Am 22. und 23. Februar setzten die UN Mitgliedstaaten die 11. Sondersitzung der Generalversammlung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fort. Zur Diskussion stand eine von 57 Staaten eingebrachte Resolution, die Russland erneut auffordert, sich bedingungslos und vollständig vom Staatsgebiet der Ukraine in seinen international anerkannten Grenzen zurückzuziehen: „Principles of the Charter of the United Nations underlying a comprehensive, just and lasting peace in Ukraine“ (A/ES-11/L.7).
Die Resolution verurteilt die Angriffe auf zivile Infrastruktur, sowie die kontinuierliche Verletzung des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts, und fordert eine umfassende Rechenschaftspflicht für die begangenen Kriegsverbrechen. Sie fordert die Mitgliedstaaten auf, das diplomatische Engagement für einen gerechten und dauerhaften Friedensschluss zu intensivieren und in einem Akt der Solidarität auch auf die globalen Auswirkungen des Krieges in Bezug auf Nahrungsmittel- und Energiesicherheit wie auch auf Fragen der nuklearen Sicherheit zu reagieren.
Globale Befindlichkeiten
Ein Jahr nach der Aggression Russlands stellt sich die Frage, wieviel Solidarität unter den 193 Mitgliedstaaten der UN noch besteht. Gerade im globalen Süden, der angesichts eklatant steigender Nahrungsmittel- und Energiepreise ebenso direkt von den Auswirkungen des Krieges betroffen ist, verfängt zunehmend das Narrativ Russlands, dass es sich hier um einen Krieg des Westens gegen Russland handele und die Waffenlieferungen an die Ukraine zu dessen Selbstverteidigung zu einer Eskalation des Konfliktes beitrügen. Eine Argumentationslinie ist daher für viele, dass man sich nicht in einen neuen Ost-West-Konflikt hineinziehen lassen möchte.
Viele Entwicklungsländer fürchten zudem, dass nicht nur Kapazitäten in der Adressierung ihrer eigenen Probleme wie auch der globalen Krisen gebunden werden, sondern auch die Entwicklungsfinanzierung europäischer Geber durch die notwendigen Hilfen für die Ukraine neu aufgestellt wird.
„Complacency enhances the crisis!“
(António Guterres, UN Generalsekretär, UNGA New York, 22.02.2023)
Angesichts dieser Befindlichkeiten argumentierten die Unterstützer der Resolution vor allem damit, dass der Krieg in der Ukraine gleichzeitig einen Angriff auf die Prinzipien der UN Charta und damit auf den Wertekanon der Mitgliedstaaten darstellt. UN Generalsekretär Guterres sprach von einem Angriff Russlands auf das Fundament der multilateralen, regelbasierten Ordnung.
In einer an die Solidarität der Weltgemeinschaft appellierenden Rede, unterstrich der ukrainische Außenminister das in der UN Charta verankerte Recht zur Selbstverteidigung und zitierte die Gefahr, dass die Akzeptanz der Verletzung territorialer Integrität durch einen Nachbarstaat einen Präzedenzfall schaffe, der in niemandes Interesse sein könne.
In einem der ersten Entwürfe der Resolution hatte die Ukraine versucht, einen Verweis auf den 10-Punkte-Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Zelenskyj unterzubringen. Dies blieb jedoch umstritten.
Russland versuchte, die Verabschiedung der Resolution durch die Vorlage von Ergänzungen (A/ES-11/L.8 und L.9) zu torpedieren und vor allem von der Tatsache abzulenken, dass es Russland ist, welches für die Aggression und die Verletzung der UN Charta verantwortlich ist.
Die vom russischen Verbündeten Belarus eingebrachten Änderungen zielten darauf, den Verweis auf den bedingungslosen Rückzug Russlands von ukrainischem Territorium zu entfernen und die Forderung nach einem Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine in der Resolution zu verankern, da diese zu einer Eskalation beitrügen. Stattdessen verlange man unmittelbare Friedensverhandlungen.
Russland selbst nutzte seine Redezeit einmal mehr, um seinem eigenen Narrativ öffentlich Geltung zu verschaffen: der Westen führe einen Kreuzzug gegen Russland und versuche, möglichst viele UN Mitgliedstaaten in sein eigenes Lager zu ziehen. Russland habe die Militäroperation nur gestartet, um die russische Bevölkerung in den Regionen Luhansk und Donetsk vor dem russophoben Regime in Kiew zu schützen. Die NATO sei immer weiter an die eigenen Grenzen vorgerückt und habe alle Angebote Russlands zur Deeskalation Ende 2021 ausgeschlagen.
Mit Syrien, Iran und Venezuela hatte Russland in dieser Sitzung weitere Unterstützer, die das Narrativ verstärkten und dem Westen vorwarfen, mit solchen Sondersitzungen die Polarisierung in den Vereinten Nationen und eine gegen Russland gerichtete Agenda voranzutreiben.
