Der Wunsch nach Freiheit und Würde eskaliert zu einem globalen Stellvertreterkrieg
Nach dem Sturz von Tunesiens Diktator Ben Ali und Protesten in zahlreichen arabischen Staaten, beginnen auch in Syrien Ende Januar 2011 die ersten Kundgebungen. Die vereinzelten Demonstrationen verstärken sich Anfang März nach dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte und der Folterung und Tötung einer Gruppe Jugendlicher in Dar‘a, die oppositionelle Parolen an die Mauer ihrer Schule sprühen. Die Mehrheit der Protestierenden fordern zunächst Reformen, größere Freiheiten und die Achtung der Menschenrechte. Manar Rachwani, Kooperationspartner der KAS und Chefredakteur der syrischen Exil-Zeitung Syria Direct, beschreibt die bescheidene Hoffnung, die der “Arabische Frühling“ 2011 in ihm weckte: „Ich wollte daran glauben, dass Freiheit und Würde in Reichweite sind, aber ich hatte Angst, dass das Regime diese Hoffnung schnell zerstören würde, indem es mit brutaler Gewalt auf die friedlichen Demonstranten reagieren würde.“. Wie befürchtet, eskaliert der Konflikt schließlich Mitte März 2011 gänzlich und als Sicherheitskräfte vermehrt auf Protestierende schießen, werden die Forderungen nach dem Sturz des Regimes – also einem Ende der jahrzehntelangen Assad-Herrschaft – immer lauter. Auch Rime Allaf, syrische Autorin und politische Analystin, erinnert sich an die bewegenden Momente der ersten Proteste: „Der bloße Anblick tausender Menschen, die es wagten, sich im öffentlichen Raum zusammen zu finden und einstimmig zu rufen: ‚Wir wollen den Sturz des Regimes!‘, ließ einen Schauder über unser aller Rücken laufen.“
Als Antwort auf das gewaltsame Durchgreifen des syrischen Regimes bilden sich lokale bewaffnete Oppositionsgruppen, wie die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA), mit dem Ziel die Demonstranten zu schützen und Assad zu stürzen. Zahlreiche Soldaten desertieren und schließen sich der Opposition an, es kommt immer häufiger zu Belagerungen und bewaffneten Kämpfen zwischen den Widerstandsgruppen und dem Regime. Wenige Monate nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ in Syrien haben sich die Proteste zu einem erbitterten Bürgerkrieg zwischen Regime-Anhängern und Gegnern entwickelt. Bedingt durch die verwobene Geschichte und die unterschiedlichen, komplexen Machtinteressen verschiedener lokaler Akteure, treten zunehmend regionale Kräfte in den Konflikt ein. Einige Golfstaaten, Israel, der Iran und die Türkei unterstützen in der Folge finanziell, politisch und militärisch die verschiedenen Seiten des Krieges, indem sie Kämpfer und Waffen liefern. Die zahlreichen Milizen, andauernde Kampfhandlungen, Flucht und Vertreibung schaffen an vielen Orten ein sicherheitspolitisches Machtvakuum. Dies wiederum begünstigt die Erstarkung des sogenannten Islamischen Staates (IS), dem es ab 2013 gelingt, die Wirren des Bürgerkrieges zu seinem Vorteil zu nutzen, Gebiete im Nordosten Syriens zu erobern und 2014 das „Kalifat“ auszurufen. Offiziell zum Kampf gegen die Terrororganisation treten schließlich auch globale Mächte, wie die USA und Russland, in den syrischen Konflikt ein, bekämpfen aber auch pro- beziehungsweise anti-Regime-Kräfte. Aus dem Bürgerkrieg wird ein komplexer, globaler Stellvertreterkrieg, der bis heute anhält, eine gemeinsame, friedliche Lösung erschwert und einer dauerhaften Stabilisierung des Landes entgegensteht.
Zehn Jahre „Arabischer Frühling“ – eine traurige Bilanz
Fast zehn Jahre nach dem Beginn des Syrienkrieges kontrolliert Assad mit russischer Unterstützung wieder 65 Prozent des syrischen Territoriums. Die Provinz Idlib und der Nordosten des Landes entziehen sich jedoch weiterhin seiner Kontrolle. Somit erstreckt sich die Herrschaft des Diktators auf weniger als 50 Prozent der syrischen Bevölkerung und selbst diese kann nicht gänzlich als Regime-Anhänger verstanden werden. Ein Großteil lehnt Assads Herrschaft weiterhin ab. Während das Regime und seine engen Unterstützer von der Kriegswirtschaft profitieren, leben über 90 Prozent der syrischen Bevölkerung in Armut. Der extreme Währungsverfall sowie der massive Anstieg von Lebensmittelpreisen haben zur Folge, dass rund 7,9 Million Menschen in Syrien unter chronischem Hunger leiden.
