Am Donnerstag, den 16. November 2023, wurde der bisherige spanische sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) mit 179 von 350 Abgeordnetenstimmen als spanischer Ministerpräsident wiedergewählt. Neben der Unterstützung durch die sozialistische PSOE (121 Mandate) zählte er auf die Stimmen der linkspopulistischen Wahlplattform Sumar (31 Mandate); der katalanisch- republikanischen Separatistenpartei ERC (7 Mandate); der ethnisch-nationalistischen Separatistenpartei Junts per Catalunya (JxC, 7 Mandate); der linksextremistischen baskischen EH Bildu (einer Nachfolgeorganisation des politischen Arms der Terrorgruppe ETA namens Batasuna; 6 Mandate); der baskischen Nationalisten PNV (5 Mandate); des galizischen nationalistischen Blocks BNG (1 Mandat) und der kanarischen Koalition CCa (1 Mandat).
Keine Regierungsbildung seit der Verabschiedung der versöhnenden demokratischen Verfassung von 1978 nach dem Ende der Diktatur Francos hat Spanien so polarisiert wie die aktuelle. Seit Wochen schwillt der Protest gegen diese Regierungsbildung und vor allem gegen die geplante Amnestie aller am Aufruhr von 2017 in Katalonien beteiligten Personen an. Hundertausende empörter Bürgerinnen und Bürger versammelten sich an diesem Wochenende erneut in Madrid, nachdem bereits letztes Wochenende spanienweit 2,5 Mio. demonstrierten. In die täglichen Demonstrationen vor der Parteizentrale der PSOE in der Calle Ferraz, die bisher mehrheitlich von enttäuschten Bürgern initiiert und am Leben gehalten werden, mischen sich auch (rechts-) radikale Kräfte. Das täuscht nicht darüber hinweg, dass mittlerweile eine breite gesellschaftliche Mehrheit protestiert, die weit über die Anhängerschaft der Oppositionsparteien, der Mitte-Rechts-Partei Partido Popular (PP) und der rechtspopulistischen Vox hinausgeht.
Die protestierenden Berufs- und Bevölkerungsgruppen repräsentieren hunderte von öffentlichen Institutionen, Organisationen, Verbänden und sogar Gewerkschaften. Eine Auswahl: alle vier großen spanischen Richterverbände, die politisch unabhängig sind, aber verschiedene politische Affinitäten widerspiegeln; der Generalrat der spanischen Judikative; der Mehrheitsverband der Staatsanwälte (AF); der spanische Arbeitgeberdachverband; die International Bar Association (IBA); Hunderte von Professoren des Verfassungsrechts und der Politikwissenschaft unterschiedlicher politischer Weltanschauungen, die öffentliche Stellungnahmen unterschreiben. Aus dem politischen Raum widersetzen sich einige namhafte ehemalige – und einige wenige mutige im Amt befindliche - Führungsfiguren der PSOE wie der Regionalpräsident Castilla-La Manchas, Emilio García Page oder der ehemalige Ministerpräsident Felipe González, einer der Konstrukteure des demokratischen Spaniens nach 1975. Hinzu kommen ca. 50% der PSOE-Wähler (rund 3,9 Mio.), die sich in Umfragen gegen die Amnestie aussprechen, sowie selbstredend die rund 8 Mio. Wähler der Volkspartei und die 3 Mio. von Vox.
Der Spanien geneigte Beobachter von außen ist irritiert. Die aktuellen Vorgänge passen nicht zum verbreiteten Narrativ, dass der sozialistische Ministerpräsident Sánchez in der vergangenen Legislaturperiode in einer „Fortschrittskoalition“ gemeinsam mit der linksextremen Partei Podemos Spanien gut durch die Corona-Krise gebracht, Spaniens Wirtschaft konsolidiert und vor allem gesellschaftspolitische Meilensteine für mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Chancen geleistet habe. Wichtige Zugeständnisse an die Separatisten bereits in der vergangenen Legislaturperiode wie die gruppenbezogene Änderung des Strafrechtes (Abschaffung des Aufruhr- und die Änderung des Veruntreuungsparagrafen) wurden als weitsichtiges Handeln von Pedro Sánchez gewürdigt. Als Beitrag zur „Befriedung“ des Territorialkonfliktes durch die „Ent-Justizialisierung“ eines politischen Konfliktes.
