Seit einem Jahr werde die öffentliche Diskussion unter keinem anderen Begriff intensiver geführt als unter dem Begriff „Zeitenwende“, sagte Prof. Dr. Norbert Lammert in seiner Eröffnungsrede. Aus Sicht vieler Beobachter sei jedoch die „Terminologie eindeutiger als die operative Politik“, so der Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident des Deutschen Bundestages a.D. Aus den Erfahrungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine müssten nun dringend Schlussfolgerungen für unsere Sicherheitspolitik gezogen werden, welche Veränderungen nötig seien und welche Erwartungen an Deutschland gestellt würden.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine sei eine tiefe Zäsur der europäischen Geschichte, sagte Friedrich Merz in seiner Keynote und sprach in Anlehnung an Bundespräsident Steinmeier von einem „Epochenbruch“, von dem „wir alle unseren Kindern und Enkeln berichten werden“. In seiner historischen Bedeutung stehe der 24. Februar 2022 in einer Reihe mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Gründung der Bundesrepublik, dem Fall der Berliner Mauer und den Anschlägen von 9/11, so der CDU-Vorsitzende.
Merz: „Nur eine starke Ukraine eröffnet den Weg zur Diplomatie.“
Er erinnerte daran, dass viele Beobachter am ersten Kriegstag davon ausgegangen seien, dass innerhalb von 24 Stunden in Kiew die russische Fahne wehen werde. Stattdessen würden wir alle seitdem Zeuge eines Präsidenten und eines ganzen Landes, das sich weigert aufzugeben und fügte hinzu: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, denn ihr Erfolg liegt im ureigenen Interesse Europas und Deutschlands.“ Russland habe die Grundfesten der regelbasierten Ordnung verletzt und damit das außenpolitische Kerninteresse Europas und Deutschlands, das nicht das Recht des Stärkeren gelten dürfe, sondern vielmehr die Stärke des Rechts. Nur eine nachhaltige Eindämmung der russischen Expansionsbestrebungen könne das verhindern.
Angesichts dieser Bedrohungslage habe sich die CDU früh für die nötige Unterstützung der Ukraine eingesetzt, denn für sie gelte der Satz der estnischen Premierministerin Kaja Kallas: „Die Freiheit muss besser bewaffnet sein als die Tyrannei“. Forderungen nach vorschnellen Verhandlungen erteilte Merz eine Absage, denn die militärische Lage vor Ort entscheide erst über diplomatische Möglichkeiten. „Nur eine starke Ukraine eröffnet den Weg zur Diplomatie.“
Nationaler Sicherheitsrat und Nationale Sicherheitsstrategie
Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers habe die Union begrüßt, die Ergebnisse sehe man jedoch bislang nicht. Fünf konkrete Schritte seien aus seiner Sicht nun notwendig. Das Geld des Sondervermögens müsse endlich bei der Truppe ankommen und das 2%-Ziel als Untergrenze auch künftig ausgegeben werden. Deutschland müsse seine Führungsrolle in Europa annehmen, statt als Getriebener zu wirken. Beispielhaft führte Merz Europas schwache Antwort auf den amerikanischen Inflation Reduction Act auch auf die nicht abgestimmte Haltung der Ampelkoalition zurück.
Eine echte Zeitenwende müsse zudem alle Politikfelder durchdringen, die zahlreichen Krisen gleichzeitig berücksichtigen und in eine ehrliche Analyse münden, was der Staat künftig zu welchen Kosten leisten kann. Für einen echten strategischen Kulturwechsel brauche Deutschland zudem einen Nationalen Sicherheitsrat und eine nationale Sicherheitsstrategie, die von der Ampel auch nach einem Jahr Krieg bislang nicht vorliege. „Wenn wir ein verlässlicher Partner sein wollen, können wir uns das nicht leisten“, so Merz.
