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IMAGO / ITAR-TASS

Rapports pays

Pekings Griff nach dem Japanischen Meer

Chinas Geopolitik und Russlands Zugeständnisse

Während in den westlichen Medien weiterhin über Chinas Rolle im russischen Angriffskrieg spekuliert wird, bemüht sich Peking um Nutzenmaximierung: Aus der Sicht Chinas gilt es, Moskaus Abhängigkeit von der Volksrepublik auszunutzen und die Kooperation im eigenen Sinne auszubauen – und dies nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Im geopolitischen Bereich betrifft dies insbesondere Chinas Zugang zum Japanischen Meer, aber Pekings Pläne erstrecken sich bis in die Arktis. So könnte ein auf den ersten Blick unscheinbarer Absatz aus einer gemeinsamen Erklärung der Präsidenten Xi und Putin weitreichende geopolitische Implikationen nach sich ziehen und für Japan und Südkorea zu einer ernstzunehmenden sicherheitspolitischen Herausforderung werden.

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Neue Machtverhältnisse eröffnen Handlungsspielräume für Peking

Das North American Aerospace Defense Command (NORAD) erlebte am 24. Juli eine Premiere der besonderen Art: Erstmals mussten Kampfjets aus den USA und Kanada über der Beringsee aufsteigen, da sich zwei chinesische H-6K-Bomber der Küste von Alaska näherten. Diese wurden von zwei russischen Tupolew Tu-95MS begleitet.[i] Nur wenige Tage zuvor hatten Russland und China unter dem Namen „Joint Sea-2024“ eine gemeinsame Übung der See- und Luftstreitkräfte nahe der südchinesischen Provinz Guangdong abgehalten.

Doch während diese gemeinsamen Militärübungen für mediale Aufmerksamkeit sorgten, schaffen Peking und Moskau im Hintergrund Fakten, die weitreichende Folgen für die Sicherheitsarchitektur im Japanischen Meer und rund um die koreanische Halbinsel haben könnten: So veröffentlichten Russlands Machthaber Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping unlängst eine gemeinsame Erklärung zur Vertiefung ihrer strategischen Partnerschaft.[ii] Hintergrund des Papiers war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern, beziehungsweise der Sowjetunion und der Volksrepublik China, vor 75 Jahren.

Darin enthalten ist der folgende Beschluss: „Russland und China wollen einen konstruktiven Dialog mit der Demokratischen Volksrepublik Korea über die Seefahrt chinesischer Schiffe über den Unterlauf des Tumen-Flusses führen.“ Was unscheinbar erscheint, könnte aus der Perspektive Seouls und Tokios die strategische Machtbalance gegenüber China zu ihren eigenen Ungunsten verändern und die sensible Sicherheitsarchitektur in der Region entscheidend beeinflussen.

 

Der Tumen-Fluss: Entfällt Chinas maritime Sackgasse?

Der 521 Kilometer lange Tumen-Fluss bildet die Grenze zwischen China und Nordkorea und wird flussabwärts zum Grenzfluss zwischen Nordkorea und Russland, bevor er ins Japanische Meer mündet. Derzeit können chinesische Schiffe den Fluss nur bis zum Dorf Fangchuan am östlichen Ende der Binnenprovinz Jilin frei befahren. Für die verbleibenden 15 Kilometer bis zum Japanischen Meer ist die Erlaubnis sowohl von Russland als auch von Nordkorea erforderlich. Eine weniger als zehn Meter hohe „Freundschaftsbrücke“ aus der Sowjetzeit blockiert zudem die Passage größerer Schiffe.

Historisch gesehen hielt China das Gebiet, bis das Russische Reich in den 1860er Jahren die Kontrolle erlangte. China hat wiederholt Russland und Nordkorea aufgefordert, chinesischen Schiffen die Navigation auf dem Fluss bis zum Japanischen Meer dauerhaft zu gestatten und schlug etwa die Schaffung einer Sonderwirtschaftszone entlang seiner Ufer vor. Chinas Ziel ist klar: Peking ist bestrebt, über den Tumen-Fluss Zugang zum Japanischen Meer zu erhalten.

