Comptes-rendus d'événement
mit Marianne Spier-Donati und Olga Tarcali (Paris)
Rückkehr nach Erfurt – für Marianne Spier-Donati war es keine Rückkehr in irgendeine Stadt, wo sie einmal einen Urlaub, einen Studienaufenthalt oder einen Kurzbesuch verbracht hat. Die heute in Paris lebende Frau begegnete jener Stadt wieder, in der sie 1930 als Tochter des Schuhfabrikanten Carl Spier und der Journalistin Dr. Hilde Spier geboren wurde. Die Spiers waren „normale“ Bürger der thüringischen Großstadt, doch ab 1933 hatten sie einen Makel, weswegen sie ihre Heimat verlassen mussten: Die Familie war jüdisch, zwar assimiliert und nicht-religiös, aber jüdisch in einem rassischen Sinne, wie ihn die Nationalsozialisten in ihren Menschen verachtenden Nürnberger Gesetzen des Jahres 1935 deklarierten. Für eine jüdische Familie wie die Spiers gab es unter Hitlers Diktatur keine Chance auf Geborgenheit in der Gesellschaft – es gab nur eine Überlebenschance: die Flucht ins Ausland.
Zusammen mit ihrer Familie floh Marianne Spier 1935 nach Brüssel, wo sie und ihr jüngerer Bruder Rolf eine relativ entspannte Kindheit genossen, doch gab es 1940 den nächsten Schlag: Nachdem die Wehrmacht Belgien überfiel, galten Spiers erneut als Feinde, diesmal aber als „Deutsche“. Dass sie als Juden unter Verfolgung durch die Nationalsozialisten litten, interessierte in Belgien nicht – die Familie musste auch ihre Wahlheimat verlassen. Auch in Frankreich, dem nächsten Land ihrer Flucht, galten sie als Deutsche, weshalb sie – der Vater von Frau und Kindern getrennt – eine Internierung in den Ausländerlagern von Gurs (Südwest-Frankreich) bzw. Saint-Cyprien erfuhren.
Erst 1942 kam die Familie frei, lebte nun für kurze Zeit in Cap d’Ail an der Côte d’Azur. Frau Spier-Donati berichtete über diese wenigen Monate der Freiheit, vor allem über die italienische Besatzung im Südosten Frankreichs. Schließlich waren die Italiener – obwohl Anhänger des mit Hitler verbündeten faschistischen Diktators Mussolini – keine Feinde der Juden, retteten sie in vielen Fällen sogar vor der SS und ihren französischen Verbündeten des Vichy-Regimes. Kollaborierende Vichy-Polizisten waren es schließlich, die der Idylle von Cap d’Ail ein jähes Ende bereiteten: Am 16. August 1942 verhafteten sie die Spiers und brachten sie in einer Kaserne in Nizza unter.
Wie Marianne nach dem Krieg erfuhr, haben sie und Rolf nur dem Mut eines couragierten Beamten die Rettung vor der sicheren Deportation zu verdanken, denn dieser Polizist riet den Eltern, sich von den Kindern zu trennen. Die Eltern täuschten Erkrankungen vor, mussten ins Hospital und die Kinder zurücklassen. Wenige Tage später tauchte Angelo Donati in Nizza auf, ein italienisch-jüdischer Diplomat, an den sich Frau Spier mit Bitte um Hilfe gewandt hatte. Die beiden Kinder fassten Vertrauen zu dem fremden Mann und kamen so frei, wurden nach dem Krieg auch von ihm adoptiert. Für die Eltern indes bedeutete die Deportation nach Osten der Weg in den Tod: Von Dr. Hilde Spier verläuft sich die Spur in Auschwitz, wo sie offenbar gleich nach der Ankunft in die Gaskammer geschickt wurde, denn es gibt von ihr keine Registratur. Carl Spier überlebte bis kurz vor Kriegsende, denn die Nationalsozialisten holten ihn aus dem Transportzug und schickten ihn in eine Schuhfabrik für Soldatenstiefel. Vor der heran nahenden Roten Armee schickten die Aufseher den größten Teil des Lagers auf einen Todesmarsch nach Buchenwald, den Mariannes Vater nicht überlebte.
