Äußere Konsolidierung des Regimes
Die Konfrontation in den Monaten seit der gefälschten Präsidentschaftswahl wurde immer wieder als „Patt“ zwischen Lukaschenkas Sicherheitsbehörden und der belarusischen Zivilgesellschaft beschrieben. Dieses hat sich in den letzten Wochen – zumindest an der Oberfläche – zugunsten des Machthabers verschoben: Die Massendemonstrationen haben angesichts von Ermüdungserscheinungen, einer angekündigten Pause, des Wintereinbruchs, der grassierenden Pandemie und nicht zuletzt erheblichen staatlichen Drucks deutlich nachgelassen. Das Regime hat den Repressionsapparat weiter hochgefahren und erhebt gezielte Rechtlosigkeit und Willkür zum Prinzip. Während noch im Herbst Uniformierte mit Gefangenentransportern das Straßenbild dominierten, sind es nun häufig „muskulöse Jungs in zivil“, die im Privat-Kfz vorfahren, in Hinterhöfe oder gar Wohnungen eindringen, Menschen mitunter krankenhausreif schlagen oder einfach von der Straße entführen. Dass nicht erkennbar ist, ob es sich um Zivilpolizei oder regimetreue Schlägertrupps handelt, schürt zusätzlich ein Klima der Angst. „Widerspenstige Wohnblocks“, die das Regime genau kartographiert, werden besonders in die Zange genommen und patrouilliert. Andererseits versuchen die Behörden ihr Vorgehen formell zu „legalisieren“. Der Generalstaatsanwalt stufte in einem neuen Strafverfahren die Vertreter und Strukturen der Demokratiebewegung als extremistische Organisationen ein und kriminalisiert jegliche Unterstützung durch Dritte. Das Strafmaß für Ordnungswidrigkeiten, wie nichtgenehmigte Demonstrationen, Beamtenbeleidigung oder Erhalt ausländischer Finanzierung für Medien wurde erheblich angehoben. Weitere Verschärfungen sind in Aussicht gestellt. Die angekündigte Kriminalisierung von „weiß-rot-weiß“, der einstigen Staatsflagge, die Lukaschenka 1995 abschaffen ließ und die nun zum zentralen Symbol der Demokratiebewegung wurde, dürfte die Konfrontation zusätzlich befeuern und die Spaltung der Gesellschaft vertiefen. Auch gegenüber Religionsgemeinschaften gilt eine schärfere Gangart – besonders die katholische Kirche hatte die Gewalt kritisiert – und Lukaschenka ernannte hohe Beamte zu Sonderaufsehern in Staatsunternehmen. Jüngste Tiefschläge gegen die Pressefreiheit waren der Entzug des Medienstatus für das größte unabhängige Nachrichtenportal tut.by Mitte Januar und „robuste“ Durchsuchungen der Nachrichtenagentur BelaPan und des Press Club. Bei letzterem wurden gleich fünf Mitarbeiter verhaftet, wohl auch zur öffentlichen Abschreckung, da Gelder aus dem Ausland geflossen waren. Hardliner im Parlament fordern die Einführung des Schmähsigels „ausländischer Agent“ nach russischem Vorbild.
Die Zahl der Verhaftungen nähert sich der 35.000er-Marke und die der politischen Gefangenen liegt über 220 – beides traurige Rekorde. Letztere könnten sich ohne Weiteres vervielfachen, da über 1.000 Strafverfahren laufen und harte Urteile zu erwarten sind. Auch der Prozess gegen Sergej Tsikhanouskij, regimekritischer Blogger und Ehemann Sviatlana Tsikhanouskajas hat begonnen. Ein Mitstreiter erhielt drei Jahre Haft. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte zudem der Fall des 28-jährigen Bloggers Ihar Losik, der seit Juni inhaftiert ist und Ende des Jahres für sechs Wochen in den Hungerstreik trat. Bestehende U-Haftzeiten werden immer wieder verlängert, während gegen Sicherheitsbeamte, trotz starker Beweislage für Folter und Mord, kein einziges Verfahren eröffnet wurde. Zuletzt stellte eine Änderung der Strafprozessordnung im Eilverfahren sicher, dass eingegangene Anzeigen auf beliebige Zeit unbearbeitet bleiben können.
