„Immer wieder geht die Sonne auf“ – während Udo Jürgens mit diesem Lied Ende der 1960er Jahre auf Tournee ging, studierte Mario Draghi Wirtschaftswissenschaften an der römischen Universität „La Sapienza“. Nach einer Doktorarbeit in Boston wurde er mit 34 Jahren Professor für Währungspolitik in Florenz. 1984 wechselte er als Exekutivdirektor zur Weltbank. Später folgten Stationen als Generaldirektor im italienischen Finanzministerium (1991-2001), Vizepräsident der Investmentbank Goldman Sachs (2002-2005) und Gouverneur der Banca d’Italia (2005-2011), bevor er 2011 Präsident der EZB wurde. Diese Position machte ihn auch in Deutschland berühmt. Sein gern zitierter Satz, die EZB werde tun, "whatever it takes“, um den Euro zu retten, sorgte im Sommer 2012, mitten in der Schuldenkrise, für Kritik. Der gelungene Erhalt der Gemeinschaftswährung war aber sein Meisterstück: „Du hast den Euro durch unruhige See navigiert", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei seinem Abschied von der EZB im Oktober 2019.
Jetzt muss der neue Premierminister ein weiteres Meisterstück vollbringen: ein gemeinsames Regierungsbündnis von der Anti-Establishment-Bewegung der Fünf Sterne, dem sozialliberalen Partito Democratico (PD), der Linkspartei LeU, Matteo Renzis „Italia Viva“, Silvio Berlusconis „Forza Italia“ bis hin zur rechtspopulistischen Lega. Nur die nationalkonservativen „Fratelli d’Italia“ haben sich für die Opposition entschieden und damit zum Bruch mit dem bisherigen Bündnis der rechten Oppositionsparteien Lega und „Forza Italia“.
Bis vor wenigen Wochen wollte der PD niemals mit der Lega, die Fünf Sterne nie mehr mit Renzi und die Linken noch nie mit Berlusconi. Jetzt wollen alle – bis auf „Fratelli d’Italia“ – mit Mario Draghi regieren. Mit dieser fast uneingeschränkten politischen Elastizität hatte vor kurzem noch niemand gerechnet.
Wenn ein Traum sich nicht erfüllt
Rückblick: Regierungssturz in Zeitlupe
Italien zählt seit dem 13. Februar 2021 die 67. Nachkriegsregierung – im Schnitt vollzieht sich alle 13 Monate ein Regierungswechsel. Die zweite Regierung unter der Führung von Giuseppe Conte war bis zum Sturz im Januar 2021 bereits über 16 Monate im Amt.
In der ersten Welle der Corona-Pandemie, die Italien im Frühjahr 2020 mit voller Wucht getroffen hatte, bewährte sich die erst ein halbes Jahr zuvor gebildete Regierung. Premierminister Contes besonnene und klare Art kam in der Krise bei den Italienern gut an. Seine Beliebtheitswerte lagen im Sommer 2020 bei über 60 Prozent, zum Jahreswechsel 2020/21 noch klar über 50 Prozent.
Nach dem harten Lockdown vom Frühjahr trat für die Bevölkerung eine gewisse Entspannung ein. Glaubt man Contes Vor-Vorgänger Matteo Renzi, so galt dies auch für die Regierungsarbeit. Der Sommer, so Renzi, sei nicht ausreichend genutzt worden, um Italien gegen die zweite Pandemiewelle zu wappnen, die Experten für den Herbst 2020 vorausgesagt hatten.
Renzi und seine Anhänger kritisierten bereits im Herbst immer lauter die Pläne der Regierung zur Nutzung der EU-Corona-Hilfen. Zu wenig ehrgeizig, zu wenig visionär seien die vorgelegten Ideen. Neben den tatsächlich recht schwammig formulierten Inhalten spießte Renzi auch die Form auf: Denn Conte plante eine ihm direkt unterstellte, 300-Personen-starke Behörde, die die Verausgabung der Gelder organisieren und kontrollieren sollte. Opposition und Medien witterten dahinter eine Job-Beschaffungsmaschine für Contes Freunde und befürchteten eine Ausschaltung von Parlament und Regierungsverwaltung.
