Was für ein Thema: „Über die Wahrheit“. Was für eine Frage: „Was ist Wahrheit?"(Joh 18,38) Pontius Pilatus antwortete mit dieser Frage auf das Bekenntnis Jesu: "Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege."(Joh 18,37) Nicht für eine, nicht für seine, sondern für „die Wahrheit“. Papst Johannes Paul II. sagte in seiner Betrachtung am Karfreitag des Jahres 2000 über diesen Pilatus: "Der Mensch, der sich nicht von der Wahrheit leiten lässt, ist sogar bereit, einen Unschuldigen schuldig zu sprechen." Der Mensch, der nicht bereit ist, nach der Wahrheit hinter den Dingen und ihren Begriffen oder Bezeichnungen zu fragen, kann die Bedeutung der Wahrheit in den Dingen und Begriffen leicht verdrängen oder relativieren. Für Pilatus etwa war anderes in Relation wichtiger als die Wahrheit des Lebens eines Unschuldigen.
Da wir in einer Zeit leben, in der Wahrheit an und für sich oft einem Subjektivismus und Relativismus anheim gegeben wird, in der die „Wahrheit“ von Ereignissen und Begriffen, Realitäten und Fakten an Bedeutung zu verlieren scheint und darüber hinaus unterschiedliche kulturelle Wahrheiten aufeinandertreffen, ist dieses Thema von nicht zu unterschätzender gesellschaftspolitscher Relevanz. Zwei unterschiedliche Perspektiven auf Wahrheit versprach die Veranstaltung unter dem Titel „Über die Wahrheit“ mit der Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Muslima Kübra Gümüşay (32) und dem bekannten Philosophen Peter Sloderdijk (73), die im Rahmen des Literaturfestivals LIT:postdam in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung in den Schirrhöfen Potsdam am 6. August 2020 mit rund 120 Teilnehmern durchgeführt wurde. Ausgangspunkte waren das Buch von Gümüşay über „Sprache und Sein“ und das im Oktober erscheinende Buch von Sloterdijk: „Den Himmel zum Sprechen bringen“.
„Eine Kirchentagsrede ohne Kirchentag“
Auch wenn es in beiden Büchern um Sprache geht, werden letztlich zwei unterschiedliche Themen angesprochen. Gümüşay geht es darum, wie Sprache aktuell unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt, wobei sie mehr das Individuelle und Subjektive, das Plurale und Multikulturelle, weniger das Kategoriale hervorhebt, was Wahrheit zu einer Frage der Perspektive werden lässt, etwas eben nicht Absolutes. Gekleidet in ein hochgeschlossenes knöchellanges schwarzes Kleid mit einem lila Hidschab um den Kopf, der nur das freundlich zugwandte Gesicht offen lässt, liegt die Frage nahe, wie diese Relativität und Subjektivität mit dem absoluten Wahrheitsanspruch islamischer Religion zu vereinbaren ist; eine Frage die allerdings an diesem Abend nicht gestellt und nicht beantwortet wurde. Stattdessen trug die junge Frau in sehr sympathischer Weise aus ihrem Buch vor, in welchem sie ihre neu gewonnen Erkenntnisse darlegt, als sei die Sprachphilosophie gerade erst erfunden worden und würde das Thema „Sprache und Macht“ in der Politikwissenschaft ein Schattendasein führen. Es mag wohl daran gelegen haben, dass bei dieser Lesung nicht eine tiefere Reflexion auf die Dichotomie von Sprache und Sein, Sein und Sprache zu Tage trat, die das Vorgelesene über die aktuelle Alltäglichkeit hinausgehoben hätte, dass der anwesende Journalist Andreas Kilb von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der wiederum kategorialen Einordnung kam, Gümüşay hätte „eine Kirchentagsrede ohne Kirchentag“ gehalten (FAZ vom 8.8.2020, S. 9).
Schön anzuhören, aber zeitlich zu lang, schlossen sich an die Lesung von Kübra Gümüşay und ein kurzes Gespräch mit der Moderatorin und Fernseh-Journalistin Dilek Üsük (41) die aphoristischen Anmerkungen Sloterdijks zu seinem neuen Werk an: „Den Himmel zum Sprechen bringen - Elemente der Theopoesie“; ein Thema, das auf den ersten Blick völlig außerhalb der Aktualität angesiedelt zu sein scheint. Worum geht es? Während die Theologie die Rede und Lehre von Gott ist, ist die Theopoesie gerade eine Reflexion darauf, wie von dem sprachlich Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, vielleicht etwas Stilles, ähnlich wie von einem Gedicht, etwas Melodisches, wie von einem Gesang, etwas Jenseitiges, Mystisches, wie von einer Liturgie, die uns an Gott „zurückbindet“ (religiare/Religion), also eine Wirkung, die gerade eine über die Alltagssprache hinausgehende Dimension sprachlich anklingen lässt.