In bewegenden Worten berichtete Marianne Spier-Donati über ihre und ihres Bruders Rettung, aber auch über die Angst um die Eltern, schließlich über die Gewissheit, einander niemals wiedersehen zu können, ja nicht einmal eine Grabstelle zu haben, an denen sie um Vater und Mutter trauern könne. Die beiden letzten Kriegsjahre lebten die beiden Kinder im winzigen italienischen Bergdorf Creppo, wo Donatis Butler herstammte. In dessen Familie fanden die beiden Unterschlupf, gaben sich als italienische Kinder aus und überlebten so auch die Racheaktionen deutscher Soldaten an Partisanen, die in den Bergen agierten. Frau Spier-Donati erzählte auch über ihre Angst um die Partisanen, denn sie schrieb deren richtige Namen in ein Tagebuch, dessen Auffindung den sicheren Tod der Widerstandskämpfer bedeutet hätte. Und es ging ihr nicht um das eigene Leben, sondern um die mögliche Verantwortung für den Tod anderer – nur durch eigenen Leichtsinn.
Nach dem Krieg gingen Marianne und Rolf mit Angelo Donati nach Paris, wo sie bis heute leben. Kurz nach dem Krieg begegnete die junge Frau Olga Tarcali, die zur besten Freundin wurde, und sprach mit ihr oft über die tragische Flucht sowie den Verlust der Eltern. Doch ein Land betraten weder Marianne noch ihr Bruder jemals wieder – Deutschland. Umso größer war die Überraschung, als 1999 in Paris ein Brief des Oberbürgermeisters von Erfurt ankam, der die Spier-Donatis in ihre Geburtsstadt einlud. Während Rolf diese Einladung abschlug, reiste seine Schwester zusammen mit der Freundin Frau Tarcali in Thüringens Landeshauptstadt, erlebte dort Eindrücke, wie sie in ähnlicher Form wenige Monate vorher aufkamen, als in Creppo Donatis Butler die Yad-Vashem-Auszeichnung „Gerechter der Völker“ erhielt, weil er als Nicht-Jude jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten rettete.
In Erfurt waren Spier-Donati und Tarcali mehr als überrascht von der Warmherzigkeit jener Menschen, denen sie begegneten. Stets hatten die beiden Frauen Skepsis im Hinterkopf, vor allem beim Anblick älterer Menschen stellt sich ihnen oft die Frage „Was hat er getan, was hat er gesehen, was hat er gewusst?“ Doch der erste Besuch in Erfurt 1999 war für Marianne Spier-Donati eine Aussöhnung mit der Vergangenheit; in ihr wuchs das Bewusstsein, in einem neuen Deutschland zu Besuch zu sein. Erdrückt von den Erlebnissen gab es für Olga Tarcali nach der Rückkehr nach Frankreich nur einen Entschluss: Diese Geschichte musste festgehalten werden. Und so schrieb sie die Überlebensgeschichte ihrer Freundin Marianne Spier-Donati sowie die Wiederbegegnung mit Erfurt nieder. Mit der Lesung aus dem Buch „Rückkehr nach Erfurt“ waren die beiden Frauen erneut nach Thüringen zurückgekehrt und werden es – auch angesichts des Publikumsinteresses und der neu gewonnenen Freundschaften – wohl noch oft wiederholen.
Olga Tarcali verfasste die (Über-)Lebensgeschichte ihrer Freundin Marianne Spier-Donati zunächst auf Französisch. 2001 erschien in Erfurt, dem Geburtsort Frau Spier-Donatis, die deutsche Übersetzung. Die italienische Übersetzung wird im Januar 2004 in Creppo publiziert, jenem italienischen Bergdorf, wo die Geschwister Spier vor den Nationalsozialisten versteckt wurden.