Conte sah sich – getrieben von Renzi – gezwungen, den Recovery Plan immer wieder nachzubessern. So wurde etwa der für den Gesundheitssektor vorgesehene Etat mehr als verdoppelt. Mit seiner Forderung, die zur Verfügung stehenden Gelder aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ebenfalls für die Modernisierung von Krankenhäusern zu nutzen, stieß Renzi auf die klare Ablehnung der Fünf-Sterne-Bewegung, die – das Modell Griechenlands und der „Troika“ vor Augen – eine politische Entmündigung Italiens befürchteten.
Auch wenn Renzis Kritik in der Sache durchaus berechtigt war, wurde sein eigentliches Ziel, Giuseppe Conte als Premierminister abzusetzen, immer deutlicher. Über den Jahreswechsel wurde die Kritik von Renzi immer lauter: Obwohl Conte Renzis Kritikpunkte aufgenommen hatte, drohte dieser jetzt, die Regierungskoalition zu verlassen, wenn weitere Forderungen nicht erfüllt würden.
Wenn die Liebe zu Ende geht
Renzi zieht sich aus der Regierung zurück
Am 13. Januar 2021 zog Matteo Renzi schließlich die beiden Ministerinnen und einen Staatssekretär seiner Partei „Italia Viva“ aus der Regierung ab. Im Rahmen einer Pressekonferenz teilte er mit, dass er die Politik der Regierung als Koalitionspartner nicht mehr mitverantworten könne. Es sei viel schwieriger, sein Amt aufzugeben, anstatt sich an den Status quo zu klammern, so Renzi. Zu diesem Zeitpunkt forderte die Pandemie in Italien täglich rund 500 Tote, die Impfkampagne lief gerade an. Nicht zuletzt aufgrund dieser äußeren Umstände werteten zwei von drei Italienern die von Renzi ausgelöste Krise als unangebracht.
Auch wenn „Italia Viva“ in Umfragen nur bei knapp drei Prozent Zustimmung lag, war die Partei in der Abgeordnetenkammer und im Senat doch ein wichtiger Mehrheitsbeschaffer für das Regierungsbündnis. Premierminister Giuseppe Conte war daher gezwungen, in beiden Parlamentskammern die Vertrauensfrage zu stellen.
In der Abgeordnetenkammer erhielt er eine absolute Mehrheit, im Senat eine relative Mehrheit – dank der Enthaltung der Senatoren von „Italia Viva“. Renzi machte dem taumelnden Conte ein Angebot: Sollte seine Kritik ernst genommen werden, sei „Italia Viva“ bereit, die Regierung weiter zu stützen. Conte ging nicht darauf ein, sondern suchte Parlamentarier, die bereit waren, die Regierungskoalition aus Fünf-Sterne-Bewegung, dem sozialliberalen Partito Democratico und der Linkspartei "Liberi e Uguali" zur absoluten Mehrheit zu verhelfen.
Doch dies wollte Conte nicht gelingen. Ohne „Italia Viva“ hatte die Regierung in wichtigen Ausschüssen (etwa dem Haushaltsausschuss, wo der Recovery-Plan zur Abstimmung steht) keine Mehrheit. Die Verabschiedung wichtiger Entscheidungen war damit blockiert. Conte reichte am 26. Januar seinen Rücktritt ein.
Wenn selbst die Hoffnung nicht mehr besteht
Fünf Sterne und Lega ändern ihren Kurs
Staatspräsident Sergio Mattarella beauftragte daraufhin den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, eine Mehrheit für eine dritte Regierung unter der Führung von Giuseppe Conte zu finden. Doch auch Fico, Mitglied der Fünf-Sterne-Bewegung, scheiterte. Daraufhin beauftragte Mattarella am 3. Februar den 73jährigen Mario Draghi, eine Expertenregierung („governo di alto profilo“) zu bilden.
Umgehend stellte sich ein Draghi-Effekt ein: Weite Teile des gemäßigten politischen Spektrums konnten ihr Glück kaum fassen. Nachdem 2018 die beiden populistischen Parteien Fünf-Sterne-Bewegung und Lega die Mehrheit in beiden Kammern gewonnen und eine Regierungskoalition unter Ausschluss der bislang regierenden Parteien gebildet hatten, kehrten diese nun gleichsam an die Macht zurück. Gut eine Woche lang führte Mario Draghi politische Sondierungsgespräche mit allen im Parlament vertretenen Parteien sowie mit Vertretern der Zivilgesellschaft.
