Spanien steht still. Die Verbreitung des Coronavirus lähmt das gesamte öffentliche Leben und die Wirtschaft des Landes. Aufgrund des hohen Ansteckungsrisikos hatte die Regierung am 14. März den Alarmzustand nach Artikel 116 der Verfassung ausgerufen, was europaweit die stärksten Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte und des öffentlichen Lebens zur Folge hatte. Das Verlassen der Wohnung ist seitdem nur erlaubt für den Weg zum Arbeitsplatz (mit schriftlicher Autorisierung des Arbeitgebers), zu Ärzten oder Apotheken und zum befristeten Ausführen von Hunden. Sonstige Bewegungen an der frischen Luft stehen unter Strafe. Die Abgeordnetenkammer hatte am 25. März den Alarmzustand bis zum 11. April bestätigt. Nur vier Tage später, am Sonntag, den 29. März, wurde das Ausgehverbot vom Kabinett noch einmal verschärft. Vorerst bis zum 9. April müssen auch alle Betriebe, die noch arbeiteten, ihre Tätigkeit einstellen. Ministerpräsident Sánchez hat alle Arbeitnehmer aufgefordert zu Hause zu bleiben und ihnen versichert, dass die Löhne weitergezahlt werden. Nur die wirklich lebensnotwendigen Bereiche sind von diesem Bewegungsverbot ausgenommen. Die Regierung hofft, damit die weitere Verbreitung des Virus endlich einzudämmen.
In einer Fernsehansprache am Samstagabend, 28. März, mit der er die Verschärfung des Ausgehverbots ankündigte, verlangte Sánchez eine gemeinsame Anstrengung der Europäischen Union und appellierte in einem eindringlichen Ton an die europäischen Werte: „Die Antwort kann nicht national sein, sie muss europäisch und mit allen Mitteln erfolgen. Im kritischsten Moment der EU seit ihrer Gründung müssen wir alle gemeinsam rudern", sagte er. Er begrüßte zwar die ersten Entscheidungen der Europäischen Zentralbank, betont jedoch gleichzeitig, dass diese unzureichend seien. Er forderte deshalb mit großem Nachdruck die Ausgabe von gemeinsamen Anleihen, die er „Wiederaufbau-Anleihen“ nannte und der beste Mechanismus wären, um den eigenen übermenschlichen Anstrengungen Spaniens und Italiens eine Erleichterung und Schutz zu verschaffen. "Europa steht auf dem Spiel, es kann nicht scheitern, weil selbst die europäischsten Länder und Regierungen, wie Spanien, einen Beweis für echtes Engagement brauchen. Jetzt ist Europa an der Reihe". Sánchez wiederholte damit die Forderung nach Einführung von Eurobonds als Reaktion auf die wirtschaftlichen Folgen der Krise, die die Regierungschefs von Spanien, Frankreich, Italien und sechs weiteren EU-Mitgliedern aus dem Süden der EU bereits beim Europäischen Rat am 26. März erhoben hatten, was aber von den Niederlanden, Deutschland und anderen Ländern des Nordens abgelehnt worden war. Sánchez machte in seiner Rede deutlich, dass für die spanische Regierung ein wichtiger Teil der Krisenbewältigung in die Verantwortung der Europäischen Union fällt. Das entspricht sicherlich einer realistischen Einschätzung der begrenzten Mittel und Möglichkeiten des spanischen Staates bei der Reaktion auf die Krise und ihre Folgen. Gleichzeitig dienen solche Einlassungen aber auch der Ablenkung von Kritik an der Reaktion und dem Krisenmanagement der Regierung.
Die Verbreitung des Coronavirus und das Ausmaß der Erkrankungen
Am 31. Januar wurde der erste Fall einer Ansteckung mit dem Coronavirus in Spanien bestätigt. Der Patient war Deutscher, der in München Kontakt mit einer Person aus Wuhan, dem Epizentrum der Epidemie in der VR China hatte. In Februar breitete sich der Virus langsam auch in Spanien aus und schon Ende des Monats gab es ernsthafte Warnungen vor einer drohenden Ansteckungswelle. Die Regierung zögerte allerdings mit Warnungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, weil sie die Massenkundgebungen zum Weltfrauentag am 8. März nicht absagen wollte. Noch an diesem Tag hatte sie zur Teilnahme an den Kundgebungen aufgerufen, obwohl das European Centre for Disease Control (ECDC) bereits am 2. März formal die Risikostufe für Covid-19-Infektionen von "mittel" auf "hoch" angehoben und empfohlen hatte, Menschenansammlungen in Europa zu meiden. Erst am 9. März, veröffentlichte die Regierung ihre Warnungen und gibt diesen Tag als offizielles Datum des Beginns der Pandemie in Spanien an. Offensichtlich haben sich mehrere tausend Personen bei den Kundgebungen angesteckt, darunter auch die Ehefrau von Ministerpräsident Sánchez, die Stellvertretende Regierungspräsidentin Carmen Calvo und die Frauengleichstellungsministerin Irene Montero.