Warum wehren sich so viele Menschen gegen das Versprechen von Pedro Sánchez, eine „fortschrittliche“ Politik fortzusetzen, an der „inneren Befriedung“ Spaniens weiterzuarbeiten und Spanien vor dem „Rückfall in die restaurative, dunkle rechte Vergangenheit“ zu bewahren, ja sogar „eine Mauer“ zu errichten, wie Sánchez wörtlich in der Parlamentsdebatte äußerte?
Hintergründe der Demonstrationen
Konkreter und aktueller Stein des Anstoßes sind die Konzessionen, die Sánchez den ihn stützenden Regionalparteien ohne nennenswerte Gegenleistungen gewährte. Die Regierungsparteien PSOE und die - faktisch nicht mehr existente linksextremistische Partei Podemos - hatten in den Regional- und Kommunalwahlen im Mai 2023 verheerende Wahlniederlagen erlitten, während die PP nun die Regierungschefs in 12 der 17 Autonomen Regionen (CCAA) stellt. Pedro Sánchez hatte als Reaktion darauf vorgezogene Parlamentswahlen ausgerufen, was als Mischung aus Verzweiflungstat und Geniestreich gewertet worden war. In diesen hat die PSOE ihr Ergebnis aus der vorhergehenden Wahl halten können, während alle anderen Kräfte, die nun Pedro Sánchez auf das Schild gehoben haben, ohne Ausnahme als Wahlverlierer aus den Wahlen hervorgegangen sind. Das ist besonders augenfällig bei den katalanischen Separatisten. Deren politischer Rückhalt hatte sich schon vor den Wahlen verringert und ist nun weiter zum Teil drastisch gesunken. Der Stimmenanteil der aktuell in Katalonien regierenden ERC hatte sich halbiert. Die separatistischen Parteien ERC und Junts rutschten bei den nationalen Parlamentswahlen vom 23. Juli in Katalonien im Vergleich zu 2019 auf Platz 3 und 4 ab, wobei die fünftplatzierte Volkspartei PP 80.000 Stimmen mehr holte als Junts, aufgrund des Wahlrechts jedoch trotzdem einen Abgeordneten weniger gewann. Alle separatistischen Parteien des Baskenlands und Kataloniens vereinen gerade einmal 6% aller landesweiten Stimmen auf sich.
Diese Zahlen erklären zum großen Teil die Fassungslosigkeit darüber, dass eine derart kleine Minorität eine Majorität innerhalb Kataloniens, geschweige denn des gesamten Landes politisch bestimmt, bzw. geradezu erpresst. Da Pedro Sánchez bereits in der vergangenen Legislaturperiode und auch jetzt jegliche Zusammenarbeit mit der PP kategorisch ablehnt, war und ist er auf jede Stimme der Kleinstparteien angewiesen. Ein besonderes Zünglein an der Waage ist die Partei Junts per Catalunya mit ihrem auf der Flucht befindlichen Vorsitzenden Carles Puigdemont, die mit ihren sieben Mandaten Sánchez zum entscheidenden Sprung über die absolute Mehrheit von 176 Mandaten verhalf. Alle separatistischen Parteien, besonders aber Junts per Catalunya zeichneten sich dadurch aus, dass sie in den Verhandlungen auf ihren Maximalforderungen beharrten, während die Regierungspartei PSOE keinerlei eigene Handschrift erkennen ließ. Das könnte man als Normalfall bei Koalitionsverhandlungen werten, doch waren es die materiellen Inhalte der Zugeständnisse, die für große Beunruhigung und Verunsicherung sorgen. Im Ergebnis kamen sogenannte Vereinbarungen („acuerdos“) zustande. Hier einige wichtige Fakten und Details:
- ERC erreichte bei Sánchez einen ersten außerordentlichen Schuldenerlass für Katalonien aus dem Regionalen Liquiditätsfonds (FLA) von 15 Mrd. EUR (das entspricht bspw. in etwa einem Jahresetat der Autonomen Region Galizien, der willkürlich erlassen wurde); den Eigentumstransfer des gesamten regionalen Schienennahverkehrs an die katalanische Regionalregierung und die Fortführung des Verhandlungstisches der Autonomen Region Katalonien mit dem Zentralstaat, dem ERC stets einen „bilateralen“ Anstrich zu geben versucht.
