Deutschland befindet sich in einer „Zeitenwende“: Diese These vertritt die Münchner Sicherheitskonferenz, das weltweit wichtigste Forum für Außenpolitik, in einem Anfang Oktober erschienen Report. Wie sich die Zeiten geändert haben und welche Antworten Deutschland auf die neuen Herausforderungen geben sollte – darum ging es in Folge 23 unserer digitalen Veranstaltungsreihe KASkonkret.
Zu Gast in dem Live-Gespräch war Boris Ruge, einer der renommiertesten deutschen Diplomaten und Vize-Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. „Diese Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – nicht zuletzt unter Aufsicht und auf Betreiben der USA – ist der Rahmen, in dem wir uns bewegen“, stellte er zu Beginn klar. „Und da sieht man doch sehr deutliche Erosionserscheinungen.“
„Eine der wichtigsten Entscheidungen während der Pandemie: das EU-Wiederaufbaupaket“
Die Regeln, an die sich Staaten halten müssten, seien weniger verbindlich geworden. Dazu komme der Aufstieg Chinas: „ein dramatischer, sehr beeindruckender Vorgang, der sich mit großer Schnelligkeit vollzieht“. Außerdem wandle auch der Klimawandel die Außenpolitik – und all das sei flankiert von einem „rapiden technologischen Wandel, der auch die Machtverhältnisse in der Welt erheblich umkrempelt“.
Der Diplomat betonte, dass die Amerikaner – vor allem die aktuelle Regierung unter Präsident Donald Trump –immer weniger den Anspruch haben, „Hüter der weltweiten Ordnung“ zu sein. Deutschland müsse sich daher überlegen, wie man auf diese Entwicklung reagiert und dabei die europäischen Partner zusammenhält. Das sei in Zeiten von Corona ganz gut gelungen, meint Boris Ruge:
„Eine der wichtigsten Situationen in dieser Pandemie war die deutsch-französische Einigung auf das Wiederaufbaupaket.“ In der Frühphase der Viruskrise habe es Kritik an Deutschland gegeben – man zeige nicht genügend Solidarität gegenüber Ländern wie Spanien oder Italien. „Aber die Bundesregierung und der deutsche Bundestag haben ja dann doch den Ernst der Lage erkannt. Und wir haben uns enorm bewegt in Grundsatzfragen der Europäischen Union bei der Erarbeitung dieses Aufbaupakets. Ich glaube, das hat uns viel Glaubwürdigkeit gegeben und viel Kredit bei unseren wichtigsten Partnern in der EU.“
„Eine politstrategische Annäherung zu China ist keine Option“
Spannend ist in diesem Kontext natürlich auch die Frage, wie sich Deutschland gegenüber China positionieren soll. Immerhin ist das Land seit einigen Jahren unser wichtigster Handelspartner und für viele deutsche Unternehmen ein unverzichtbarer Absatzmarkt. Sollten wir uns China also nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch annähern?
„Ich glaube: Deutschland tut gut daran, weiterhin den engen Dialog mit China zu pflegen. Das brauchen wir wirtschaftlich. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass China ein sehr bedeutender politischer Akteur ist, dessen Einfluss bis nach Europa reicht.“
Eine strategische Annäherung sei daher keine Option. „Unsere engsten strategischen Partner sind in der EU, in der NATO und damit natürlich auch die USA.“
Genau dort sind Anfang November Wahlen und laut aktuellen Umfragen könnte Joe Biden Donald Trump als Präsident ablösen. Würde der Demokrat die Beziehung zwischen den USA und Deutschland verändern? „Joe Biden ist ein bekennender Transatlantiker“, sagte Ruge, der von 2016 bis 2019 stellvertretender deutscher Botschafter in Washington war. „Das bedeutet aber nicht, dass ein US-Präsident Biden nicht fordernd sein wird. Wenn er gewählt würde, müssten wir uns darauf einstellen, dass die USA auf die Europäer und insbesondere Deutschland zukämen mit sehr klaren Erwartungen. Die werden insbesondere auch China betreffen und der Wunsch wird sein, dass die USA und die EU zu einer gemeinsamen Chinapolitik kommen.“ Und das werde nicht ganz einfach, sagte der Diplomat.
„Deutschlands Außenpolitik muss robuster werden“
Aus dem Publikum, das live über die Facebookseite der Adenauer-Stiftung zugeschaltet war, kam dann noch die Frage, welche Rolle Afrika bei einer neuen deutschen Bündnispolitik spielen sollte. Ruge betonte, dass man die afrikanischen Länder in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung unterstützen müsse. „Erstens, um Instabilität vorzubeugen. Zweitens, um Migrationsbewegungen Richtung Europa vorzubeugen. Und drittens, um gerade im wirtschaftlichen Bereich einen Partner zu haben, der mit der EU harmoniert.“
Was Deutschland tun muss, um all diesen weltpolitischen Veränderungen mit konkreten Maßnahmen zu begegnen, bringt Frank Windeck auf den Punkt – er ist Referent im Büro Bundesstadt Bonn der Konrad-Adenauer-Stiftung:
„Deutschlands Außenpolitik muss robuster und auch selbstbewusster werden. Das erwarten auch unsere Verbündeten von uns. Um das zu erreichen, müssen wir die entsprechende Infrastruktur vorhalten.“ Konkret meint Windeck Investitionen in Entwicklungszusammenarbeit, militärischen Fähigkeiten und den diplomatischen Dienst.
Zum Abschluss des Gesprächs warf Boris Ruge noch einen Blick in die Zukunft und berichtete, in welchen Regionen er das größte Konfliktpotenzial sieht. „Ostasien ist eine Region, auf die man gucken muss“, sagte der vierfache Familienvater – und meinte vor allem Taiwan. „Die chinesische Regierung hat mit ihren Streitkräften in den vergangenen Wochen Übungen durchgeführt. Sie machen Mitteilungen über den Aufbau militärischer Fähigkeiten, die Taiwan bedrohen.“
Außerdem müsse man den Westbalkan, Nordafrika und Nah- und Mittelost im Auge behalten. „Das sind Gebiete, die sehr stark durch die Pandemie, aber auch durch die Wirtschaftskrise in Mitleidenschaft gezogen werden. Da sollten wir Europäer überlegen, wie wir diese Regionen stabilisieren.“
Es war ein spannendes Gespräch mit jeder Menge klarer Einschätzungen, die unseren Blick auf die Weltpolitik und die Rolle Deutschlands bereichert haben. In der kommenden Woche moderiert Susanna Zdrzalek die nächste Folge KASkonkret – und spricht am Dienstag um 18 Uhr mit einem Mann, der sich im Frühjahr mit Corona infiziert hat und davon berichten wird, wie er die Krankheit erlebt hat.