Der Staat nutzt indes alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Wege, um Druck auf „illoyale“ Arbeiter, Lehrerinnen, Angestellte, Studierende oder Eltern auszuüben. Zur umfassenden Erfassung seiner Gegner ist eine einheitliche Datenbank im Aufbau. Leaks aus hohen Beamtenkreisen offenbaren derweil Pläne zur Einrichtung von Internierungslagern und Augenzeugen berichten, dass schon im Herbst landesweit staatliche „Heil- und Arbeitsanstalten“ vorübergehend zu Lagern umgebaut worden waren. Besonders hohe Wellen schlug der Mitschnitt eines Gesprächs von Mikalaj Karpjankau, Chef von GUBOPiK (Direktorat für Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität), das bereits auf Ende Oktober zurückgeht, den Tag der „keine-Gefangenen“-Rede von Lukaschenka, in dem der Belauschte zu Waffeneinsatz gegen Demonstranten aufruft. Karpjankau kommandiert inzwischen als Vizeminister die Truppen des Innenministeriums. Ein anderes Leak offenbarte gezielte Mordaufträge Lukaschenkas in der EU.
Berichten zufolge nutzt das Regime das Coronavirus als Waffe, indem es Gefangene zusammenpfercht und Erkrankten die medizinische Behandlung verweigert. Andererseits wird COVID19 fallweise herangezogen, um Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu rechtfertigen, wenn es der Macht dient – wie etwa die Schließung der Landgrenzen nach Westen vor Weihnachten.
Unter der Oberfläche
Die Demokratiebewegung ist im Land deutlich dezentraler aber auch flexibler geworden. Die einen nennen es „grassroot“, die anderen „Partisanentum“. Doch trotz scharfer Rhetorik und staatlicher Meldungen über verhinderte Terrorakte ist der Protest weiterhin überwältigend friedlich. Statt der Sonntagsmärsche im Minsker Zentrum gibt es hunderte kleine bis mittlere lokale Umzüge und Protestaktionen von Nachbarschafts-, Berufs- und Sozialgruppen, an unterschiedlichen Zeiten und Tagen, die die „Flamme des Widerstands“ am Brennen halten. Die Menschen liefern sich ein gefährliches Katz-und-Maus Spiel mit den Behörden bei „Spaziergängen“ oder dem Anbringen von weiß-rot-weißer Symbolik an allen denkbaren Orten, Größen und Varianten. Dabei kommt es weiter zu vielen Festnahmen – am 31. Januar knapp 170 Personen, vor allem in Minsk.
Landesweit sind Initiativen, Aktivisten und Gruppen des Koordinierungsrats aktiv, um unabhängige Gewerkschaften, verbliebene Streiks und die Hofgemeinschaften (Kotosy ) zu stärken. Auch fließt viel Energie in die Sicherung von Beweismaterial der Verbrechen von Beamten und Sicherheitskräften.
Die Stimmung changiert zwischen Resignation auf der einen Seite – über 20.000 Menschen haben das Land verlassen – und verbissenem Kampfgeist auf der anderen. Dazwischen liegt die millionenfache stille Hoffnung, dass doch noch der Durchbruch gelingt. Die strukturellen Veränderungen, die den „belarusischen Sommer“ 2020 ermöglichten – Wertewandel, veränderte Wirtschaftsstruktur, gestiegenes Bildungsniveau, Ressourcenmangel des Regimes zur Erfüllung des alten Sozialvertrags – sowie das Entsetzen im Angesicht der nackten Gewalt, sind nicht verschwunden. Die Menschen wissen, dass es kein Zurück in die vermeintliche „Stabilität“ früherer Jahre gibt, sondern ein Sieg Lukaschenkas eine harte „Gegenrevolution“ nach sich zöge – mancher Experte warnt vor einem „europäischen Nordkorea“. Mit steigenden Außentemperaturen wächst daher auch die Erwartung einer Wiederbelebung der Großdemonstrationen. Tsikhanouskajas außenpolitischer Berater Franak Viachorka rechnet bereits im Februar mit einer neuen Mobilisierungswelle und Telegramkanäle eruieren die Bereitschaft der Menschen wie auch geeignete Formate.