 

Japan und Südkorea: Sorge vor geopolitischen Implikationen

In Japan herrscht Besorgnis darüber, dass sich die strategische Machtbalance gegenüber China zum Nachteil Japans verschieben könnte: Im Interview mit der Tageszeitung Nikkei Asia warnt Chisako Masuo, Professorin für chinesische Außenpolitik an der Kyushu-Universität, dass künftig neben größeren Schiffen auch Patrouillenschiffe der chinesischen Küstenwache über den Tumen-Fluss ins Japanische Meer gelangen könnten. „Dies könnte die japanische Marine zwingen, ihre Küstenwachschiffe von den Senkaku-Inseln abzuziehen, was die Überwachung im Ostchinesischen Meer schwächen würde.“[iii] Dort streiten Japan und China um die Senkaku-Inseln. Japan kontrolliert diese, China bezeichnet sie als Diaoyu und beansprucht sie für sich. In letzter Zeit ist die Präsenz chinesischer Schiffe in den Gewässern rund um die Inseln wieder angestiegen.

„Ähnliche Sorgen dürfte es in Südkorea geben. Chinesische Schiffe könnten fortan die koreanische Halbinsel von beiden Seiten erreichen. Zudem sind sowohl Japan als auch Südkorea enge Verbündete der USA. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage – und sei es auch nur gefühlt – hätte damit auch Auswirkungen auf die Pläne der US-Streitkräfte“, analysiert der Journalist Michael Radunski, der mehrere Jahre als Korrespondent aus Peking berichtete.[iv]

 

Das Japanische Meer: Tor zur Arktis

Peking verfolgt über den Zugang zum Japanischen Meer hinaus ein wesentlich umfassenderes Ziel: den Zugang zur Arktis. In einem Aufsatz, der am 13. Mai 2024 veröffentlicht wurde, argumentieren Forscher der nordchinesischen Dalian Maritime University, dass der Zugang zum Japanischen Meer Chinas Position in der Arktis stärken und Pekings Vision einer „Polaren Seidenstraße“ erheblich voranbringen könnte.[v] Sollte die Arktis Mitte des Jahrhunderts tatsächlich weitgehend eisfrei sein, würden sich für die chinesische Schifffahrt neue und verkürzte Seewege eröffnen.

„Mit der Polaren Seidenstraße bettet China auch den arktischen Raum in die sogenannte Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative) ein, ein großangelegtes chinesisches Projekt zum Ausbau eines interkontinentalen Infrastruktur- und Handelsnetzes. Die potenziellen Schiffsrouten der „Polaren Seidenstraße“ verlaufen westlich von Grönland entlang der kanadischen Küste (Nordwestpassage), von Skandinavien aus an der sibirischen Küste Russlands entlang (Nordostpassage) und zentral zwischen Spitzbergen und Grönland (Transpolare Route) in die Beringstraße“, konstatiert David Merkle, Chinareferent der Konrad-Adenauer-Stiftung, in einer umfassenden Analyse zur chinesischen Politik in der nördlichen Polarregion.[vi] Derzeit muss ein erheblicher Teil des chinesischen Handels die enge Straße von Malakka zwischen Indonesien und Malaysia passieren. Eine Blockade dieser Meerenge, die an der schmalsten Stelle nur etwa 50 Kilometer breit ist, würde die Energiesicherheit Chinas gravierend gefährden. Zudem würde eine eisfreie Arktis die bisherigen Seeverbindungen von Asien nach Europa um etwa 8.000 Kilometer und nach Nordamerika um rund 4.500 Kilometer verkürzen.

 

Überwindbare Herausforderungen oder gezielte Verunsicherung?

