Die Veranstaltung „Das verlorene Ich – Zeitzeugengespräch mit Eva Stocker“ des Politischen Bildungsforums Thüringen der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fand im Rahmen der 27. Thüringer Tage der jüdisch-israelischen Kultur in Kooperation mit dem Förderverein für jüdisch-israelische Kultur in Thüringen am 13. November 2019 im Schloss Heidecksburg in Rudolstadt statt. Das Publikum hatte im Zuge der Veranstaltung die Möglichkeit, schon vor der Premiere im Januar 2020, einen Ausschnitt aus Evas kommendem Dokumentarfilm anzuschauen. Anschließend moderierte die freie Moderatorin Blanka Weber das Gespräch zwischen dem Publikum und der Regisseurin. Nach einer Begrüßungsrede des wissenschaftlichen Mitarbeiters des Politischen Bildungsforums Thüringen der KAS, Steven Bickel, erzählte Eva den Zuschauern von ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie sprach von ihrer unglücklichen Kindheit bei Adoptiveltern und darüber, dass sie als Jugendliche einen Schuhkarton in dem Haus ihrer Adoptiveltern fand, in dem ein Zettel mit den Namen ihrer Eltern, ihrem Geburtsort Košice und einer Erklärung auf den Verzicht elterlicher Rechte lag. Erst als sie 18 Jahre alt war, konnte Eva weitere Nachforschungen über ihre Herkunft anstellen. Sie konnte jedoch nicht viel mehr herausfinden. Das Trauma ihrer Kindheit spiegelte sich in ihrer panischen Angst vor Zügen, die sie als Kind plagten, und darin, dass sie auch heute noch ungern mit dem Zug fährt.
Nachdem Eva ihre Geschichte mit dem Publikum geteilt hatte, wurde der erste Teil ihres Filmes gezeigt. Darin wechseln sich historische Informationen und Aufzeichnungen mit Interviews von Auschwitz-Überlebenden – u.a. Anita Lasker-Wallfisch, Esther Bejarano und Eduard Kornfeld – über ihre schrecklichen Erinnerungen von dem Konzentrationslager ab. Während der erste Teil der Dokumentation sich als eine epische Erzählung über den Holocaust durch 19 Überlebende versteht, handelt der zweite Teil des Films davon, wie die Überlebenden nach dem Krieg weiterleben konnten und wie sie mühevoll ihre Lebensfreude wiederfanden.
Nach dem Filmausschnitt begann das Publikum Fragen an Eva Stocker zu stellen. Die erste Frage handelte davon, ob es schwer für die Überlebenden sei über die Geschehnisse des Holocausts zu sprechen. Laut Eva, gab es sehr wenige Überlebende, die direkt nach der Befreiung ihre Erinnerungen niederschrieben. Die meisten von ihnen hätten nicht darüber reden können; es war keine Seltenheit, dass ihre Kinder nicht einmal wussten, dass sie jüdischer Abstammung seien. Oft gewann erst nach 30, 40 oder 50 Jahren ein innerer Drang, die Welt nicht verlassen zu können ohne über ihre Geschichte zu sprechen, die Überhand und brachte die Überlebenden dazu über ihre Erfahrung des Holocausts zu berichten. Eva betonte auch nachdrücklich, dass keiner von den Überlebenden, mit denen sie sprach, Hass oder Rachegefühle verspürte. Eva wurde auch gefragt, ob die Überlebenden noch an Gott glauben konnten. Sie meinte, dass viele von ihnen dazu nicht mehr in der Lage waren, weil eine Frage sie nicht losließ: Wo war der Gott als diese Gräueltaten begangen wurden? Allerdings, gäbe es auch einige Überlebende, die an ihrem Glauben festhielten, da er ihnen während und nach dem Holocaust als Anker diente. Eva selbst hat großen Respekt vor den Menschen, die ihren Glauben behielten, und liebt es in die Kirche zu gehen. Nicht weil sie an Gott glaubt, sondern weil sie Kirchenbesuche als Mahnungen wahrnimmt, einander nicht wehzutun. Auf Nachfrage aus dem Publikum erzählte Eva, wie die meisten Überlebenden nach dem Krieg begannen ihr Leben wieder aufzubauen und welche Hindernisse ihnen dabei oft in den Weg gelegt wurden. Sie erzählte, dass der erste Gedanke von den oft sehr jungen Überlebenden war, zurück in die Schule zu gehen und sich zu bilden. Sofern sie nicht auswanderten und zu ihren Häusern von vor dem Krieg zurückkehrten, fanden die Überlebenden oftmals nur noch geplünderte Heime vor. Ein Zeitzeuge erzählte, wie die Mutter mit polizeilicher Unterstützung nach dem Krieg von Haus zu Haus in ihrer Nachbarschaft ging um ihre gestohlenen Habseligkeiten wiederzubekommen. Wie diese Erfahrung vermuten lässt, war die NS-Ideologie nach Ende des Krieges nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Zurückgekehrte Juden wurden geächtet und für das eigene schlechte Gewissen verantwortlich gemacht. Auch Widerstandskämpfer wurden nach dem Krieg für lange Zeit noch als Verräter angesehen. Von daher, meint Eva, versteht sie diejenigen Überlebenden des Holocausts, die nach Israel oder in die USA ausgewandert waren und mit Deutschland und dem deutschen Volk nie wieder etwas zu tun haben wollten.
Während der Veranstaltung und insbesondere der Fragestunde, betonte Eva immer wieder, wie wichtig ihr und anderen Holocaust Überlebenden, z.B. Anita Lasker-Wallfisch, die Begegnung mit Jugendlichen sei. Sie wollen mit ihnen über den Holocaust, Toleranz und friedliches Zusammenleben reden. Beide sind deswegen oft in Schulen zu Gast um Schülern die deutsche Geschichte näherzubringen und gegen Intoleranz und Mobbing anzukämpfen. Evas Botschaft an die Schulklasse, die bei der Veranstaltung im Schloss Heidecksburg anwesend war und an junge Menschen generell, lautet: „Bitte hasst euch nicht mehr!“. Junge Menschen sollen lieber nach Gemeinsamkeiten miteinander suchen und erkennen, dass sie viel mehr verbindet als sie unterscheidet. Abschließend erzählt Eva noch, dass sie während der Dreharbeiten für ihren Film nie bei den Erzählungen über die Gräueltaten des Holocausts geweint habe. Aber als sie der über 90-jährige Überlebende, Esther Bejarano, zu ihrem Geburtstag beim tanzen und singen und glücklich sein zusah, kamen ihr die Tränen. Und zwar vor Freude – Freude über das Leben danach, das zweite Kapitel und den Teil des Lebens, den die Holocaust Überlebenden selbst gestalten und genießen konnten.