Die Demokratiebewegung im Exil hat sich an den Hauptstandorten Vilnius und Warschau personell verstärkt und Sviatlana Tsikhanouskajas Stab im Januar ein größeres Büro bezogen. Von dort aus arbeiten auch gesellschaftliche Initiativen, Solidaritätsfonds und Telegrammkanäle. Dies soll das Gemeinschaftsgefühl der Bewegung stärken, und inneren Konflikten wie äußeren Spaltungsversuchen entgegenwirken. Eine Miniserie des belarusischen Staatsfernsehens hatte Mitte Januar unter dem Titel „Die Lügen der Geflohenen“ das demokratische Exil als zerstrittene Mischpoke raffsüchtiger dilettantischer Feiglinge porträtiert und dazu Gesprächsmitschnitte ehemaliger Mitstreiter der Opposition gezeigt, vor allem aus Solidaritätsfonds und der Initiative „Strana dla Zhyzni“.
Im Warschauer Exil arbeiten sowohl Vertreter von Viktor Babarykas Team als auch Teile des Koordinierungsrats um die Präsidiumsmitglieder Volha Kovalkova und Paval Latuschka. Letzter hatte im Herbst das „Nationale Anti-Krisen-Management“ (NAM) geschaffen, das in der Struktur einer Exilregierung ähnelt und vor allem „Überläufern“ des Regimes einen Platz bietet. Trotz gewisser Ähnlichkeiten zu Tsikhanouskajas „Kabinett“ können beide Strukturen einander sinnvoll ergänzen. In Tsikhanouskaja sehen Millionen Belarusen die gewählte Präsidentin. Sie ist sowohl Klammer der Demokratiebewegung als auch Personalisierung der Forderung nach friedlichem Wandel und freien Wahlen. Gleichzeitig braucht es Leute mit Verwaltungserfahrung, die auch regimenahe Zielgruppen ansprechen und über eine Übergangszeit hinaus Politik gestalten können.
So war es nicht nur von symbolischer Bedeutung, dass die führenden Köpfe beider Stäbe wie auch des Koordinierungsrates und das Ehepaar Tsepkalo Ende Januar gemeinsam in der Nähe von Vilnius in Klausur gingen, um ihre Strategie für das begonnene Jahr zu besprechen. Schwerpunktbereiche der Zusammenarbeit sind neben Unterstützung von Repressionsopfern und lokalen Gemeinschaften sowie der Schaffung eines sicheren Tools zur Meinungsäußerung auch die Erhöhung von Protesten und Druck auf das Regime.
Versammlung des Volkes
Lukaschenka hingegen gibt sich bereits als Sieger. Das Jahr 2021 stellte er unter das Motto der „nationalen Einheit“, was man getrost als erneute Absage an jeglichen Dialog mit der Opposition verstehen kann. Während seine Aussagen zur weiteren Entwicklung noch zu Jahresende unklar und widersprüchlich schienen, kristallisiert sich nun heraus, dass er den Zeitplan für eine Verfassungsreform möglichst in die Länge ziehen will. Ein erster Entwurf soll erst Ende des Jahres vorliegen, genauere Grundsätze stünden noch nicht fest. Dann müsse der Text beraten und ein Referendum organisiert werden. Dies könnte sich bis Ende der jetzigen Amtszeit ziehen und Lukaschenka schließt nicht einmal mehr aus, auch nach 2025 im Amt zu bleiben.