- JxC setzt ein Amnestiegesetz durch, mithilfe dessen alle Beteiligten, gegen die im Zuge des illegalen Referendums vom 1. Oktober 2017 wegen Aufruhr, Veruntreuung und selbst Terrorismus ermittelt wurde, eine Generalamnestie erhalten sollen. Eine solche ist jedoch in der spanischen Verfassung gegenwärtig nicht vorgesehen. Es gilt als strittig, ob eine Amnestie mit der Verfassung vereinbar ist. In jedem Falle bedürfte eine solch tiefgreifende Reform einer breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Debatte, stattdessen peitscht die PSOE-Fraktion diese jedoch als Eilgesetz durch das Parlament. Selbst bei Begnadigungen wird zwingend vorausgesetzt, dass die Begnadigten Reue für ihre Taten in dem Sinne zeigen müssen, dass sie diese aufrührerischen Taten nicht wiederholen. Führende Sprecher von ERC und JxC machten jedoch noch am gleichen Tag der Investitur im Parlament unmissverständlich deutlich, dass ihnen die Amnestie nur die Grundlage und die Munition liefern wird, um nun in beiden Regionen Referenden zu fordern, und auf diesem Wege die endgültige Unabhängigkeit von Spanien zu erreichen, und dass sie keine ihrer, teils verfassungswidrigen, Maximalforderungen aufgeben werden.
- Die Vereinbarung Junts-PSOE sieht zudem die Möglichkeit vor, unter Rückgriff auf das „Lawfare“-Konzept von Donald Trump abgeschlossene und laufende Ermittlungsverfahren und Gerichtsurteile, die die Separatisten im Bereich Aufruhr, Veruntreuung/ Korruption und Terrorismus betreffen, durch parlamentarische Gremien zu überprüfen, was einer massiven Beschädigung des rechtstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung in Spanien als dem viertgrößten EU-Land gleichkommen würde. Der Begriff „Lawfare“ findet sich zwar formell nicht im Gesetzesentwurf wieder, den die PSOE am 13. November ins Parlament einbrachte, doch aufgrund der extremen Instabilität der Minderheitsregierung PSOE-Sumar und der Abhängigkeit von den Stimmen von Junts muss damit gerechnet werden, dass die Separatisten die Anwendung dieses rechtsstaatsfeindlichen Konzepts politisch weiterverfolgen und fordern werden.
- ERC und JxC haben angekündigt, jede einzelne Zustimmung zu dieser fragilen Minderheitsregierung aus PSOE und Sumar, die allein über nur 154 von 350 Mandaten verfügt, an den „Fortschritt und dem Umsetzungsgrad“ ihrer Maximalforderungen zu knüpfen. JxC erreichte zudem eine Klausel, mittels derer die Kompetenz zur Steuererhebung aller Steuern vollständig auf die katalanische Regionalregierung übertragen werden soll, d.h. dass alle katalanischen Steuern zu 100% von Katalonien und für Katalonien erhoben würden und der spanische Fiskus dabei leer ausgeht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Katalonien die zweitgrößte Wirtschaftsregion Spaniens nach Madrid ist (BIP 2022: ca. 270 Mrd. EUR). Schließlich fordert Junts die formelle Institutionalisierung des regionalen Territorialkonflikts mithilfe der Einsetzung eines internationalen Vermittlers, der die Verhandlungen zwischen Spanien und Katalonien führen soll, um letztendlich ein Unabhängigkeitsreferendum zu erreichen.
- (Öffentliche) Zugeständnisse an weitere Parteien: Die Abmachungen mit der separatistischen, linksextremen baskischen EH Bildu sind nicht an die Öffentlichkeit getreten, doch ist es bereits als historischer Tabubruch zu werten, dass die PSOE, deren Politiker auch im Baskenland von ETA verfolgt wurden, nun offen mit EH Bildu verhandeln. EH Bildu dürfte, so vielerorts die Vermutung, von der PSOE eine Hilfestellung zur Erlangung des Amtes des Oberbürgermeisters in Pamplona (Navarra) und Regierungspakte im Baskenland gefordert haben (EH Bildu expandiert immer stärker aus dem Baskenland in das benachbarte Navarra). Der Vorsitzende von EH Bildu, Otegi, der wegen Zugehörigkeit zur Terrororganisation ETA verurteilt war, fordert zudem ein Selbstbestimmungsreferendum im Baskenland, dass er bereits als so gut wie erreicht ansieht. In einer Rede bei Sinn Fein, die der nach Abschluss der Verhandlungen mit der PSOE hielt, äußerte er: „sowohl in Irland als auch im Baskenland sind gute Zeiten für die Unabhängigkeitsbewegungen angebrochen“.