Venezuela sprach erstmals auch im Namen von Äquatorialguinea, Bolivien, Kambodscha, China, Kuba, Eritrea, Iran, Laos, Mali, Nicaragua, Nord-Korea, Saint Vincent & Grenadines, sowie Simbabwe.
China, welches sich in den vergangenen Abstimmungen zur Ukraine in der Generalversammlung weitgehend enthalten hatte (Ausnahme Ausschluss Russlands aus dem UN Menschenrechtsrat) unterstrich, dass Dialog der einzige Weg zur Lösung des Konflikts sein könne und die Internationale Gemeinschaft sich um Friedensverhandlungen bemühen müsse. Wie auch Vietnam verurteilte China Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur, und forderte den Schutz nuklearer Anlagen. China kritisierte Waffenlieferungen, welche nur das Leiden der Zivilbevölkerung verschärfen würden.
“If Russia ends fighting, the war ends. If Ukraine stops fighting, Ukraine ends.”
(Annalena Baerbock, Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, UNGA, 23.02.2023)
Deutschlands Außenministerin, die den letzten Redebeitrag abgab, ging auf den Vorwurf, dass Waffenlieferungen nur den Konflikt verschärfen würden, direkt ein. Sie unterstrich, dass niemand der die Ukraine unterstütze, diesen Krieg wolle und man die Mittel lieber in Bildung und die Adressierung des Klimawandels investieren würde, aber es mehr als nur um die Sicherheit der Ukraine gehe. Es gehe hier um die Bedrohung der UN Charta als Fundament der internationalen regelbasierten Ordnung.
Bei den Debattenbeiträgen, die sich über 8 ½ Stunden hinzogen, fiel auf, dass vor allem jene das Wort ergriffen, die solidarisch an der Seite der Ukraine standen. Von der Gruppe der afrikanischen Staaten ergriff lediglich Liberia das Wort und erklärte sich als stolzer Unterstützer der Resolution.
Nachdem in vorherigen Abstimmungen bereits auffällig war, dass sich afrikanische Staaten enthielten oder gar nicht abstimmten, und vor allem in afrikanischen Gesellschaften mehr und mehr das von russischen Medien auf dem Kontinent verbreitete Narrativ des „Kriegs des Westens“ Anhänger findet, war die Positionierung afrikanischer Staaten bis zur Abstimmung nicht einschätzbar. Auch dieses Mal enthielten sich 14 Staaten Afrikas (Algerien, Angola, Zentralafrikanische Republik, Republik Kongo, Äthiopien, Gabun, Guinea, Mosambik, Namibia, Südafrika, Sudan, Togo, Uganda, Simbabwe. Die Staaten Burkina Faso, Kamerun, Eswatini, Äquatorial Guinea, Guinea-Bissau, Senegal und Togo nahmen an der Abstimmung nicht teil (7). Damit versucht, fast die Hälfte des Kontinents eine neutrale Haltung einzunehmen.
“This vote is a moment to remember why we are here: To uphold the UN charter, to engage in dialogue and diplomacy that leads us to a more prosperous and peaceful world.”
(US Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield, UNGA, 22.02.2023)
Um 141 Unterstützer zu gewinnen und auch nicht-demokratische Regime zu mobilisieren, war es strategisch richtig, dass die Verhandlungsführer der Resolution vor allem die Verletzung der in der UN Charta verankerten Prinzipien (Art. 2) – die territoriale Integrität und die staatliche Souveränität – in den Vordergrund stellten. Dies ist der gemeinsame Nenner, das Wertegerüst, zu dem sich die UN Mitgliedstaaten bekannt haben und für das sie nach wir vor eintreten.
Die von den USA und der EU aufgelegten Sanktionen gegen Russland finden keine große Unterstützung.
Selbst strategische Partner wie die Türkei oder die Vereinigten Arabischen Emirate haben weiterhin Handelsbeziehungen mit Russland. Bereits bei Resolutionen der Generalversammlung, die konkrete Strafmaßnahmen gegen Russland vorsehen, wie der Ausschluss Russlands aus dem UN Menschenrechtsrat im April 2022 oder die Einrichtung eines Internationalen Registers und Kompensationsmechanismus für Kriegsschäden und Verluste (November 2022), bröckelte die Unterstützung. Bei beiden Resolutionen fanden sich nur noch Mehrheiten von knapp über 90 Staaten.
Auch wenn die Resolution zum Jahrestag des Angriffs weder das aktuelle Leid der ukrainischen Bevölkerung lindern noch unmittelbar zu Friedensverhandlungen führen wird, so ist sie doch eine immens wichtige moralische Unterstützung für die Ukraine und ein Akt der Solidarität durch die Weltgemeinschaft. An Putin ist sie ein Signal, dass der Kreis der Unterstützer sich auch nicht durch prozedurale Manöver (Änderungsanträge, Gegenresolutionen) und Desinformationskampagnen und Propaganda so ohne weiteres vergrößern lässt. Selbst traditionelle Partner wie Kuba oder selbst der Iran enthalten sich lieber der Stimme als mit dem Aggressor zu stimmen.
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