Die katastrophale Situation in Syrien zehn Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ und das Scheitern der Forderungen, lässt viele Syrer desillusioniert zurückblicken. Eine Kooperationspartnerin der KAS aus Dar‘a, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden möchte, fasst ihre Enttäuschung in klare Worte: „Wir waren einem Monster ausgeliefert, und nun hat Syrien viele Monster.“ Rachwani sieht als größtes Problem der Protestbewegung das Fehlen einer einheitlichen und alle Gruppen vertretenden Führung, die auch äußeren Einflüssen trotzt. So bleibt das Land auch weiterhin zerrissen zwischen verschiedenen nationalen und internationalen Interessen. Ähnlich urteilt auch Rime Allaf: „Während das Regime die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt hat, ist es immer noch nicht fähig, die Festung ohne die Unterstützung seines russischen Verbündeten und iranischen Sponsoren zu halten, während Dutzende von Milizen Syrien durchstreifen.“
Die Oppositionshochburg Idlib mit über drei Millionen Zivilisten und weitere Gebiete entlang der türkisch-syrischen Grenze werden von türkischen Truppen und von Ankara unterstützten Rebellen kontrolliert. Nachdem Idlib und weitere Regionen im Rahmen der Astana-Gespräche 2017 zwischen Russland, dem Iran und der Türkei als Deeskalationszonen eingestuft wurden, kam es sowohl 2018 als auch im Frühjahr 2019 zu erneuten militärischen Offensiven des syrischen Regimes – größtenteils unterstützt durch das russische Militär und unterschiedliche Milizen – gegen die Rebellenenklave. Dies führte wiederholt zu starken Fluchtbewegungen, vor allem innerhalb der Provinz sowie in die Türkei. Zuletzt führte das Assad-Regime zwischen Dezember 2019 und März 2020 eine Offensive gegen die Provinz, welche die größte einzelne Fluchtbewegung seit Beginn des Syrienkriegs 2011 auslöste. Der im März 2020 zwischen der Türkei und Russland ausgehandelte Waffenstillstand in der Region scheint Ende 2020 nach wiederholten Gefechten in Idlib und zunehmenden russischen Luftangriffen in Nordsyrien brüchig zu werden.
Im Nordosten des Landes stehen weitere Gebiete unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens, ein von den USA unterstütztes Militärbündnis aus überwiegend kurdischen Milizen. Ende 2019 ordnete US-Präsident Trump in Absprache mit dem türkischen Präsidenten Erdogan den Abzug der amerikanischen Truppen an und ermöglichte der Türkei eine militärische Offensive gegen die kurdischen YPG-Streitkräfte auf syrischem Staatsgebiet. Die türkische Offensive im Oktober 2019 zwang rund 200.000 Menschen zur Flucht, circa 100.000 kurdische Binnenvertriebene können bis heute nicht in die nun türkisch kontrollierten Gebiete zurückkehren.10 Ein vollständiger Abzug der US-Truppen, wie Präsident Trump ihn zunächst angekündigt hatte, geschah letztlich jedoch nicht.
Islamischer Staat und Foreign Terrorist Fighters – eine schwelende Gefahr
Wenngleich militärisch besiegt, stellt der sogenannte IS nach wie vor eine große Gefahr für Syrien und die Region dar. Angriffe der, nun im Untergrund organsierten, Terrormiliz nahmen 2020 vor allem in ländlichen Gebieten wieder zu. Gleichzeitig bedeutet die Erhaltung der Gefängnislager für ehemalige IS-Kämpfer eine enorme Herausforderung für die politische Führung der jeweiligen Gebiete. Zuletzt hatten die Demokratischen Kräfte Syriens im Oktober 2020 über 600 ehemalige IS-Angehörige freigelassen. Die kurdischen Autoritäten halten momentan über 10.000 ehemalige IS-Anhänger fest, darunter in etwa 800-1.200 ehemalige IS-Anhänger aus Europa. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder unter 12 Jahren.
