Rapports pays
Das Ergebnis
Als der Leiter der Zentralen Wahlkommission am Abend das Ergebnis von 53 % für den Georgischen Traum verlas, schien das Land in eine Schockstarre zu verfallen. Damit hatte kaum jemand gerechnet. Auf die vier Oppositionsblöcke, die den Sprung über die 5%-Hürde schafften, entfielen demnach zwischen 8 % und 11 % der Stimmen, zusammen 38 %. Exit Polls, die kurz nach Schließung der Wahllokale um 20:00 Uhr veröffentlicht worden waren, hatten hingegen den Georgischen Traum bei 41 % und die Opposition bei 52 % gesehen (zwischen 8% und 17% per Oppositionsblock). Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben bei 59 % und damit deutlich höher als vor vier Jahren, allerdings niedriger als während der letzten Richtungswahl im Jahr 2012. Erstmals kam ein elektronisches Wahlverfahren zum Einsatz, bei dem gleich nach Stimmabgabe die Wahlzettel gescannt und an eine Zählmaschine übermittelt wurden. Das Verfahren war zwar auch in Venezuela im Einsatz gewesen, wurde aber von unabhängigen Wahlbeobachtern als „schwer zu manipulieren“ eingeschätzt. Neben der elektronischen Erfassung wurden die Stimmen auch noch per Hand ausgezählt.
Der Wahlablauf
Der Wahltag, der in sehr angespannter Atmosphäre verstrich, war von Unregelmäßigkeiten geprägt, insbesondere in den Außenbezirken der Hauptstadt bzw. in den Gebieten mit einem hohen Anteil ethnischer Minderheiten. In Marneuli etwa, wo viele Georgier aserbaidschanischer Herkunft leben, stopften Anhänger des Georgischen Traums Bündel von Wahlzetteln in eine Urne. Ein Beobachter, der das filmte, wurde zusammengeschlagen und das Wahllokal darauf geschlossen. Präsidentin Surabischwili hatte im Laufe des Wahltages das Innenministerium aufgefordert, die Polizei anzuweisen, konsequenter gegen Wahlverstöße, Einschüchterungen und Ausschreitungen vorzugehen. Mehrere lokale unabhängige Wahlbeobachtungsgruppen berichteten fast im Stundentakt von Fällen versuchter Beeinflussung von Wählerinnen und Wählern, es blieb jedoch im Laufe des Wahltages unklar, wie stark diese Vorfälle sich letztendlich auf das Gesamtergebnis auswirken würden. Die um kurz nach 20:00 Uhr veröffentlichten Exit Poll Ergebnisse sahen den Georgischen Traum zwar stärker als erwartet, bestätigten aber im Wesentlichen die Zahlen aus den Umfragen der letzten Wochen vor der Wahl. Für die meisten Beobachter kam dann die Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses aus heiterem Himmel. Insbesondere die große Diskrepanz zwischen Exit Polls und amtlichem Ergebnis legte schnell den Verdacht nahe, dass es sich um eine großangelegte Manipulation handeln müsse. Gleichzeitig war klar, dass es schwer werden würde zu ermitteln, wie und wo diese stattgefunden hat. Von mehr als 200.000 Stimmen (=10 %) für den Georgischen Traum, die aus dem Nichts kamen, war die Rede. Auch wurden in den Wochen vor der Wahl offenbar massenweise Personalausweise von Staatsbediensteten eingesammelt, die dann in mehreren Wahllokalen in die Wählerlisten aufgenommen wurden, so dass die Personen am Wahltag mehrfach abstimmen konnten, ohne dass das zu offensichtlichen Auffälligkeiten im elektronischen System oder beim Ergebnis führte. Auf jeden Fall steht der Verdacht im Raum, dass das „Schema“ des Wahlbetrugs systematisch, von langer Hand und im großen Maßstab geplant gewesen ist. Gleichzeitig erscheint es so ausgefeilt, dass bislang keine Beweise für einen systematischen Betrug erbracht werden konnten.
Zweifel
Abgesehen von der technischen Natur des vermuteten Wahlbetrugs gibt es weitere Gründe, das offizielle Resultat in Frage zu stellen: Das Ergebnis für den Georgischen Traum liegt deutlich über dem von 2020 und das, obwohl – anders als vor vier Jahren – 2024 eine Wechselstimmung herrschte. Nach zwölf Jahren Amtszeit war landesweit eine deutliche Müdigkeit mit der Regierungspartei zu spüren, die sogar Bidsina Iwanischwili, der Gründer und Ehrenvorsitzende des Georgischen Traums, in einem Interview wenige Tage vor der Wahl einräumte. Die Mobilisierung der eigenen Wählerinnen und Wähler, die der Georgische Traum noch am Mittwoch vor der Wahl anstrengte, erschien orchestriert und wenig authentisch: Viele Menschen, die gegen Geld oder unter Druck in Minibussen aus den Regionen in die Hauptstadt gebracht wurden, nahmen ganz offensichtlich ohne Begeisterung oder Interesse an der Regierungskundgebung teil. Auch erschienen die Reaktionen von Iwanischwili und weiteren Regierungsmitgliedern auf den Wahlsieg nicht freudig oder erleichtert, sondern einstudiert und abgespult.