- Die baskischen Nationalisten von der PNV rangen Sánchez das Versprechen ab, die Kompetenz zur wirtschaftlichen Selbstverwaltung der Sozialversicherung und die spanienweite Anerkennung der baskischen Sprache zu erhalten. Das Baskenland ist die wirtschaftlich fünftwichtigste Region Spaniens (71,7 Mrd. EUR, 2021).
- Für eine einzige Stimme des nationalistischen galizischen Blocks BNG versprach Sánchez, Galizien die gleichen Steuerprivilegien zukommen zu lassen, die Katalonien erhalten wird. Galizien ist immerhin die sechstgrößte Wirtschaftsregion Spaniens mit einem BIP von ca. 63 Mrd. EUR (2021).
- Keine der vier nationalistisch-separatistischen Parteien hat auch nur eine politische Forderung unterstützt, die im Interesse Gesamtspaniens läge. Der Gesamtstaat wurde und wird in einem bislang nicht bekannten Ausmaß als Steinbruch missbraucht. Mehr noch artikulierten alle Repräsentanten dieser Kleinparteien ohne jegliche Verklausulierung, dass alle diese Zugeständnisse nur als Zwischenstufe zur tatsächlichen Unabhängigkeit angesehen würden.
- Die zum Teil wirtschaftsfeindlichen Forderungen mit Steuererhöhungen und Umverteilung seitens der linksextremen Gruppierung Sumar dringen angesichts der Amnestiedebatte nur teilweise an die Öffentlichkeit durch.
Politische Bewertung
Erst im Lichte der konkreten Forderungen und Äußerungen kann der Widerstand und die Empörung großer Teile der spanischen Justiz, der Finanzbehörden, der Autonomen Gemeinschaften und der Bevölkerung nachvollzogen werden.
Eine Amnestie als Beitrag für eine politische Lösung des Territorialkonfliktes wäre vorstellbar gewesen, wenn Sánchez gemeinsam mit PP eine große Mehrheit gesucht hätte und umgekehrt die Separatisten auf ihre Maximalforderung der Trennung von Spanien verzichten würden. Beides ist nicht geschehen und wird nicht geschehen. Mehr noch: nun wird durch das Amnestiegesetz die spanische Demokratie von 1978 faktisch zu einem Unrechtsstaat umgedeutet, seine Justizvollzugsorgane diskreditiert und die Aufrührer gegen die demokratische Verfassung als politische Opfer betrachtet. Eine mögliche Einsetzung politischer Kommissionen im Parlament zur Überprüfung der Justiz beschädigt deren Unabhängigkeit und unterwirft sie einem politischen Mandat (lawfare). Diese Gefahr hat das Fass zum Überlaufen gebracht und die derzeitigen massiven Widerstände provoziert.
Es kann fast als Randnotiz gelten, dass Sánchez und maßgebliche Minister noch vor der Wahl die Amnestie als inakzeptabel und unvereinbar mit der Verfassung kommuniziert hatten. Daher rührt der Vorwurf von PP und VOX, dass die nun vollzogene Kehrtwendung an Wahlbetrug und sogar politischer Korruption grenze, da sich Sánchez sieben Mandate im Gegenzug zur Beugung des Rechtsstaates erkaufe. Den Hinweis darauf als Zeichen des „schlechten Wahlverlierers“ zu beschreiben, wie in einigen deutschen Medien geschehen, erfasst nicht die Relevanz der Vorgänge.