Damit relativieren sich auch die zwischenzeitig hohen Erwartungen an die anstehende „Allbelarusische Volksversammlung“. Bei jenem Großformat treffen sich alle fünf Jahre gut zweieinhalbtausend Delegierte, um die „Hauptrichtungen und Werte für die Entwicklung des Staates“ zu besprechen und einen „Plan für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zu erarbeiten“ . Am 11. und 12. Februar tagen sie wieder und noch Anfang Dezember hatte Lukaschenka angekündigt, er wolle die Versammlung in den Rang eines Verfassungsorgans erheben. Es lag nahe, dass er sich selbst zu ihrem Vorsitzenden machen wolle, um zwar als Präsident abzutreten, aber dennoch an der Macht zu bleiben. Dies nahm er jedoch zurück und Beobachter erwarten, dass ihm der Kongress am ehesten einen Freifahrtschein ausstellen wird, die Verfassung nach seinen Vorstellungen zu ändern. Die Delegierten setzen sich steril aus Loyalisten zusammen, wenngleich „konstruktive Oppositionelle“ zur Teilnahme eingeladen sind. Dies könnte etwa Yuri Vaskrasensky sein, ehemaliges Mitglied der Initiativgruppe Babarykas und Gründer des „Rundtischs der Oppositionellen Kräfte“, dessen Mitarbeiter Andrej Lankin jüngst die Gründung einer Partei ankündigte. Er hatte vorgeschlagen, bei der Versammlung eine Amnestie für die politischen Gefangenen zu erlassen. Doch Lukaschenka lehnte ab, mit dem Hinweis, es gebe keine politische Gefangenen in Belarus. So sind, mit Ausnahme eines möglichen Moratoriums für die Todesstrafe, kaum nennenswerte Impulse zu erwarten und laut einer repräsentativen Online-Umfrage unter der städtischen Bevölkerung glauben nur 16 Prozent der Belarusen, dass die Versammlung die Meinung des Volkes ausdrückt. Latuschka drohte, alle Delegierte auf schwarze Listen zu setzen und Aktivisten gründeten mit der Initiative „Skhod“ einen demokratischen Gegenentwurf als „wahre Volksversammlung“, die derzeit online Teilnehmer rekrutiert und ebenfalls über Zukunftsthemen des Landes beraten soll.
Lukaschenkas Taktik setzt offenbar darauf, seine Gegner durch Verzögerung zu demobilisieren. Ein großer Wurf, wie die Schaffung eines neuen Supergremiums oder selbst die Ankündigung eines verbindlichen Zeitplans für die Verfassungsreform oder gar seinen Rücktritt, hätte hingegen das Potenzial, schnell wieder zehntausende auf die Straße zu bringen. Doch nicht allein die Bevölkerung dürfte er dabei im Blick haben. Zuletzt schien vor allem die russische Führung darauf zu drängen, den Plan eines geordneten Machtwechsels, der mutmaßlich im September zwischen Putin und Lukaschenka in Sotchi vereinbart worden war, einzuhalten. Insidern zufolge war der Zeitraum eines halben Jahres besprochen und hochrangige Besucher aus Moskau, wie zuletzt Außenminister Lawrow Ende November, sollen Lukaschenka daran „erinnert“ haben.
Angewiesen auf Moskau
Doch Russland interessiert vor allem die Wahrung seiner strategischen Interessen. Spezifische Instrumente wie eine Verfassungsreform, aber auch die Unterstützung für Personen tritt dahinter zurück. So bleibt Moskaus Positionierung gegenüber Lukaschenka ambivalent. Ein einstündiges Interviewporträt des ersten russischen Kanals porträtierte ihn Anfang Januar zur besten Sendezeit von einer „menschlichen Seite“ und er nannte Putin darin seinen „einzigen Freund“. Jener dürfte nur bedingt innige Zuneigung verspüren, doch ist er wohl für den Moment mit dem Gang der Dinge im Nachbarland nicht völlig unzufrieden. Lukaschenka hat die Verbindungen nach Westen abgebrochen und ist nun auf Gedeih und Verderb von der Unterstützung Moskaus abhängig. Zum ersten Januar wurde die zweite Tranche des 1,5 Milliarden USD-Kredits an Minsk überwiesen und früher als erwartet eine Einigung in der Energiepreisfrage erzielt. Hatte Minsk im vergangenen Jahr noch gegen einen niedrigeren Ölpreis heftig protestiert, sagte Lukaschenka nun lediglich, er hätte „fairer sein können“.
