Außen- und geopolitische Implikationen
Polen nimmt den „Kriegsausbruch“ vom 24. Februar 2022 primär als Intensivierung eines im Jahre 2014 begonnenen Konflikts wahr. Über diese Intensivierung zeigten sich – anders als in Deutschland – weite Teile der polnischen Öffentlichkeit sowie politischen und gesellschaftlichen Eliten wenig überrascht. Es war die polnische Regierung, die bereits Ende 2021 in einer diplomatischen Offensive ihren europäischen und transatlantischen Partnern zu vermitteln versuchte, dass ein militärischer Konflikt unmittelbar bevorstehe.
Für den polnischen Staat ist diese Bedrohungslage sehr konkret. Durch seine geographische Lage sieht sich Polen als Frontstaat in unmittelbarer Nähe zum Konfliktgeschehen – und damit in seiner Souveränität und Unabhängigkeit bedroht. Weiterhin wird eine Ausweitung des Konflikts auf das eigene Territorium befürchtet.
Verlassen muss sich Polen hierbei insbesondere auf die Beistandsverpflichtungen seiner westlichen Alliierten. Diese Hoffnung stützt sich in erster Linie auf eine Unterstützung aus den USA. Trotz der starken Polarisierung der polnischen Gesellschaft sprechen sich quasi alle politischen Lager für eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Washington aus. Gerade aus US-amerikanischer Sicht scheint es derzeit zu einer massiven Aufwertung Polens zu kommen. So besuchte US-Präsident Biden Polen innerhalb der letzten 12 Monate bereits zum zweiten Mal. In einigen US-Think Tanks wird Polen bereits als neues geopolitisches Gravitationszentrum in Europa angesehen.
Die Beziehungen und insbesondere auch das Vertrauen gegenüber Deutschland haben sich unterdessen verschlechtert. Über Parteigrenzen hinweg wird die deutsche Ostpolitik, d.h. die Energie-, Russland und Ukrainepolitik der letzten Jahrzehnte scharf kritisiert. Das Regierungslager spricht sogar davon, Deutschland habe das finanzielle Fundament für einen Angriff auf die Ukraine geschaffen. Deutschland wird als Bremser wahrgenommen, der eine schnelle und ausreichende Waffenlieferung an die Ukraine eher erschwert als vorantreibt. Eine Differenzierung zwischen der Ampelkoalition und den Oppositionsparteien finden hierbei so gut wie nicht statt. Schaut man auf die absoluten Zahlen zur europäischen Ukraine-Unterstützung spielt Berlin eine bedeutsame Rolle, jenseits von Fakten nutzt die polnische Regierung das Thema für den beginnenden Wahlkampf. Ob Deutschland seinen Bündnispflichten im Ernstfall nachkäme, wird erhofft. Dass Außenministerin Bärbock dies während ihres Warschau-Besuchs im Oktober 2022 explizit betonen musste, zeigt die Verunsicherung in Mittel- und Osteuropa.
Vertrauen hat Polen aber vor allem in die eigene militärische Abschreckung, die in Zukunft massiv ausgebaut werden soll. In Folge des Ukraine-Krieges soll der Verteidigungshaushalt in den kommenden Jahren auf vier Prozent des BIP angehoben werden (2022: 2,4 Prozent). Dabei soll es insbesondere zu Rüstungskäufen bei außereuropäischen Partnern kommen. Von der US-amerikanischen wie auch der südkoreanischen Rüstungsindustrie sollen moderne Kampfjets (u.a. F-16) bezogen werden. Insbesondere bei Kampfpanzern will die polnische Regierung zukünftig auf Distanz zu Deutschland gehen. Neben seinen aus deutscher Produktion stammenden Leopard-Panzern ordert Warschau von den USA 250 Abrams und von den Koreanern 1000 K2-Panzer. Da die Zunahme der Rüstungsimporte auf Kosten der heimischen Produktion geht, soll die Hälfte der koreanischen Panzer in Polen produziert werden. Schon jetzt stellt Polen laut Global Firepower Index die zwanziggrößte Militärmacht dar. Damit ist Polen Eckpfeiler der NATO-Ostflanke, wodurch auch der militärische Einfluss Polens weiter wachsen wird.