Leider wurde das in den lose aneinandergereihten Bemerkungen des Philosophen über den „deus ex machina“ in der griechischen Tragödie, über Sprache und Sprechgesang bis hin zu den Toten, zur Religion und zum Internet unter der Hitze der frühabendlichen Sonne Potsdams und ob der Kürze der verbliebenen Zeit nur angedeutet. Und weil es an dem Abend mit „Himmel“ und „Gesellschaft“ um zwei recht verschiedene Sphären und Perspektiven von Sein und Sprache handelte, ging das Gespräch doch eher aneinander vorbei. So ging Sloterdejk nur einmal auf einen der von Gümüşay herangezogenen populären Begriffe ein: auf den des negativ konnotierten „Gutmenschen“. Er erinnerte daran, dass es beim Aufkommen dieses Begriffes weniger um die Frage konkreter Hilfsleistungen oder nicht gegangen sei, was eine oberflächliche Betrachtung nahe legen könnte, sondern um einen Eindruck, dass Menschen moralisch etwas einforderten, was sie selber aber nicht zu gewährleisten bereit waren und dessen Konsequenzen sie weniger interessierte, was zu dieser polemischen Begriffsbildung geführt habe.
Befreiung der Religion?
Gemeinsamen Gesprächsstoff hätte es zu beiden Themen mehr als genug gegeben. Etwa darüber, wie andersherum auch das persönliche, gesellschaftliche und religiöse Sein die Sprache prägt. Und was denn die Kernthese Sloterdijks von der endgültigen „Befreiung der Religion zur Funktionslosigkeit“ für eine Gesellschaft von Christen und Juden, Agnostikern und Muslimen bedeutet, zumal wenn Religion nicht gleichermaßen „funktionslos“ geworden ist.
Aus religiöser Sicht wirft Sloterdijks Buch darüber hinaus gleich mehrere grundlegende Fragen auf. Zunächst: Kann man überhaupt sinnvoll Theopoesie betreiben ohne theologische Grundbegriffe? Das scheint wie eine Ästhetik des Autos zu sein, ohne die Mechanik zu berücksichtigen, bei der es am Ende gar nicht darauf ankommt, ob das Auto auch fährt, was immerhin der eigentliche Zweck eines Fahrzeuges ist. Sodann: Sind Religionen wirklich bloß „literarische Produkte“, quasi eine Projektion des Menschen, wie in der Religionskritik Feuerbachs, oder sind nicht doch vielleicht die religiösen literarischen Produkte ein Ausfluss existenzieller religiöser Erfahrungen, mithin religiöser Realitäten? Weiterhin: Verwirklicht sich die Identität von Religion tatsächlich darin, „auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten“ mit anderen zu konkurrieren, wie Sloterdijk laut dem Vorstellungstext seines Buches meint, oder nicht doch vielmehr in einem zeitgemäßen Gottesdienst, der mehr den Himmel und den konkreten Menschen als den Markt im Blick hat? Schließlich und vor allem: Behalten nicht Religion und Kirche auch nach ihrer Befreiung von anderen gesellschaftspolitischen Funktionen selbstverständlicher Weise ihre Grundfunktionen, nämlich Liturgia (Gottesdienst/Anbetung/Gedächtnis), Martyria (Bekenntnis), Diakonia (Dienst am Mitmenschen) in der Nachfolge Jesu? Und gewönne nicht die so befreite Religion neuen gesellschaftlichen Spielraum für das heilige, nicht zweckgebundene „Spiel vor Gott“, von dem Romano Guardini schon gesprochen hat, als Gegenüber zur Zweckrationalisierung von Mensch und Welt?
Der Ernstfall des Himmels
Ob Sloterdijk in seinen „Elementen einer Theopoesie“ auf derartige Fragen tatsächlich eingeht, wurde bei seinem gelehrten Plaudern über den Himmel, der zum Sprechen gebracht wird, nicht deutlich. Denn als der Gedankengang interessant zu werden begann und Fragen zu klären gewesen wären, war die Veranstaltungszeit bereits vorüber. Leider Gottes! Denn der Himmel ist alles andere als harmlos. Der existenzielle Ernstfall des Himmels klingt theopoethisch-spirituell zum Beispiel in den Versen des protestantischen Märtyrers Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1946) an, die in einem Lied der ökumenischen Bruderschaft von Taizé in Burgund vertont wurden:
„Gott, laß meine Gedanken sich sammeln zu dir.
Bei dir ist das Licht, du vergißt mich nicht.
Bei dir ist die Hilfe, bei dir ist die Geduld.
Ich verstehe deine Wege nicht,
Aber du weißt den Weg für mich.“
Letztendlich ist es aber auch wieder nicht sonderlich überraschend, dass solch grundlegende Fragen, wie die des Anklingens des Himmlischen in unserer Welt und Zeit und die des sprachlichen Ausdrucks des Seins, über die bereits seit gut 2.500 Jahren so intensiv nachgedacht wird, sich nicht in knappen anderthalb Stunden beantworten ließen. Wenn ein Abend jedoch zu solchen Fragen inspiriert, dann darf man ihn als anregend bewerten, öffnet er doch weitere Horizonte für ein Nachdenken.
fornito da
Politisches Bildungsforum Brandenburg
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