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Roman Grafe ist Buchautor, Film- und Hörfunk-Produzent. 1968 im Nordosten der DDR geboren, stellte er mit 17 Jahren 1985 einen Ausreiseantrag. Im Januar 1989, noch vor dem Fall des "Eisernen Vorhangs" gelang ihm die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Er studierte an der Journalistenschule in St. Gallen in der Schweiz und trat anschließend als freier Journalist mit mehreren Büchern, Radio- und Fernsehsendungen zum Thema der deutschen Teilung und Aufarbeitung des Grenzregimes hervor. Seine Chronik "Die Grenze durch Deutschland" ist ein Standardwerk.
Am 18. Oktober 2013 führte Grafe auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung am Evangelischen Dom-Gymnasium und an der Nikoalai-Oberschule in der Stadt Brandenburg sein Radiofeature "Zur Vermeidung weiterer Provokationen – das kurze Leben des Michael Gartenschlägers“ vor und diskutierte anschließend mit den Schülern.
In der Sendung geht es um den Anfang 1944 in Straußberg geborenen Michael Gartenschläger. Die Familie wurde in Berlin ausgebombt und kam in die brandenburgische Provinz. Sein Leben endet nur 32 Jahre später an der inzwischen zur „sichersten Grenze der Welt“ gewordenen Teilungslinie zwischen den beiden deutschen Staaten: Er wurde von DDR-Grenzern erschossen. Die Schützen konnten später juristisch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dazwischen liegen drei Jahrzehnte deutsch-deutscher Geschichte, welche in diesem Feature spannend mit Interviews, Tondokumenten und „schräger“ Musik dargestellt werden.
Michael Gartenschläger war ein ‚freches‘ Kind, wie seine inzwischen verstorbene große Schwester berichtete. Zum Jugendlichen geworden hörte er diese Musik, die so gar nicht in die heile Welt des real existierenden Sozialismus gehörte – (west-)deutschen Schlager und amerikanischen Rock. Dazu richtete er einen kleinen Club in einem Geräteschuppen hinter dem elterlichen Haus ein. Musik konnte man sich ja immer noch in Westberlin besorgen, das noch nicht abgeriegelt war.
Eines morgens, man schrieb den 13. August 1961 war die Grenze auf einmal dicht. Ein Clubmitglied war sichtlich überrascht, hatte die Sektorengrenze am vorherigen Abend noch ohne Probleme passiert.
Man beriet sich, den Protest in Straußberg mit Graffitis und ähnlichem zu äußern. In der traditionellen Armee-Garnisions-Stadt Straußberg, inzwischen mit dem Landkommando der Nationalen Volksarmee (NVA) und anderen höheren Stäben belegt, beschmierte man Tore und Wände, verunstaltete die in der DDR weit verbreiteten großen Wandbilder an den Seiten der Platten-Wohnblöcke mit Sprüchen wie „Macht das Tor auf“, „Ulbricht kann’s nicht“ usw. Dazu zündete man eine Scheune an, was ein fatales Licht auf die fünf Jungen im Alter von 17 Jahren warf.
In der öffentlichen, im „Kulturhaus der NVA“ in Straußberg abgehaltenen Verhandlung wurden die Teenager als Schwerverbrecher und Nichtsnutze dargestellt. Sie mussten von ihren Taten abschwören. Von der Todesstrafe wurde abgesehen, die Jugendlichen bekamen „nur“ 25 Jahre Zuchthaus. Nach drei Jahren im Jugendknast in Torgau kamen Michael Gartenschläger und sein Kumpel Gerd Resag in das Zuchthaus Brandenburg/Havel. Hier saßen sie mit Schwerverbrechern, Mördern und Triebtätern in Zellen mit bis zu 20 Insassen.
Nach fast zehn langen Jahren, aus denen Briefwechsel zwischen Michael Gartenschlägers mit seiner Mutter, aber auch Berichte von den seltenen Besuchen im Feature vorgelesen wurden, wurde Gartenschläger von der Bundesrepublik Deutschland für 40.000 D-Mark freigekauft. Während sich der ebenfalls frei gekaufte Gerd Resag ins Privatleben zurückzieht, wird Gartenschläger zum erfolgreichen Fluchthelfer und beschäftigt sich immer mehr mit der innerdeutschen Grenze. Nach einem Bericht des Spiegels über die Selbstschussanlagen SM70 baute er zwei dieser Anlagen am "Grenzknick" bei Büchen/Schleswig-Holstein ab und verkaufte sie an eine Zeitung.
Diese öffentlichkeitswirksame Aktion wurde natürlich auch im Osten wahrgenommen. So bereitete man sich gezielt auf den nächsten Versuch Gartenschlägers, eine Selbstschussanlage zu erbeuten, vor. Ein Trupp von einem Offizier und drei Unteroffizieren der Staatssicherheit erwartete ihn in der Walpurgisnacht 1976. Gartenschläger, der seine Helfer zurück ließ, wurde gestellt und starb im Kugelhagel. Zuvor wurde er noch auf DDR-Gebiet gezogen, wo er seinen schweren Verletzungen erlag. In Schwerin anonym begraben, durfte er zu DDR-Zeiten nicht im Familienrahmen bestattet werden. Seine Familie reist in den folgenden Jahren weitestgehend aus. Dafür müssen wieder Jahre im Zuchthaus verbracht werden, verliert die Schwester ihre Arbeit, sind die staatlichen Repressionen auszuhalten. Die Mauer fällt 1989 und alle Protagonisten des Features sind sich einig: Michael Gartenschläger hätte das sehr gerne erlebt.
Bei der Aufarbeitung der Urteile gegen Gartenschläger und Co. wurde eine teilweise Rehabilitation 1994 durchgesetzt. Die Brandstiftung blieb als Straftatbestand bestehen. Bis zum Jahr 2003 wurden alle Beteiligten am Tod Michael Gartenschlägers freigesprochen, die Verfahren wurden verschleppt, eines wurde wegen Verjährung eingestellt. Auch heute gibt es in Straußberg noch einen Straßennamen, der an einen Mauerschützen erinnert, aber keine Michael-Gartenschläger-Straße.
Es entspann sich eine breite Diskussion mit den Schülern über die Erinnerung und die Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen. Zu recht gebe es etwa Geschwister-Scholl- oder Stauffenberg-Straßen, die an den Widerstand im "Dritten Reich" erinnern, aber die DDR-Dissidenten würden noch so gut wie gar nicht bedacht. Dafür brauche es vielleicht noch ein paar Jahrzehnte, meint Grafe: „Die ehrliche Aufarbeitung der DDR-Geschichte wird wohl erst dann beginnen, wenn die letzten Nutznießer dieser Diktatur abgetreten sind.“