Nach mehrheitlicher Expertenbewertung verstößt der diskriminierte und willkürliche Schuldenerlass gegen den Gleichheitsgrundsatz der Autonomen Gemeinschaften. Katalonien, das Basken-land und Galizien stehen zusammen für 29,8% der Wirtschaftsleistung Spaniens (2021), weshalb es völlig utopisch ist, dass Sánchez solche Transferzahlungen in einige der wohlhabendsten Gebiete Spaniens refinanzieren kann, ohne zugleich die bereits ärmeren Gebiete noch stärker abgaben-technisch belasten zu müssen, was der Idee einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung diametral entgegensteht. Im Gegenteil wird er diese Geschenke durch höhere Einnahmen des Fiskus in den strukturschwächeren Regionen ausgleichen müssen, womit dort notwendige Investitionen fehlen werden, was die soziale und territoriale Ungleichheit in Spanien weiter verschärfen dürfte.
Mit seinen ausgrenzenden Reden vor und vor allem während der Parlamentssitzung (Investidura) hat Sánchez erheblich zur unversöhnlichen Polarisierung beigetragen. Wörtlich bezeichnete er alle, die sein Konzept der „Großzügigkeit“, „Versöhnung“ und seines „sozialen Friedens“ nicht teilten, als „Reaktionäre“ und „Rechtsextreme“, gegen die eine „Mauer“ errichtet werden müsse. Ein weiterer Grund dafür, dass nun Menschen der gemäßigten Mitte, wie bspw. kritische Sozialisten, Liberale, Christdemokraten, die tendenziell nicht demonstrieren, nun mit Spanien- und Europafahnen auf die Straße gehen. Dass führende Sozialisten diese Demonstrationen als Aufwiegelung delegitimieren, verschärft die Stimmungslage.
Ausblick
Es gibt Spekulationen darüber, wie lange diese politische Regierungskonstellation überleben kann, die kein positives gemeinsames politisches Projekt für Gesamtspanien eint, sondern nur die Negativmotivation, eine PP-VOX- Regierung unter allen Umständen zu verhindern.
Sie hält möglicherweise lange, weil die Alternative von Neuwahlen für diese Koalition der Wahlverlierer ihre weitere Schwächung zur Folge hätte, wie erste Umfragen andeuten. Keiner der Separatisten wird die „goldene Gelegenheit“ aus der Hand geben wollen, dass ein von ihnen abhängiger Regierungschef Sánchez ihre Maximalforderungen für sein Überleben an der Macht umsetzen muss.
Die Hoffnung der Konservativen, dass das Verfassungsgericht das Amnestiegesetz stoppen könne, erscheint ebenfalls verfrüht. Das Verfassungsgericht besteht aktuell mehrheitlich aus Sánchez-Anhängern und -abhängigen, die wahrscheinlich entgegen der in unzähligen Stellungahmen ver-öffentlichten comunis opinio der Verfassungsexperten urteilen wird, dass eine Amnestie verfassungsgemäß sei.
Die Hoffnung vieler, dass sich die Mehrheit der Sozialisten innerparteilich und sichtbarer gegen den (selbst-) zerstörerischen Kurs der PSOE wenden würden, erfüllt sich ebenfalls nicht. Die Bau-herren der spanischen Demokratie wie Felipe González, der fast schon einen Legendenstatus er-halten hatte, wirken auf PSOE-Anhänger wie politische Dinosaurier aus einer anderen Zeit, müde belächelt und ohne jeglichen signifikanten politischen Einfluss. Die alt-ehrwürdige, über 100 Jahre alte Sozialistische Arbeiterpartei zeigt sich als ein willen- und positionsloser Unterstützungsapparat, vollständig ihrer Führungsfigur Pedro Sánchez unterworfen und jeglicher föderaler Strukturen beraubt – parteiinterne Gegengewichte gibt es keine mehr.
Ob Europa diesen besorgniserregenden Prozess aufhalten kann, wie ebenfalls viele in der PP hoffen, muss abgewartet werden. Der katalanische Regionalkonflikt ist und bleibt verfassungs-rechtlich ein innerstaatlicher Territorialkonflikt in Spanien, obwohl die katalanischen Separatisten im vergangenen Jahrzehnt immer wieder versucht hatten, ihre Angelegenheit zu internationalisieren und europäische Unterstützung für ihre Ziele zu erlangen. Nun will die PP die Vorgänge nach Europa in der Hoffnung tragen, dass die EU etwaige Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips durch Sánchez auf nationaler Ebene analog Polen und Ungarn untersucht und zu unterbinden versucht. Dabei wird es aufgrund der Komplexität der Situation für die PP relevant sein, den Beobachtern in Brüssel jederzeit den Unterschied zwischen der inneren Angelegenheit des Regionalkonflikts und der legitimen Überprüfung etwaiger rechtsstaatlicher Vergehen der nationalen Regierung durch die EU deutlich machen zu können.