Neben der eigenen auf Jahre ausgelegten Aufrüstung der polnischen Streitkräfte ist Polen für die Ukraine gleichzeitig einer der größten militärischen Geberländer. Hierzu zählen vor allem über 300 polnische Kampfpanzer, darunter 260 T-72 sowie 50 PT-91. Hinzu kommen weitere 300 kleinere Schützenpanzer. MiG-29-Kampflugzeuge könnte Polen im Verbund mit anderen westlichen Staaten liefern. Es handelt sich hierbei insbesondere um (teilweise modernisierte) Waffentechnologie sowjetischer Bauart, die bereits in der Ukraine genutzt werden. Auch hatte Polen sich bereit erklärt, Leopard-2-Panzer an die Ukraine zu übergeben, dies scheitert derzeit jedoch noch am technischen Zustand der Geräte. Neben den eigenen Lieferungen stellt Polen weiterhin den größten Hub für westliche Waffenlieferung an die Ukraine dar. 80 Prozent der militärischen Geräte erreichen die Ukraine aus seinem westlichen Nachbarland. Es ist davon auszugehen, dass Polen beim Wiederaufbau ukrainischer Städte und Infrastruktur eine zentrale Rolle spielen wird.
Innenpolitische Situation
Die geographische Lage hat neben seinen außen- und geopolitischen Implikationen selbstverständlich auch einen großen Einfluss auf die polnische Innenpolitik. Dies betrifft in erster Linie den Flüchtlingsstrom aus der Ukraine. So überschritten seit Februar 2022 fast 10 Millionen Menschen die polnisch-ukrainische Grenzen. Polen, vor allem seine grenznahen Städte, aber auch die Hauptstadt Warschau, wurden zum Drehkreuz für den Flüchtlingsstrom. In vielen polnischen Städten erhöhte sich die Einwohnerzahl binnen weniger Tage und Wochen um ein Vielfaches. So hatte Warschau im April 2022 einen Flüchtlingsanteil von fast 20 Prozent. Hier ruhte die Integration dieser Schutzsuchenden insbesondere auf der polnischen Zivilgesellschaft, die in einem beispiellosen Akt oftmals spontan (anfänglich unkoordiniert) für Versorgung und Unterkunft sorgte. Damit hat Polen so viel humanitäre Hilfe wie kein anderes europäisches Land geleistet – anders als während der Flüchtlingskrise 2015 und 2021/22. Insbesondere die Kommunen bemängelten jedoch wiederholt eine fehlende Koordinierung durch die polnische Regierung. Diese regierte nach einigen Wochen mit einem Sondergesetz über die Flüchtlinge, welches den Ukrainern sowohl einen Zugang zu den Sozialsystemen als auch dem polnischen Arbeitsmarkt ermöglicht. In seiner Folge wurde fast eine Million ukrainische Erwerbstätige in den Arbeitsmarkt integriert. Ukrainer haben vollen Zugang zum Gesundheits- und Schulsystem.
Neben dem vor einem Jahr einsetzenden Flüchtlingsstrom kommen weitere eine Million ukrainische Staatsbürger hinzu, die bereits zuvor (hauptsächlich aus Erwerbsgründen) nach Polen immigriert sind. Obschon nicht alle Ukrainer in Polen bleiben werden, steht Polen vor der großen Aufgabe, diese Flüchtlinge in die polnische Gesellschaft zu integrieren. Vielfach kommt es hier zu einer Vermischung von Flüchtlingshilfe und Integration. Es stellt sich die Frage, ob es für einen Großteil der Ukrainer attraktiver sein könnte, nach dem Kriegsende in Polen zu bleiben, anstatt in die vom Krieg zerstörte Ukraine zurückzukehren. In Folge käme es zu einem Brain-Drain und einer Konkurrenzsituation zwischen beiden Volkswirtschaften um Arbeitskräfte. Für die sich derzeit ergebenen ökonomischen Herausforderungen werden nicht die ukrainischen Flüchtlinge, sondern Kriegstreiber Putin verantwortlich gemacht. Dies trifft auch auf die hohe Inflation in Polen zu (Januar 2023: 17,2 %), Zwar herrscht ebenfalls in Polen, Sorge vor eventuellen negative Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, die polnische Wirtschaftskraft und den Staatshaushalt. Die grundsätzlich positive Haltung der Polen gegenüber den Ukrainern und deren Unterstützung überwiegt jedoch. Nur vereinzelt gibt es Stimmen, die nach einer ebenso starken Unterstützung der eigenen polnischen Bevölkerung rufen.
Die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft stehen damit weiter voll und ganz an der Seite der Ukraine. Unter den ukrainischen Flüchtlingen und Migranten wird diese Unterstützung mit immenser Dankbarkeit angenommen. Zusammen mit wachsendem Einfluss Polens in der Außen- und Sicherheitspolitik führt dies gerade auch zu einer Zeitenwende in den polnisch-ukrainischen Beziehungen, die auch Auswirkungen auf Polens Rolle in Europa haben wird.
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