Auch im Kreml dürfte man zur Kenntnis nehmen, dass die Proteste nicht antirussisch motiviert sind und die Unterstützung für Lukaschenka dem Ansehen Russlands in der belarusischen Bevölkerung schadet. Doch für den Moment wiegt wohl schwerer, dass Lukaschenka aus russischer Sicht liefert, etwa in Form der Zustimmung der Umleitung belarussischer Exporte von baltischen zu russische Häfen, der Vereinbarung einer engeren Zusammenarbeit mit Russlands Nationalgarde oder einem ambitionierten Jahresplan für Militärmanöver. Ebenso unterstrich Lukaschenka seine Bereitschaft zur vertieften Integration im Unionsstaat und auf verschiedenen Ebenen laufen dazu Verhandlungen. Zwar ist sich Minsk grundsätzlich der Gefahr eines schleichenden Souveränitätsverlusts bewusst, doch könnte vor allem die wirtschaftliche Lage dazu zwingen, Konzessionen zu machen, etwa beim Verkauf großer Staatsunternehmen wie GrodnoAzot und Belaruskali, für die es russischerseits starke Interessenten gibt.
Ein geleaktes Konzept zum Aufbau einer pro-russischen Partei in Belarus offenbarte zwar Ende des Jahres, dass der Kreml händeringend nach einer geeigneten Alternativen zu Lukaschenka sucht, doch setzt Moskau traditionell eher auf Personen denn auf Strukturen. Wohlwissend, dass ihm eine kremlfreundliche Kraft deutlich gefährlicher werden könnte als jede proeuropäische Opposition, verstand Lukaschenka es jedoch seit jeher, dieses Feld zu monopolisieren. Die Spitzen der Demokratiebewegung dürften sich hingegen spätestens durch ihre offene Sympathie für die Unterstützer Nawalnys bei den Demonstrationen am 23. und 31. Januar als Gesprächspartner für Moskau disqualifiziert haben. Wie sich die dortigen Proteste auf Belarus auswirken, ist noch schwer abzusehen. Einerseits rücken Putin und Lukaschenka durch das Narrativ einer großen westlichen Verschwörung nun enger zusammen und der Kreml wird kaum für eine Dialoglösung in Belarus eintreten, wenn er selbst tausende Demonstranten festnehmen lässt. Sollte Russland hingegen in eine tiefere Krise rutschen, würde die Aufmerksamkeit für Belarus womöglich nachlassen. Bei einer schnellen Beruhigung der Lage wäre hingegen anzunehmen, dass der Kreml auch den Druck auf Lukaschenka mittelfristig wieder erhöht.
Der Westen und die Welt
Mit dem dritten Sanktionspaket der EU erreichte die Personenliste am 17. Dezember den Umfang der Zeit nach 2010. Auch sieben Unternehmen wurden diesmal hinzugenommen, doch gab es kaum positive Reaktionen aus Belarus. Während das Regime Sanktionen grundsätzlich Sinn und Wirksamkeit abspricht (gleichzeitig aber bereits „symmetrische Gegenreaktionen“ angekündigt hat), werteten die demokratischen Kräfte das Paket zwar als Schritt in die richtige Richtung, der aber zu kurz greife. Der Fall des norwegischen Unternehmens Yara zeigt eindrücklich, dass wirtschaftlicher Druck durchaus etwas bewirken kann. Das Unternehmen ist einer der Hauptabnehmer von Belaruskali und es gelang ihm, die Wiedereinstellung entlassender Streikarbeiter durchzusetzen. Tsikhanouskaya und Latuschka fordern daher bei ihren internationalen Auftritten wesentlich härtere Maßnahmen gegen das Regime und dessen „Geldbeutel“.
