Unstrittig ist, dass es einer Justizreform in Israel bedarf - in Ermangelung einer formalen Verfassung und einer ausgleichenden zweiten Kammer sowie eines nicht vorhandenen Vetorechts des Staatspräsidenten. Über Ausmaß, Inhalte und Implementierung der Reform lässt sich allerdings streiten. Während die Reformbefürworter die Diktatur der Justiz anprangern, sehen die Reformkritiker den demokratischen Charakter des Staates Israel bedroht, was sich in der Beschneidung der Kompetenzen des Obersten Gerichtshofes begründet, die die Gefahr einer Mehrheitsherrschaft in sich birgt. Ausschlaggebend für die vehemente Kritik ist die sog. „override clause“, wonach die Knesset in der Lage wäre, Urteile des Obersten Gerichtshofes außer Kraft zu setzen; damit würde de facto die Gewaltenteilung aufs Spiel gesetzt. Die Deutsch-Israelische Juristenvereinigung warnt explizit vor einer radikalen Verschiebung des Gleichgewichts von Legislative, Exekutive und Judikative.[1]
Ein Zeichen für eine lebendige Zivilgesellschaft sind die Demonstrationen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gegen die Justizreform, die sich in allen Landesteilen bereits in der achten Woche in Folge fortsetzen. Was Anfang Januar mit 30.000 Protestlern begann, hat sich in den vergangenen beiden Monaten vervielfacht und erreichte am 25. Februar landesweit mit geschätzten 300.000 Teilnehmern eine Rekordzahl. Hinzugekommen sind inzwischen in der dritten Woche die Demonstrationen vor der Knesset, die wöchentlich ebenfalls ca. 70.000 bis 100.000 Menschen, die friedlich für demokratische Werte einstehen, zusammenbringen. Das ist gelebte Demokratie, die sich gegen drohende semiautoritäre Tendenzen schützen will.
„We are seeing our house on fire“[2] - so hatte es der bekannte israelische Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossmann bei einer der Kundgebungen im Januar benannt, was an apokalyptische Prophezeiungen erinnert. In Anbetracht der Ausmaße der Demonstrationen sind inzwischen die „streets on fire“. Das sind allerdings nicht die üblichen Proteste linker Aktivisten, es sind Proteste, die sich durch alle gesellschaftlichen Sektoren ziehen und über parteipolitische Grenzen hinwegsetzen. Hinzu kommen Demonstrationen von Vertretern der Hightech-Branche und der Wirtschaft, die Angst um das internationale Image des Staates und damit um ihre Existenz haben. Nicht nur Unternehmen drohen, ihr Kapital ins Ausland zu bringen, auch so manche Israelis, die über einen zweiten Pass verfügen, stellen Überlegungen an, auszuwandern - ein drohender „financial- und braindrain“ gleichermaßen.
Staatspräsident Herzog, der mit seiner Rede zur Besonnenheit, zum Aussetzen der Pläne zur Justizreform und gleichzeitig zum Kompromiss und Dialog zwischen Regierung und Opposition aufgerufen hat, konnte zumindest die Debatte im Land neu beleben. Seinen Mahnungen folgten weitere Demonstrationen vor der Knesset und konstruktive Vorschläge von renommierten Think Tanks und Instituten, denen der Fortbestand der Demokratie am Herzen liegt.
Aber auch damit gelang es nicht, das Verfahren zu stoppen. Am 20. Februar billigte der Justizausschuss einen Teil der Reform und die erste Lesung der Gesetzesnovelle passierte die Knesset. Am 1. März – von den Medien zum „national day of disruption“ stilisiert - wurden inmitten landesweiter Proteste weitere Teile der Reform, darunter auch die „override clause“ vom Justizausschuss für die erste Lesung vorbereitet. Die Entwicklungen sind kaum mehr aufzuhalten und veranlassten Staatspräsident Herzog, seine Besorgnis über die offensichtliche Staatskrise erneut kund zu tun: „The state of Israel, Israeli Society, all of us, are in a difficult time of an internal, deep, and serious crisis that threatens all of us. I will not let our state reach the point of no return”.[3]
Fest steht, dass es aktuell um mehr als pro oder contra Justizreform geht, es geht um den Staat Israel, der im 75. Jahr seiner Gründung an einer gefährlichen Weggabelung angekommen ist. Es geht um einen Staat, dessen gesellschaftliche Spaltung aufgrund der demographischen Entwicklung, ideologischer Veränderungen und polarisierender Regierungen immer größer wird. Religiöse gegen nicht-Religiöse, Spannungen zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen, Rechtsextreme gegen Moderate zeigen Konfliktlinien auf, die sich tief durch die israelische Gesellschaft ziehen. Diese Gruppierungen und Strömungen haben komplett gegensätzliche Visionen von der Zukunft des Staates. Bislang konnte die existenzielle Bedrohung von außen Israel immer wieder vereinen, die Gefahr von innen indes hat ein zerstörerisches Potential.