Russland wie auch Nordkorea standen den chinesischen Plänen bislang äußerst skeptisch gegenüber. Moskau befürchtet, dass sich Chinas Einfluss in Nordostasien verstärken könnte. Derweil steht auch für Nordkorea einiges auf dem Spiel: Bislang überqueren alle chinesischen Waren den Tumen über eine Brücke und werden auf dem Landweg zum Hafen von Rajin transportiert. „Daher würde die Idee, China eine direkte Schifffahrt zum Pazifik über den Tumen-Fluss zu ermöglichen, diesen Hafen überflüssig machen. Nordkorea würde dadurch hohe Einnahmen verlieren“, konstatiert Melik Kaylan vom Wirtschaftsmagazin Forbes.[vii] Er gibt zu bedenken, dass massive Ausbaggerungen und Verbreiterungen erforderlich wären, um den Tumen für große Schiffe befahrbar zu machen. Seiner Ansicht nach erscheint die Idee, den chinesischen Zugang wiederherzustellen, wie eine Fantasie, „eine unwahrscheinliche“. Warum also haben Putin und Xi diese Idee ins Spiel gebracht? Seine Erklärung: „Der Küstenstreifen wurde im 19. Jahrhundert von der Qing-Dynastie an Russland abgetreten und die Volksrepublik China fordert ihn seit Jahrzehnten zurück. Putin gehen die Anreize aus, die er Peking für die Unterstützung seines Ukrainekrieges bieten kann. Ein solches Angebot kommt bei der chinesischen Öffentlichkeit gut an – löst aber in Moskau Wut unter den Anhängern des Putin-Regimes aus, die von großrussischem Fanatismus erfüllt sind. (…) Aber Putin macht einen bestimmten Punkt klar: Wenn Peking direkten Zugang zum Japanischen Meer erhält, wird sich die strategische Gleichung radikal ändern. Derzeit muss die chinesische Marine um die gesamte koreanische Halbinsel segeln, um in dieses Gebiet zu gelangen. Plötzlich könnte Peking Japan (und verschiedene umstrittene Inseln) direkt bedrohen.“[viii] Folglich würde die Belastung für die USA und ihre Verbündeten, die maritime Projektion, den Schutz, die Einsatzbereitschaft und die Ressourcen zu erweitern, drastisch steigen.

Also alles nur ein PR-Stunt, der für Verunsicherung bei den USA und ihren Verbündeten sorgen soll – und zudem Beifall in der chinesischen Öffentlichkeit erzeugt? Gegen diese These spricht, dass sich in den staatlichen Medien der Volksrepublik kaum Meldungen finden lassen, die sich dem Thema annehmen. Darüber hinaus kommt zunehmend Bewegung in die Sache: So ist aus chinesischen Online-Portalen zu vernehmen, dass Putin bei seinem Treffen mit dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Un Mitte Juni weitere Beschlüsse vereinbart hat. Dementsprechend sollen Nordkorea und Russland bereits eine bilaterale Vereinbarung zum Bau einer neuen Brücke über den Tumen-Fluss unterzeichnet haben. „Es zeigt sich, dass die Zusammenarbeit zwischen Russland und China angesichts des anhaltenden Russland-Ukraine-Konflikts und der zunehmenden westlichen Sanktionen immer enger wird. Die Umgestaltung dieser Brücke ist nicht nur ein Infrastrukturprojekt, sondern auch ein Symbol für die strategische Zusammenarbeit beider Länder [Russlands und China] und kündigt eine neue Ära der wirtschaftlichen Zusammenarbeit an“, urteilt Yi Dan Qing Cheng, der unter einem Pseudonym schreibt und der sich als einer der wenigen Kommentatoren aus China mit dem Thema publizistisch befasst hat.[ix]

 