Europas Rolle im syrischen Konflikt
Nicht nur beim Thema Foreign Terrorist Fighters sollte die EU eine geschlossene, europäische Außenpolitik betreiben, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der syrischen Bevölkerung bewusst ist. Nur mit einer einheitlichen Syrienstrategie und einem konsequenten Auftreten kann die EU ihre Glaubwürdigkeit bewahren und politischen Druck gegenüber dem Assad-Regime aufbauen. Zudem muss weiterhin der Grundsatz gelten: Jegliche Maßnahmen im Hinblick auf einen Wiederaufbau in Syrien müssen an einen glaubhaften politischen Prozess im Sinne der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 geknüpft sein. Ein solcher Prozess ist aufgrund der Blockadehaltung des syrischen Regimes derzeit nicht gegeben.
Im Bereich der juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen des syrischen Regimes ist Deutschland hierbei richtungsweisend. Derzeit findet vor dem deutschen Strafgericht in Koblenz eine Art ‚Modellprozess‘ nach dem Weltrechtsprinzip statt. Angeklagt sind zwei Syrer, die nach ihrer Ankunft in Deutschland von anderen Geflüchteten als Folterer in einem Assad-Gefängnis identifiziert wurden. Der Prozess dient als Musterbeispiel im internationalen Umgang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber hinaus reichten mehrere Nichtregierungsorganisation im Oktober 2020 Strafanzeige beim deutschen Generalbundesanwalt ein, wegen Angriffen des syrischen Regimes auf Zivilisten mit dem Nervenkampfstoff Sarin in Ghouta im Jahr 2013 und in Chan Schaichun im Jahr 2017. Vorherige Versuche des UN-Sicherheitsrats, den Fall vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen, waren am Veto Russlands und Chinas gescheitert.
Internationale Versuche, eine politische Lösung des Syrienkonflikts zu erreichen, kommen währenddessen weiter nicht voran. Die Verhandlungen rund um eine syrische Verfassung verlaufen nur stockend und politische Initiativen, angeleitet von den UN oder Russland, führten bisher zu keinem Durchbruch. Darüber hinaus kontrolliert das Assad-Regime internationale humanitäre Hilfsleistungen, von denen es selbst am meisten profitiert. Die humanitäre Hilfe für Syrien wurde im Jahr 2020 erneut deutlich erschwert, nachdem Russland und China die Verlängerung der UN-Resolution zur grenzüberschreitenden Hilfe mehrfach boykottierten. Humanitäre Hilfe in die von der Opposition kontrollierten Gebiete ist nun lediglich über einen Grenzübergang möglich und gefährdet somit die Versorgung von etwa 1,5 Millionen Menschen. Eine weitere humanitäre Katastrophe erscheint vor diesem Hintergrund insbesondere in den kommenden Wintermonaten und verschärft durch die COVID-19-Pandemie als nicht unwahrscheinlich.
Fazit: Ein langer Weg zum Frieden
Zehn Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ in Syrien ist das Land noch weit entfernt von einem autonomen, demokratischen Staat, der Völker- und Menschenrechte achtet. Auch wenn Assad weite Teile des Landes wieder unter seine Kontrolle bringen konnte, wird die Lage durch komplexe internationale und regionale Interessenskonflikte und aufgrund des tiefen gesellschaftlichen Zerwürfnisses innerhalb der syrischen Gesellschaft weiterhin instabil bleiben. Wie viele Syrer hält unsere, hier namentlich nicht genannte KAS-Kooperationspartnerin, jedoch weiterhin an der Hoffnung des „Arabischen Frühlings“ fest: „Die syrische Revolution ist eine Revolution der Wahrheit, und die Wahrheit stirbt nie.“
Eine Zukunft für Syrien kann allerdings nur unter Einbeziehung aller Syrer geschehen, die Schaffung eines gemeinsamen syrischen Zusammengehörigkeitsgefühls über ethno-konfessionelle Linien hinaus, also entgegen den bestehenden Parallelgesellschaften, ist hierfür unabdingbar. Manar Rachwani sieht im „Arabischen Frühling“ einen ersten Schimmer dieser Hoffnung: „Die Aufstände von 2011 haben uns gelehrt, dass wir uns gegenseitig als Syrer vertrauen können, unabhängig von unserer ethnischen oder intellektuellen Herkunft.“ Denn nur so ist ein dauerhaftes friedliches Miteinander, Aussöhnung und der Wiederaufbau Syriens sowie die Rückkehr von Geflüchteten und Vertriebenen möglich. Dass dies langfristig möglich ist, daran hat Rime Allaf keinen Zweifel, denn die Syrer „haben ihre Entschlossenheit bewiesen, ein neues Syrien aufzubauen, frei von den schmerzhaften Überresten der Vergangenheit.“
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