Unter den jüngsten internationalen Terminen Tsikhanouskajas sind besonders das informelle Treffen des UN-Sicherheitsrats, die OSZE-Runde mit den Botschaftern der EU-Mitgliedsstaaten, das erste offizielle Gespräch mit Staatsvertretern der Ukraine im Lublin-Format und die Einladung durch Joe Biden hervorzuheben. Experten des Atlantic Council rieten dem neuen US-Präsidenten, sie bereites während seiner ersten 100 Tage im Amt zu empfangen. Noch im Dezember hatte der Kongress eine aktualisierte Fassung des Belarus Democracy Act angenommen, der auch die Möglichkeit vorsieht, russische Lukaschenka-Unterstützer zu sanktionieren. Noch ist unklar, ob die frischernannte Botschafterin Julie Fisher tatsächlich nach Minsk ausreisen wird.
Für viel Aufsehen sorgte der Entzug der Eishockey-WM, die Belarus gemeinsam mit Lettland ausrichten sollte. Der Entscheidung vom 18. Januar war ein stark umstrittener Besuch des IIHF-Präsidenten René Fasel nach Minsk vorausgegangen. Wenngleich dies, wie auch der Entzug der „Modernen Pentathlon-WM“, wenig unmittelbare praktische Folgen hat, darf die Symbolwirkung nicht unterschätzt werden, eingedenk der hohen Bedeutung, die der Sport für das Regime und Lukschenka persönlich hat.
Wirtschaft
Zum Jahreswechsel wurden verschiedene statistische Kennzahlen des Jahres 2020 bekannt. So erreichte die Inflation 7,4 Prozent und der Außenhandel brach um 15 Prozent ein. Das BIP fiel um 1,2 Prozent, was im regionalen Vergleich nur einеn geringer Rückgang darstellt. Einerseits wurde die Wirtschaft deutlich weniger belastet, weil das Land auf einen Corona-Lockdown verzichtete. Andererseits gibt es Hinweise, dass die Zahlen geschönt wurden, da etwa auch Produktion von Staatsunternehmen im BIP auftaucht, obwohl die Produkte nicht verkauft wurden, sondern in Hallen lagern. Die Staatsverschuldung stieg von 41,5 auf 54 Prozent des BIP, was vor allem auf die starke Abwertung des Rubels zurückzuführen ist – über 90 Prozent der Verschuldung werden in Fremdwährungen gehalten.
Eine Studie des belarusischen Instituts Satio unter 420 Unternehmen im staatlichen und privaten Sektor zeichnet ein düsteres Bild, wonach zwei Drittel den status quo und auch die Perspektiven als schlecht einschätzen. Ohne eine Lösung der politischen Krise sei eine Erholung der Lage erst in mehreren Jahren zu erwarten. Auch eine Refinanzierung der Kredite wird unter den derzeitigen Bedingungen schwer. Die Währungsreserven des Landes sind auf etwa sieben Mrd. US-Dollar geschmolzen, was nach Einschätzung von Experten einer Importdeckung von unter drei Monaten entspricht. Westliche und internationale Kreditgeber stehen nur eingeschränkt zur Verfügung und die letzte Tranche des gemeinsamen 1,5 Mrd. USD-Kredits von Russland und der Eurasischen Entwicklungsbank wird in den kommenden Wochen fließen. Nach Einschätzung des Berlin Economic Team zeigt sich in den „harten Wirtschaftsdaten“ bislang jedoch kaum ein Effekt der politischen Krise und der Streiks vom Spätsommer. Abrupte Einbrüche seien demnach in der kommenden Zeit nicht abzusehen, eher werde sich die Situation kontinuierlich verschlechtern. Bereits jetzt sind Kürzungen im Sozialbereich im Gespräch und zum Jahresbeginn wurden Steuern erhöht und neu eingeführt. Davon betroffen ist auch der IT-Bereich, der zuletzt die Hälfte des Wirtschaftswachstums generierte und durch die Emigration besonders betroffen ist.
Ausblick
Eine Prognose für die Entwicklung über die nächsten Wochen und Monate fällt schwer. Das Regime wird einerseits alles daransetzen, den sichtbaren Ausdruck von Protest mit Gewalt zu unterdrücken und durch ein Klima der Angst seine Gegner in die innere wie äußere Emigration zu treiben. Gleichzeitig versucht es, sprunghafte Anstiege der Gewalt zu verhindern, um die Menschen nicht wie im August wiederum stärker zu mobilisieren. Doch auch mit dosierten Schlägen steigt der „Druck im Kessel“. Belarus pflegt ein historisches Selbstverständnis als „Partisanennation“ und nicht nur das Regime bezeichnet seine Gegner als Faschistischen – auch die Bürger stellen immer wieder Parallelen zwischen heute und der Besatzung der Nazis her.