Wie Anne Applebaum kürzlich erinnerte, darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Separatistenbewegung um Junts per Catalunya und Puigdemont nachweislich mit dem Putin-Regime in Russland verbunden war und Russland ein essentielles strategisches Interesse an einer Unabhängigkeit Kataloniens hat, was Putin einen historischen Einfluss ohne Präzedenz in Süd- und Westeuropa und dem Mittelmeer geben würde.
Die Autoren dieses Berichtes vertreten die These, dass es nicht „zwei“, sondern mittlerweile „drei Spanien“ gibt. Denn Sánchez stilisiert, zusätzlich zu den historischen Konflikten des Landes, die aktuelle Auseinandersetzung zu einem dichotomen Konflikt zwischen „Fortschritt oder Rechts“. Eine eklatante populistische Vereinfachung der Wirklichkeit! Die große Mehrheit der Spanier ist in der Mitte, der ständigen Polarisierung müde. Sie wünscht sich eine konstruktive Politik für alle Spanier und nicht eine Privilegierung weniger zugunsten der Mehrheit. Selbst die Mehrheit der Katalanen, sogar viele in der Partei Junts, wünschen sich ein gedeihliches Zusammenleben unter Anerkennung ihrer sprachlichen und kulturellen Singularität, die in Spanien bereits sehr weitreichend anerkannt und entwickelt sind.
Es zeigt sich derzeit in Spanien die Paradoxie, dass eine Minderheit entgegen dem politischen Willen einer bislang schweigenden Mehrheit agiert, die weder die Amnestie noch die Separation von Landesteilen befürwortet. Eine Mehrheit jedoch, die offenbar nicht mehr zu schweigen bereit ist. Es droht die Gefahr, dass sich auch in Spanien Vorgänge gemäß Ziblatt / Levitsky ereignen, die die Demokratie von innen, sogar durch Wahlen schwächen. Kenner Lateinamerikas sehen im Vorgehen von Pedro Sánchez auffallende Parallelen zu bolivarianisch-linksautoritären Systemen wie in Venezuela, wo sukzessive Institutionen seitens der Politik übernommen und die Demokratie „neu“ interpretiert wurde.
Sollten die Separatisten (in erster Linie Junts, ERC und EH Bildu) ihre öffentlich vertretene Linie einer unbedingten Unabhängigkeit Kataloniens und des Baskenlandes wie zu erwarten mit aller Härte weiterverfolgen und das Aufflammen der Debatte für sich nutzen, so hätte es der spanische Staat dieses Mal wesentlich schwerer als 2017, die Dynamik zu stoppen. Denn die Sánchez-Regierung hat in den vergangenen Jahren den Aufruhrparagraphen abgeschafft, die Veruntreuung öffentlicher Gelder für politische Zwecke („politische Korruption“) bagatellisiert und weitere asymmetrische Kompetenzen an die Regionen des Nordens verlagert, wodurch diese wesentlich freier agieren können und heute einige der damaligen entscheidenden Rechtsstaatsinstrumente für eine Eindämmung fehlen.
PP-Präsident Feijóo hatte Sánchez sechs Staatspakte PP-PSOE angeboten, um die dringend nötigen Reformen in den Feldern Wirtschaft, Soziales, Sicherheit, Außenpolitik und auch Territorialordnung unabhängig von Extremisten und Fundamentalisten zu ordnen. Feijóo ging so weit, eine alternierende Regierungsführung zwischen ihm und Sánchez für die kommende Legislaturperiode anzubieten. Eine Annäherung der großen Volksparteien der Mitte, die in den letzten Wahlen entgegen den Fragmentierungstrends in vielen Ländern Europas wieder über 60% der Stimmen auf sich vereinigen konnten, wird wohl erst in der Zeit „nach Sánchez“ möglich sein. Hoffentlich nimmt das Land, das an sich eigentlich so viel Potential birgt, bis dahin nicht zu viel Schaden – weder nach innen noch nach außen.