Aber es steht noch mehr auf dem Spiel als die innere Verfasstheit Israels, die auch eng mit den Beziehungen zu den Palästinensischen Gebieten und der Zukunft der Zweistaaten-Lösung verbunden ist, es steht die Sicherheit der Region insgesamt auf dem Spiel.
Die volatile innenpolitische Gemengelage ist gepaart mit einer neuen Terrorwelle in Ostjerusalem und einer Eskalationsspirale der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern im Westjordanland sowie der andauernden existentiellen Bedrohung äußerer Mächte, Iran an vorderster Stelle. 2022 war bereits das tödlichste Jahr für Israelis und Palästinenser seit 2006, in den ersten beiden Monaten diesen Jahres setzt sich die Gewaltwelle in beschleunigter Form fort. Die von der israelischen Regierung als Reaktion auf die palästinensischen Terroranschläge vom Anfang des Jahres verabschiedeten Anti-Terrormaßnahmen - wie beispielsweise die Erleichterung der Vergabe von Waffenlizenzen und Maßnahmen, den Siedlungsbau voranzutreiben – sowie dezidierte Vorhaben zur Legalisierung illegaler Außenposten, haben nicht gerade zur Abschreckung beigetragen.
Hinzu kommen innerkoalitionäre Friktionen. Die Regierungsbildung hatte fast zwei Monate gedauert, war also von Anfang an von gegenseitigem Misstrauen geprägt und aktuell scheint auch der innere Zusammenhalt zu bröckeln. Immer häufiger boykottieren Vertreter der rechtsextremen Partei „Otzma Yehudit“ oder der ultraorthodoxen Parteien Abstimmungen in der Knesset, da sie ihre Forderungen auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen nicht genügend berücksichtigt finden. Ende Februar hat Avi Maoz, der offenkundig homophobe Vorsitzende der ultrarechten, national-religiösen Noam Partei - in seiner Funktion als stellv. Minister im Amt des Premierministers - die Regierungskoalition verlassen; ihm würde nicht genügend Einfluss auf die „jüdische nationale Identität“ zuteil. Da er Mitglied der Knesset bleibt, ändert das zwar aktuell nichts an der stabilen numerischen Mehrheit der Regierungskoalition, gibt aber Aufschluss über die angespannte Stimmung.
In der letzten Woche sind Finanzminister Bezalel Smotrich - der selbst radikaler Siedler ist und bereits 2017 für Schlagzeilen mit seinem „Unterwerfungsplan“ für die Palästinenser sorgte und dem im Zuge der Regierungsbildung bereits ein Teilbereich aus dem Portfolio des Verteidigungsministeriums übertragen worden war - neue Befugnisse in zivilen Angelegenheiten in weiten Teilen des Westjordanlands übertragen worden. Die Umsetzung des Koalitionsvertrages,[4] nach dem das "jüdische Volk ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel besitze“ und die Regierung "die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel - in Galiläa, in der Negevwüste, auf dem Golan, in Judäa und Samaria fördern und ausbauen werde", gekoppelt mit der Zuständigkeitserweiterung für Smotrich und drohender Einschnitte in die Rechtsstaatlichkeit, werden von Experten als gefährliche Elemente einer fortschreitenden de facto Annexion des Westjordanlandes bewertet.