Dass die Menschen gemeinsam zurückschlagen und die Lage eskaliert, ist also weiterhin nicht ausgeschlossen. Eine Versöhnung der Gesellschaft mit Lukaschenka ist hingegen kaum vorstellbar. In der Hauptstadt des Landes, dessen Regierung über Jahrzehnte Sicherheit, Stabilität und Ordnung zu ihrem Markenzeichen erklärte, trauen sich heute viele kaum noch auf die Straße. Menschen werden willkürlich verhaftet, weil sie zur falschen Zeit spazieren waren. Andererseits haben die Menschen, wie ein Minsker Politologe formulierte, „im Sommer zum ersten Mal wirkliche Freiheit geschmeckt.“ Diese Erinnerung und das Bewusstsein, in der Mehrheit zu sein, den „ewigen Präsidenten“ abgewählt zu haben und nun als Gesellschaft zusammenzuwachsen, dürften noch tiefer sitzen als die Ablehnung des Regimes. Ein Wiederaufleben der Massenproteste ist daher durchaus möglich. Doch es gibt keinen (zeitlichen) Automatismus. Voraussichtlich müssten mehrere Faktoren zusammenkommen. Einerseits dürfen die exilierten demokratischen Kräfte einander nicht in Posten- oder Legitimitätsdebatten zerfleischen, sondern müssen Unterschiede in Inhalten und Ambitionen hintanstellen und den Fokus wahren.
Vor allem aber ist entscheidend, was in Belarus selbst passiert. Die „Ultimaten“ Tsikhanouskajas führten im Spätherbst nur zu einer temporären Mobilisierung und eine erfolglose Wiederholung dessen hätte enormes Frustrationspotenzial. Welches Ereignis letztlich zu einem erneuten Auslöser werden kann, der Unzufriedenheit, Wut und Veränderungswillen auf die Straße trägt, ist schwer abzuschätzen. Jahrestage, wie der Gründungstag der Belarusischen Volksrepublik am 25. März sind traditionell Anlass für Kundgebungen. Sowohl eine unerwartete Freilassung prominenter politischer Gefangener wie auch harte Urteilssprüche gegen sie, vor allem gegen Viktar Babaryka, den die Menschen in Umfragen immer noch als aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten sehen und dessen Fall nun beim Obersten Gericht liegt, könnten mobilisieren. Eine Rückkehr Tsikhanouskayas nach Belarus schiene hingegen kaum ausreichend, auch, da sie sofort ins Gefängnis käme. Ein unvermittelter Einbruch der Wirtschaft zeichnet sich nicht ab. Daher verweisen viele darauf, dass das Regime früher oder später wieder Fehler machen wird, gerade wenn Lukaschenka sich sicherer fühlt. Dies könnte dann zu einem entscheidenden Moment werden. Doch selbst wenn wieder hunderttausende auf die Straße gehen, löst das allein nicht die Frage, wie es weitergeht.
Deshalb richten schon jetzt viele Aktivisten und Initiativen ihre Kräfte stärker darauf, Ideen, Projekte und Plattformen zu entwickeln, die über die jetzige Krise hinausweisen und Grundlagen in demokratischer Kultur und Bildung für die Zukunft des Landes schaffen. Derweil ist es wichtig, dass Belarus weiterhin international, besonders aus der EU, Aufmerksamkeit und Unterstützung erfährt. Eine Lösung der politischen Krise ist zentral, damit unser Nachbarland eine stabile, demokratische und prosperierende Entwicklung nehmen kann, um seine gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Potenziale zu entwickeln. Am neunten Februar ist die gefälschte Wahl bereits ein halbes Jahr her – und der Sonntag davor wurde ausgerufen zum „Tag der Solidarität mit Belarus“.
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