Reportajes internacionales
Mögliche Kandidaten für die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren laufen sich schon warm, darunter ein junger Peronist, der einst Cristina Kirchners Kabinett geführt hat und nun verspricht, das Land zu erneuern. Die Probleme Argentiniens – galoppierende Inflation, Kriminalität, Kapitalflucht, Armut, Korruption und internationale Isolation – lassen sich indes kaum noch kontrollieren. Doch es bleibt zu befürchten, dass sich die Regierung weiter radikalisiert und die Präsidentin 2015 ein Land übergibt, das die kirchneristische Epoche teuer bezahlen wird.
Ausgerechnet der wohl mächtigste Sohn des Landes lieferte am Wahltag Schlagzeilen. Máximo Kirchner wird als ein besonders wichtiger Berater seiner Mutter gehandelt. Die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner misstraut gern und gewährt nur einem kleinen Kreis von Getreuen dauerhaft Zugang. Máximo Kirchner wiederum war bislang öffentlich vor allem durch sein Schweigen aufgefallen. Wie seine Stimme klingt, wussten die Argentinier nur dank einer kurzen Sequenz in einem Dokumentarfilm. Auf einmal sprach er. Journalisten waren ihm durch die heftigen Frühlingswinde in Santa Cruz, der Heimatprovinz der Kirchners im Süden des Landes, bis zum Wahllokal gefolgt und erlebten einen erstaunlich freundlichen und verhältnismäßig redseligen jungen Mann. „Sehr gut“ gehe es seiner Mutter zweieinhalb Wochen nach der schweren Operation, bei der ihr ein Blutgerinnsel im Gehirn – Folge eines Sturzes – entfernt worden war. Und nein, er wisse nicht, wann sie wieder arbeiten werde, er sei schließlich kein Arzt.
Die Staatschefin selbst hatte aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Hause reisen können. Ärzte hatten ihr nach dem Eingriff eine 30-tägige Ruhephase verordnet, die Cristina Kirchner lange außerordentlich streng befolgte, um Stress und Aufregung zu vermeiden. Nicht einmal Zeitungen soll sie gelesen haben. Das Ergebnis der Parlamentswahlen am 27. Oktober freilich hat sie erfahren – es ging schließlich um ihre Zukunft.
„Das Land hat den Wechsel gewählt“, titelte das Traditionsblatt La Nación und sprach von der „schlimmsten Wahl des Kirchnerismus“. Auch die bekannten Kommentatoren waren sich einig. Joaquín Morales Solá, der kühle Analyst, schrieb: „Ein Politikzyklus schließt sich.“ Jorge Lanata, das publizistische Schwergewicht des Landes, der Kirchneristen liebster Feind, rechnete die Verluste der Regierungspartei im Vergleich zur Wahl von 2011 vor: gut 20 Prozentpunkte. Perfil, das einflussreiche Wochenendmagazin des Regierungskritikers Jorge Fontevecchía, rief das „Ende der Hegemonie“ aus. Selbst regierungstreue Blätter wie Pagina/12 verzichteten auf vertraute Jubeltöne und gaben sich kleinlaut: Von einer „neuen Landkarte“ war die Rede, ja sogar die Zugewinne der Opposition wurden anstandslos vermeldet, statt wie in der Vergangenheit bestritten.
Regierungsmehrheit unsicher
Die Regierungspartei bleibt mit 33 Prozent die stärkste Kraft, und führende Köpfe wie Vizepräsident Amado Boudou, Cristina Kirchners Krankheitsvertretung, betonten dies wieder und wieder. Allerdings haben auch fast sieben von zehn Argentiniern gegen die Regierung gestimmt. Die einzelnen Parteien und Bündnisse der Opposition erreichten zusammen 67 Prozent. Klar ist nun: Eine Verfassungsänderung, die es Cristina Kirchner erlauben würde, ein drittes Mal anzutreten, wird es nicht geben. Die Anhänger der Präsidentin hatten seit deren triumphaler Wiederwahl im Oktober 2011 (54 Prozent) mit einer weiteren Amtszeit von 2015 bis 2019 geliebäugelt. Aber der Traum von der Zweidrittelmehrheit im Parlament, die die verfassungsrechtlichen Hürden abräumt, ist nunmehr pure Illusion. Die Mehrheit der Regierung in beiden Kammern des Kongresses steht, aber sie ist äußerst knapp.
Im Abgeordnetenhaus sitzen nun 130 Mitglieder der FpV und Verbuendete. Das reicht für die alleinige Mehrheit (das Quorum liegt bei 129 von 257 Sitzen); der Kirchnerismus hat zwar sogar drei Mandate hinzugewonnen, aber das liegt am Wahlsystem. Alle vier Jahre wird die Hälfte der Sitze neu gewählt – diesmal jene von 2009, einem historischen Tiefpunkt der ersten Amtszeit Cristina Kirchners. Das schlechte Wahlergebnis damals war eine Folge eines monatelangen Streits um die Resolution 125/2008, die die Exportsteuern auf einige der wichtigsten argentinischen Agrarprodukte erhöhte und die Lebensmittelpreise trieb. Selbst Néstor Kirchner, von 2003 bis 2007 Staatspräsident, schaffte es seinerzeit nicht ins Parlament. Das Regierungslager hat also sein desaströses Abschneiden von 2009 nicht etwa wettgemacht, sondern gerade einmal bestätigt und Schlimmeres verhindert.