Die Ereignisse zu Beginn der Woche im palästinensischen Ort Hawara südlich der Stadt Nablus, bei denen hunderte radikale israelische Siedler einen palästinensischen Terroranschlag (bei dem zwei Israelis zu Tode gekommen waren) mit Gegengewalt rächten - mit einem Toten, über einhundert Verletzten und zahlreichen brennenden Häusern und Autos auf palästinensischer Seite - symbolisieren den vorläufigen Höhepunkt einer gefährlichen Eskalationsspirale, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Gespräche von israelischen und palästinensischen Regierungsvertretern, die parallel im jordanischen Aqaba in Präsenz von Abgesandten Jordaniens, Ägyptens und der USA zur Deeskalation beitragen sollten, blieben substanz- und wirkungslos – insbesondere vor dem Hintergrund widersprüchlicher Kommentare der israelischen Regierung. Während in den Abstimmungsgesprächen noch ein vorübergehendes Moratorium für den Siedlungsausbau vereinbart worden war, wurde das noch am selben Tag von Vertretern der israelischen Regierung zurückgenommen. Der israelische Nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi betonte, dass seine Regierung ihre Entscheidung über die Legalisierung von neun (9) Außenposten in der Westbank und den Bau von 9.500 Wohneinheiten in den besetzen Gebieten nicht zurücknehmen werde, „there is no change of policy in Israel“.[5]
In diesem Spannungsfeld überrascht kaum mehr, dass die israelische Regierung auch vor einem Gesetzesvorhaben zur Einführung der Todesstrafe für Terroristen nicht haltmacht, dessen Entwurf ebenfalls am 1. März auf den Weg gebracht wurde. Es sind weitere drei Lesungen für die Rechtskräftigkeit des Gesetzes notwendig.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Beginn des Fastenmonats Ramadan nähert und im April auch mit den jüdischen Pessachfeiertagen und dem christlichen Osterfest zusammenfallen wird. Im letzten Jahr ist es um dieselbe Zeit zu Ausschreitungen am Tempelberg gekommen.
Benjamin Netanjahu hatte seine Wahlkampagne prioritär auf dem Thema innere und äußere Sicherheit aufgebaut. Die jüngsten Entwicklungen erwecken den Eindruck, als habe er die Kontrolle über seine Koalitionspartner und damit über die Sicherheit des Landes verloren.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist ein aktueller Aufruf einer Gruppe prominenter Knessetabgeordneter aus dem Likud (darunter der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses und ehemalige Knessetsprecher Yuli Edelstein) und der Opposition (darunter der ehemalige Generalstabschef Gadi Eisenkot von der „Nationalen Einheitspartei“), die für einen parteiübergreifenden Dialog zur Justizreform unter Schirmherrschaft von Staatspräsident Herzog eintreten. Auch der Vorsitzende der im politischen Zentrum stehenden Nationalen Einheitspartei und ehemalige Verteidigungsminister, Benny Gantz, ist bemüht, Premierminister Benjamin Netanjahu und Knessetsprecher Amir Ohana zu einem Dialog zu bewegen.
In seiner jüngst veröffentlichen Autobiographie „Bibi my story“ beschreibt der Premierminister seinen eindrucksvollen Weg zum „leadership“ und formuliert sein Bekenntnis, sein Land zu verteidigen und dessen Zukunft zu bewahren. Die Antwort auf die Frage „Quo Vadis Israel?“ entscheidet sich nun einzig und allein an der Richtung, die Bibi Netanjahu an dieser aktuell gefährlichen Weggabelung einschlägt.
Es geht um nichts geringeres als um die Verteidigung der Werte einer liberalen Demokratie und damit eng verbunden um die Frage nach der Widerstandsfähigkeit der israelischen Demokratie.
Stand: 03.03.2023
[1] https://www.dijv.de/de/article/190.dijv-und-brak-vertreter-sprechen-in-eilat.html
[2] https://newstral.com/en/article/en/1233599133/author-david-grossman-we-are-seeing-our-house-on-fire-
[3] https://www.i24news.tv/en/news/israel/politics/1677689956-israel-s-herzog-i-will-not-let-our-state-reach-the-point-of-no-return
[4] https://main.knesset.gov.il/mk/government/pages/coalitionagreements.aspx
[5] https://www.gov.il/en/departments/news/ehanegbi
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