Das Virus hat sich seither exponentiell im ganzen Land verbreitet. Die Region Madrid ist am stärksten betroffen. Seit dem 15. März werden nach Auskunft der Regierung täglich zwischen 15.000 und 20.000 Tests vor allem bei schweren Krankheitsverläufen durchgeführt. Für mehr Tests fehlt bisher das Material. Zudem ist die sachliche und personelle Ausstattung der Krankenhäuser und Kliniken für den augenblicklichen Bedarf vollkommen unzulänglich. In Spanien gibt es knapp 10 Betten in Intensivstationen pro 100.000 Einwohner, in Deutschland sind es 29. Es fehlt an Atemschutzmasken, Beatmungsgeräten und Schutzanzügen. Ärzte und Krankenpfleger sind vollkommen überlastet und aufgrund der fehlenden Schutzmaterialien haben sich bereits zahlreiche Ärzte und mittlerweile etwa 10.000 Pfleger selbst mit dem Virus angesteckt und mussten ihren Dienst aufgeben. Auch Ärzte und Pfleger sind unter den Verstorbenen. Zudem haben sich viele Polizisten und Angehörige der Guardia Civil, die technische Hilfe zur Bekämpfung des Virus leisten, aufgrund unzureichender Schutzmaßnahmen mit Covid-19 angesteckt.
Bilder von schwerkranken Menschen machen die Runde, die aufgrund des Platzmangels in Krankenhausgängen auf dem Fußboden ausharren. Verstorbene Einwohner eines Altenheims in Madrid wurden in ihren Betten aufgefunden. Ärzte klagen über fehlende Beatmungsgeräte, weshalb sie Patienten im fortgeschrittenen Alter und mit schlechteren Heilungschancen sich selbst überlassen müssen, um Menschen mit besseren Erholungsaussichten zu bevorzugen. Da es Familienangehörigen verboten ist, sich den schwerkranken Infizierten zu nähern, sterben diese oft völlig allein.
Die nationale Regierung, aber auch einige Regierungen der Autonomen Gemeinschaften versuchen seit zwei Wochen verzweifelt Material auch auf dem internationalen Markt zu kaufen. Selbst beim Euro-Atlantic Disaster Response Coordination Centre (EADRCC) der NATO hat die Regierung um Bereitstellung von 1,5 Mio. Atemschutzmasken, 500 Beatmungsgeräten und 150.000 Schutzanzügen gebeten. Am 25. März, knapp zwei Wochen nach Ausrufung des Alarmzustandes, gab Gesundheitsminister Salvador Illa überraschend bekannt, einen Großauftrag mit chinesischen Firmen im Umfang von 432 Mio. Euro für den Kauf von 550 Millionen Atemschutzmasken, 955 Beatmungsgeräte und 5,5 Millionen Schnelltest vereinbart zu haben, die im Laufe der kommenden acht Wochen sukzessive geliefert werden sollen. Angesichts der dynamisch negativen Entwicklung der Fallzahlen ist fraglich, inwiefern dieser Lieferzeitraum des Materials wirklich hilfreich sein wird. Am 26. März wurde bekannt, dass das Gesundheitsministerium Versuche unternahm, im großen Stil Schnelltests in China einzukaufen, ohne jedoch dabei auf chinesische Lizensierungsbedingungen zu achten. Eine Liste lizensierter Unternehmen, die die chinesische Botschaft in Spanien dem Gesundheitsministerium zur Verfügung stellte, blieb unbeachtet. Von den 640.000 gekauften Schnelltests bei der Firma Shenzhen Bioeasy Biotechnology, die in China keine Lizenz besitzt, wurde bereits die erste Tranche von 8.000 Tests in Madrid angewandt, bevor bekannt wurde, dass die Tests anstatt der notwendigen Genauigkeit von 80% nur 30% vorweisen. Die Tests wurden aus dem Verkehr gezogen und zurückgeschickt bzw. storniert. Das Ministerium verteidigte sich, dass die Tests über eine "CE-Kennzeichnung" verfügten und man diese über einen spanischen Zwischenhändler bezog, weshalb man davon ausgegangen war, dass diese mit der notwendigen Genauigkeit funktionierten.
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