USA, China und die Ära der Systemkonkurrenz
Maßgeblicher Teil einer solchen Strategie müsse auch eine Definition unserer Werte und Interessen sein. Das beträfe insbesondere auch eine Klärung des Verhältnisses zu China, dessen Rivalität zu den USA die „Ära der Systemkonkurrenz“ maßgeblich prägen werde, so der CDU-Vorsitzende. Er teile die Einschätzung des Bundeskanzlers jedoch nicht, dass die Multipolarität ein „unausweichliches Schicksal“ sei. Vielmehr müsse es Deutschlands Ziel sein, „dass die Welt inklusiv bleibt“.
Im anschließenden Gespräch diskutierten Dr. John Chipman, Direktor des International Institute for Strategic Studies (IISS) und Botschafter Dr. Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Heusgen schloss sich der Forderungen von Merz nach einem Nationalen Sicherheitsrat an und hob mit Blick auf das 2%-Ziel hervor, dass es beim kommenden NATO-Gipfel in Vilnius vermutlich darüber hinaus gehen werde, weshalb es problematisch sei, wenn sich die Koalition nun weigere, den Forderungen des neuen Bundesverteidigungsministers Boris Pistorius nach zusätzlichen 10 Milliarden Euro für den Verteidigungshaushalt nachzukommen.
Chipman: „Müssen besser die strategischen Dilemmata anderer Länder verstehen.“
John Chipman warf den Blick zurück und schaute auf die historische Haltung der NATO während des Kalten Krieges, als maßgeblich zwei Prinzipien gegolten hätten: flexible Reaktionsfähigkeit und Eskalationsdominanz. Nach dem Angriff Russlands hätte der Westen in den ersten Monaten stattdessen gesagt, was er alles nicht tun wolle, um einen noch größeren Konflikt mit Moskau zu verhindern. Dies habe die eigenen Optionen beschränkt und Putin die Oberhand bei der Eskalationsdominanz gegeben. Diese müsse sich der Westen nun wieder zurückholen.
Global betrachtet solle man darauf achten, „die richtigen Botschaften in die restliche Welt zu senden“, weshalb die „strategische Empathie mit unseren Partnern außerhalb der NATO wichtig ist“, so Chipman. Da man zu Beginn des Krieges bereits schnell über die NATO und Artikel 5 gesprochen habe, statt über die UNO und das Recht auf Selbstverteidigung laut Artikel 51, hätten sich viele Länder, gerade im Globalen Süden, abgewandt. „Wir diskutieren sehr inselartig und müssen besser die strategischen Dilemmata anderer Länder verstehen.“ Dies müsse auch vor dem Hintergrund geschehen, dass Länder wie Südafrika historisch begründet ein positiveres Bild von Russland haben und es nicht als imperiale Macht sehen.
Heusgen: „Unsere Zukunft steht in der Ukraine auf dem Spiel.“
Heusgen stimmte zu und ergänzte, dass sich neben Russland auch China besonders intensiv um viele Länder in Afrika und anderen Weltregionen bemühe. Daher müsse der Westen alle Anstrengungen bündeln und konzertierter in diesen Ländern vorgehen.
Putin halte den Westen für dekadent, so Heusgen und der Kreml glaube, dass die Europäer am Ende nicht willig seien, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen. Führung bedeute daher heute auch, dieser Annahme entgegenzutreten. Würde Putin in der Ukraine nicht gestoppt, mache er in Moldau und dem Baltikum weiter. „Unsere Zukunft steht in der Ukraine auf dem Spiel“, so Heugsen
In seinem Schlusswort sagte Dr. Johann Wadephul, anlässlich dessen 60. Geburtstags die Konrad-Adenauer-Stiftung eingeladen hatte, dass es seit Konrad Adenauers „Wir wählen die Freiheit“ für die CDU Vermächtnis sei, in außenpolitischen Fragen für den Westen einzutreten und dieses Vermächtnis hochzuhalten. Daher sei es auch heute unsere Aufgabe, „an der Seite des ukrainischen Volkes und der Freiheit“ zu stehen, so der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.
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