Zudem wird sich mancher Kirchnerist oder auch Verbündete seine Gedanken machen, denn in zwei Jahren wird wieder die Hälfte des Abgeordnetenhauses neu gewählt. Zahlt sich Treue zur angeschlagenen Präsidentin noch aus? Oder spricht man doch mal mit dem neuen Hoffnungsträger des Peronismus, der praktischerweise nur ein paar Meter entfernt sitzt?
Neuer Heilsbringer des Peronismus
Der große Gewinner der Wahlen ist Sergio Massa, der mit seiner Front der Erneuerung (Frente Renovador) in der Provinz Buenos Aires triumphierte, aus der jeder dritte Wähler kommt. Am Ende lag er zwölf Punkte – doppelt so viele wie bei der Vorwahl im August – vor Martín Insaurralde, dem Spitzenmann der Kirchneristen.
Massa ist zweifellos ein politisches Talent. Mit gerade 41 Jahren hat er bereits eine beachtliche Karriere aufzuweisen. Er war Kabinettschef von Cristina Kirchner und ist jetzt Bürgermeister der Kleinstadt Tigre vor den Toren der Metropole. Er profitiert auch davon, dass er bislang unter dem Radar geblieben ist. Obwohl bereits lange politisch aktiv, wirkt der selbst ernannte „Junge aus dem Viertel“ (el pibe del barrio) im Vergleich zu manch altgedientem Gouverneur, der auch Ambitionen aufs Präsidentenamt hat, geradezu unverbraucht. Wenn Argentinien 2015 einen Neuanfang will, einen echten Bruch mit den Regierungsjahren der Kirchners, könnte seine Stunde schlagen. Allerdings ist das Versteckspiel nun vorbei.
Noch weiß man wenig über seine politischen Pläne. Bislang war seine Rolle die des Gegenspielers von Cristina Kirchner, wenngleich er deren Namen im Wahlkampf nicht einmal ausgesprochen hat. Noch ist der Massismus eine Inszenierung, an der auch die oppositionellen Medien mitgewirkt haben. Jetzt wechselt er vom Stadttheater auf die Landesbühne und wird im Parlament eine Art Oppositionsführer.Seine Erneuerungsfront hat die Zahl seiner Mandate fast verdoppelt und kommt nun auf 20 Abgeordnete. Genau so viel erreicht PRO, die liberal-ökologische Mittepartei von Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri. Dessen moderne Stadtpolitik scheint sich nun endlich auszuzahlen und auf das ganze Land auszustrahlen. Bislang saßen nur elf Macristen im Abgeordnetenhaus. Der Block aus Radikaler Bürgerunion, Sozialisten und Verbündeten liegt bei 61 Mandaten, die oppositionellen Peronisten erhalten 32 Bänke. Hinzu kommen acht einzelne Abgeordnete.
Wie stabil die Mehrheit der Regierung ist, muss sich erst erweisen. Facundo Moyano etwa gehört formal noch zur Partei der Präsidentin, hat aber schon Kontakt zu Massa aufgenommen. Außerdem ist auch er ein berühmter Sohn: Sein Vater Hugo Moyano, ein Gewerkschaftsführer, war einst ein guter Freund Cristina Kirchners und bekämpft sie nun mit großer Lust.
Senatsmehrheit nur auf dem Papier
Im Senat verliert die Front für den Sieg drei Sitze und kommt auf 40. Das ist die absolute Mehrheit, allerdings nur auf dem Papier. Denn schon einfache Zahlenspiele bringen die Verhältnisse ins Wanken. Unter den kirchneristischen Senatoren sind so genannte Alliierte, die nicht zur Präsidentinnenpartei gehören, bislang aber treu mitgestimmt haben. Roxanna Latorre etwa könnte sich weiter ihrem Vertrauten Carlos Reutemann annähern, einst Präsidentschaftskandidat und heute Senator für Santa Fe. Reutemann hat sich schon auf Massas Seite geschlagen und will dem neuen Star der Peronisten eine eigene Fraktion im Senat aufbauen. Auch Ex-Präsident Carlos Menem wird noch zu den Kirchneristen gezählt. Allerdings sollte man sich auf seine Stimme nicht verlassen, denn Menem fehlt oft. Auch die dritte Alliierte, Josefina Meabe, die für die Liberale Partei die Provinz Corrientes vertritt, hat bislang nur themenbedingt mit der Regierungsmehrheit gestimmt.
Die Regierung wirkt auch deshalb so angeschlagen, weil sie am 27. Oktober wieder einmal dort verloren hat, wo Argentinien stark ist: in den wirtschaftlichen Zentren des Landes, in den dicht besiedelten Großstädten, in den Metropolen mit Industrie und bedeutenden Universitäten. Der Kirchnerismus verlor in zwölf der 24 Provinzen den ersten Platz. Die fünf großen, bevölkerungsreichen Provinzen – Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Santa Fe und die Hauptstadt – holte sich die Opposition. Mächtig ist die linksperonistische Bewegung, die Argentinien seit 2003 regiert, vor allem in den kleinen, dünn besiedelten und oft armen Landstrichen, die freilich von Zuwendungen der Nationalregierung abhängig sind und deshalb auch aus Eigennutz das Staatsoberhaupt stützen. ...
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