Die politische Kultur Italiens ist geprägt von politischen Grabenkämpfen, gesinnungspolitischem Streit und kategorischem Ausschließen von Bündnissen. Umso erstaunlicher erscheint der Transformationsprozess, der sich derzeit in der Fünf-Sterne-Bewegung und in der Lega vollzieht und durch die künftige Regierungsbeteiligung manifestiert.
Mit der Ankündigung, ein „Ministerium des ökologischen Wandels“ zu gründen, hatte Draghi eine langjährige Forderung der Fünf-Sterne-Bewegung aufgenommen. Deren Gründer Beppe Grillo lobte die Idee dieses „Super-Ministeriums“ vor allem als die seine. Warum die Fünf-Sterne-Bewegung in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht selbst ein solches Ministerium geschaffen hatte, bleibt dahingestellt.
Neben Grillo forderten auch der scheidende Premierminister Giuseppe Conte und Außenminister Luigi di Maio ihre Anhänger auf, im Rahmen eines Online-Votums für eine Regierungsbeteiligung unter Mario Draghi zu stimmen. Knapp 60 Prozent der 74.537 Fünf-Sterne-Mitglieder, die sich an dieser Abstimmung beteiligten, waren letztlich dafür. Die Gegner einer Regierung Draghi sehen nun die Fünf-Sterne-Bewegung als Ganzes in Gefahr. Einer ihrer Wortführer, Alessandro Di Battista, verkündete noch am selben Tag seinen Austritt. Ihm sei es unmöglich, unter den gegebenen Umständen weiter in der Bewegung mitzuwirken.
Auch die rechtspopulistische Lega unter der Führung von Matteo Salvini hat sich durch die Verhandlungen mit Mario Draghi einer Wandlung unterzogen. Hatte Salvini noch zu Beginn der Beratungen Neuwahlen gefordert, teilte er nach seinem Gespräch mit Draghi mit, die Lega stünde bei einer Regierungsbildung uneingeschränkt zur Verfügung. Dass Salvini den früheren EZB-Chef 2017 als Erfüllungsgehilfen Brüssels bezeichnet hatte, der die italienische Wirtschaft "massakriere" , spielt nun keine Rolle mehr. Salvini akzeptiert ohne Widersprüche das von Draghi festgelegte europafreundliche Profil der künftigen Regierung.
Diese unerwartete, proeuropäische Wende trägt die Handschrift des Lega-Vizechefs Giancarlo Giorgetti, der seit Monaten daran arbeitet, die Lega aus der rechtspopulistischen Ecke ins gemäßigte, bürgerlich-konservative Lager zu führen. Der Wirtschaftsexperte Giorgetti gilt als Freund Mario Draghis und wird der künftigen Regierung als Wirtschaftsminister angehören.
Der Erfolg hat viele Mütter und Väter – entsprechend nimmt auch der 84jährige Silvio Berlusconi für sich in Anspruch, die künftige Regierung mitgeschaffen zu haben. Wie groß sein Einfluss tatsächlich war, lässt sich nur vermuten. Klar ist aber, dass Berlusconi schon früh auf eine „Regierung der nationalen Einheit“ unter Einschluss von Experten und Politikern möglichst vieler Parteien gedrungen hatte. Auch hat Berlusconi die Begabungen Draghis früh erkannt und diesen in seiner Zeit als Premierminister gefördert.
Vertraue der Zeit
Mario Draghi gelingt die nationale Einheit
So macht der neue Premierminister, der in der Vergangenheit auch außerhalb Italiens als „Super-Mario“ bezeichnet wurde, möglich, was in Italien bis vor wenigen Wochen niemand geglaubt hatte: Die Regierung einer nationalen Einheit, einer breiten parlamentarischen Mehrheit, in der ehemalige Rivalen und fachkundige Reformer das Land mit geeinten Kräften aus der Corona-Krise führen sollen – und das möglichst bis zum Ende der Legislaturperiode 2023.
Sobald Abgeordnetenkammer und Senat der neuen Regierung ihr Vertrauen ausgesprochen haben, wird diese – rechtzeitig zur nächsten Sitzung des Europäischen Rates Ende Februar – im Amt und damit arbeitsfähig sein. Udo Jürgens würde sagen:
Denn immer wieder geht die Sonne auf
Und wieder bringt ein Tag für uns ein Licht.
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