Ausblick

Keine Frage: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Mächteverhältnis und die Beziehungen zwischen Peking, Moskau und Pjöngjang verändert. Russlands Präsident Wladimir Putin und Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un haben im Juni in Pjöngjang einen Vertrag über eine umfassende strategische Partnerschaft abgeschlossen. Putin reiste erstmals nach einem Vierteljahrhundert wieder nach Nordkorea, um persönlich die Beziehungen der beiden Staaten weiter zu vertiefen. Derweil ist Russland auf chinesische Waren angewiesen: 2023 wurden Waren im Rekordwert von mehr als 240 Milliarden US-Dollar zwischen Russland und China gehandelt, ein Plus von 26,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Machtverschiebungen und Abhängigkeiten Russlands eröffnen der Volksrepublik neue Chancen, auch geopolitisch. Sollte das Projekt, einen chinesischen Zugang zum Japanischen Meer zu ermöglichen, erfolgreich vorangetrieben werden, könnte China das Tumen-Delta als sekundäre Werft für seine Marine- und Patrouillenschiffe entwickeln und diese strategisch in der Nähe der internationalen Seegrenzen Japans positionieren.

In der Region scheint man sich auf wachsende Spannungen vorzubereiten: So gaben die Außenminister Australiens, Indiens, Japans und der USA Ende Juli in Tokio bekannt, ihre Zusammenarbeit im Rahmen der sogenannten Quad auszubauen. Konkret geht es dabei um den Bereich der Cybersicherheit – aber auch um die maritime Sicherheit im Indopazifik.


[i] Siehe ausführlicher: Zwerger, Patrick 2024: Uralt-Bomber aus Russland und China treffen auf US-Jets, abrufbar unter: https://www.flugrevue.de/militaer/tupolew-tu-95ms-und-harbin-h-6-uralt-bomber-aus-russland-und-china-vor-alaskas-kueste/, letzter Zugriff: 30.7.2024. 

[ii] Außenministerium der Volksrepublik China 2024: Gemeinsame Erklärung der Volksrepublik China und der Russischen Föderation zur Vertiefung der umfassenden strategischen Kooperationspartnerschaft im neuen Zeitalter anlässlich des 75. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, abrufbar unter: https://www.fmprc.gov.cn/zyxw/202405/t20240516_11305860.shtml, letzter Zugriff: 30.7.2024. 

[iii] Tajima, Yukio 2024: China eyes Sea of Japan access via Russia-North Korea border river, Nikkei Asia, abrufbar unter: https://asia.nikkei.com/Politics/International-relations/China-eyes-Sea-of-Japan-access-via-Russia-North-Korea-border-river, letzter Zugriff: 30.7.2024. 

[iv] Radunski, Michael 2024: Chinesisch-russische Partnerschaft: Wie Peking sich Zugang zum Japanischen Meer verschaffen will, China.Table, 28.06.2024.

[v] Chang, Yen-Chiang, Xingyi Duan, Xu (John) Zhang & Ling Yan 2024: On China’s Navigation Rights and Interests in the Tumen River and the Japanese Sea, abrufbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/08920753.2024.2347817?src=exp-la, letzter Zugriff: 30.7.2024.

[vi] Merkle, David 2023: Der selbsternannte Fast-Arktisstaat: Chinas Politik in der nördlichen Polarregion, in: Auslandsinformationen, abrufbar unter: https://www.kas.de/de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/der-selbsternannte-fast-arktisstaat, letzter Zugriff: 30.7.2024. 

[vii] Kaylan, Melik 2024: Russia Offers China A River To The Sea In The Pacific, abrufbar unter:

https://www.forbes.com/sites/melikkaylan/2024/06/25/russia-offers-china-a-river-to-the-sea-in-the-pacific/, letzter Zugriff 30.7.2024.

[viii] Ebd.

[ix] Yi Dan Qing Cheng 2024: Was er unserem Land versprochen hat, hat Putin eingehalten. Die Umgestaltung der Tumen-Brücke hat die Sorgen der chinesischen Seite gemildert, abrufbar unter: https://www.163.com/dy/article/J6JBCD8K0552P34A.html, letzter Zugriff 30.7.2024.

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Interlocuteur

Johann C. Fuhrmann

Johann C

Leiter des Auslandsbüros China - Peking

johann.fuhrmann@kas.de +86 10 6462-2207; 2208 +86 10 6462-2209

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