von Europarecht und -politik zu hinterfragen. Gab es je ein konsistentes Europarecht und wenn ja, ist es durch die Entwicklungen der letzten Jahre essenziell gefährdet oder wird es "nur" gedehnt? In welchem Verhältnis stehen Nationalstaatlichkeit und europäische Einigung gegenwärtig zueinander? Und: Ist man eigentlich ein guter Europäer, wenn man kritisch reflektiert oder doch eher dann, wenn man das Bekenntnis zu Europa in den Vordergrund stellt?
"Souverän ist, wer den Ausnahmezustand beherrscht.", so zitierte Utz Schliesky den deutschen Staatsrechtler und politischen Philosophen Carl Schmitt (1888-1985). In diesem Sinne ist der aktuelle Zustand der Europäischen Union kaum als souverän zu bezeichnen, denn die sieben EU-Organe gleichen laut Schliesky vielmehr einem "corpus monstrum simile" und weisen eine defizitäre Orientierung am rechtsstaatlichen Prinzip auf. Allzu oft bricht das Politische das Recht, urteilte Professor Schliesky. Und allzu leichthändig sei dies jahrelang akzeptiert und nachträglich legitimiert worden, bis zu dem Punkt, dass heute berechtigt die Frage gestellt werden könne: Wie ist es mit der Qualität Europas als Rechtsgemeinschaft bestellt und inwieweit können wir in der EU auf das Recht vertrauen? "Kompetenzdehnungen und Kompetenzabweichungen der Organe der Europäischen Union haben dazu geführt, dass Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit als zentrale Rechtsstaatsmerkmale zunehmend ramponiert wurden.", so Professor Schliesky. Basale Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats, etwa das seriöse Prüfungsrecht eines nationalen Parlaments, mussten sich zuletzt einem Diktum besinnungsloser Geschwindigkeit, Hektik, ja, Hysterie unterwerfen, das die Rationalität von Entscheidungen mindestens reduziere. Dem Referenten nach ist das Heil nicht in immer neuen Funktionen, Organen und Strukturen zu suchen. Vielmehr sei eine Besinnung auf die Kohärenz und konsequente Anwendung des bestehenden Europarechts notwendig.
Im letzten Teil seines Vortrags zeigte Professor Dr. Utz Schliesky Aspekte auf, die seiner Meinung nach zu einer überzeugenden Lösungsskizze gehören: Die Europäische Union müsse sich von ihrer aktuell zu beobachtenden ökonomisch-fiskalischen Ausrichtung lösen und eine sinnstiftende Grundsatzdebatte befördern. Weiterhin müsse Europa als Rechtsgemeinschaft gelebt und mithilfe institutioneller Reformen zugunsten von "checks and balances" erneuert werden. Das würde zugleich die demokratische Legitimation der EU stärken und es Europa-, Bundes- wie Landespolitikern erleichtern, den Bürgern die europäische Integration zu erklären und näherzubringen. Als "europäischer Optimist", als der sich Utz Schliesky selbst charakterisierte, glaube er fest an ein zukunftsweisendes Potential des europäischen Einigungswerks. Mit vielen der anwesenden Gäste, die aktiv Rückfragen stellten, teilt Utz Schliesky jedoch die Auffassung, dass der Bürger die Entwicklung Europas am besten durch seine kritische Reflexion begleiten kann; damit auch in Zukunft der Bürger der Souverän ist und nicht etwa die Exekutive die Legislative kontrolliert.