Reaktionen - lokal
Das verkündete Wahlergebnis war derart unerwartet, dass es am Wahlabend zunächst überhaupt keine Reaktionen gab. Lediglich die Regierung nahm den vermeintlichen Wahlsieg mit Genugtuung zur Kenntnis. Erst gegen Mitternacht erklärten zwei der vier Oppositionswahlblöcke, dass die Wahl gestohlen sei und sie den Wahlausgang nicht akzeptieren würden. Die lokale Wahlbeobachtungskampagne „Meine Stimme“ sprach von Fälschung in großem Ausmaß und kündigte an, eine Annullierung der Ergebnisse zu verlangen. Hauptvorwürfe waren dabei die Außerkraftsetzung des Verifzierungssystems (Überprüfung der Personaldokumente), eine Verletzung der Markierungsprozeduren (zur Verhinderung einer wiederholten Stimmabgabe) sowie die Behinderung bei der unabhängigen Beobachtung von Wählerausweisung. Hinzu komme, dass zahlreichen Wählern zwei oder mehr Stimmzettel ausgegeben wurden und dass auf vielen Zetteln der Kreis für die Regierungspartei bereits vormarkiert war. Unklar bleibt dabei jedoch, wie systematisch diese Wahlmanipulationen gewesen sind und wie stark sie sich tatsächlich auf das Wahlergebnis auswirkten. Am Sonntag erklärte dann auch die georgische Präsidentin, sie erkenne das offizielle Wahlergebnis nicht an, das eine „totale Fälschung“ sei. Sie sprach erstmals den Verdacht aus, dass es sich bei der Manipulation um eine „russische Spezialoperation“ gehandelt habe. Für Montag, den 28. Oktober rief sie zu einer Großdemonstration vor dem Parlament auf.
Reaktionen – international
Bezeichnend ist, dass die ersten Gratulationen zum Wahlsieg des Georgischen Traums aus Russland kamen, u.a. von Putins Chefideologen Alexander Dugin. Wenig überraschend zudem, dass Viktor Orban sich hier einreihte und Anfang der Woche sogar den Weggefährten des Georgischen Traums zur Unterstützung eilte. Weitere Gratulationen aus Europa blieben aus. Ganz im Gegenteil stellen zahlreiche Europaparlamentsabgeordnete oder Vertreterinnen von EU-Mitgliedsstaaten die Legitimität der Wahlen in Georgien offen in Frage. Wie viele andere Stimmen nahm der norwegische Außenminister Bezug auf die Stellungnahme der OSZE- Wahlbeobachtungskommission vom Sonntagnachmittag, die ein sehr kritisches Fazit der Wahlen zog. Hervorgehoben wurde die tiefe Polarisierung der Medien wie des politischen Diskurses in Georgien sowie ein Wahlkampf, der von Hassrede und aggressiven Anschuldigungen geprägt war. Weiter wurden die in den letzten Monaten verabschiedeten anti-demokratischen Gesetzespakete kritisiert, die einen negativen Einfluss auf den Wahlkampf hatten, die asymmetrischen finanziellen Ressourcen, die den Parteiblöcken zur Verfügung standen, die intransparente Besetzung der Wahlkommission sowie – mit unmittelbarem Bezug auf den Wahlablauf – Druck auf Wählerinnen und Wähler, Stimmenkauf, Verletzung des Wahlgeheimnisses sowie einzelne Fälle von Gewalt. Positiv stellt der Bericht fest, dass es eine sehr aktive lokale Wahlbeobachtung gab, ein hohes Engagement der Wählerinnen und Wähler und dass die Wahlen technisch gut organisiert waren. Andere internationale Beobachtergruppen wie die der Parlamentarischen Versammlungen des Europarates oder der NATO schlossen sich der Einschätzung an und erklärten, man werde nun genau beobachten, ob sich die gravierenden demokratischen Rückschritte, die in Georgien in den letzten Monaten zu beobachten waren, fortsetzen werden.
Wahlwiederholung
Anders als es der Georgische Traum am Montag erklärte, gibt es keine internationale Bestätigung, dass die Parlamentswahlen fair, frei und demokratisch verlaufen sind. Die Opposition ist nun gefragt, Beweise zu erbringen, dass die Wahlen systematisch und im großen Umfang gefälscht wurde. Dabei geht es um etwa 250.000 Stimmen, die das Ergebnis des Georgischen Traums über den Zahlen der Exit Polls liegt. Solange dieser Verdacht im Raum steht, kann Europa die Wahlen nicht anerkennen. Sollte sich der Verdacht erhärten und Beweise erbracht werden, wäre die Forderung der Opposition zu unterstützen, Neuwahlen abzuhalten, die von neutralen internationalen Akteuren zu organisieren bzw. zu verwalten wären. Auch hier ist Europa gefragt.