Mit der heute begonnenen Sondersitzung der UN-Generalversammlung unter der „Uniting for Peace“ Resolution [377 (V) of 3 November 1950] wurde der Versuch unternommen, die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen zu wahren und den durch ein russisches Veto blockierten Sicherheitsrat zu kompensieren. Dies wurde möglich durch eine Entscheidung des Sicherheitsrates am Freitag, den 24. Februar, mit der die Generalversammlung beauftragt wurde, die Invasion der Ukraine durch Russland zu verurteilen. Obgleich eine solche Resolution der Generalversammlung keine rechtlich bindende Wirkung entfaltet, bietet sie doch die Möglichkeit die Solidarität und Geschlossenheit der Staatengemeinschaft symbolhaft zum Ausdruck zu bringen.
„Seit einem Monat beschäftigte sich bereits der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem Konflikt in der Ukraine.“
Nachdem sich ab November 2021 Warnungen bezüglich der Stationierung von russischen Truppen an der ukrainischen Grenze intensivierten und es im Januar 2022 zu weiteren Truppenstationierungen in Belarus kam, beriefen die USA am 31. Januar eine erste offene Debatte im UN-Sicherheitsrat ein. Russland als Veto-Macht versuchte diese zu stoppen, scheiterte aber an den Regeln eines „procedural vote“, welches neun Stimmen der Unterstützung erfordert. Zu diesem Zeitpunkt stimmte lediglich China mit Russland, und die nicht-ständigen Mitglieder Gabun, Indien und Kenia enthielten sich.
Für die USA war diese Sitzung des Sicherheitsrates eine weitere Möglichkeit, die internationale Aufmerksamkeit auf die Bedrohung von Frieden und Sicherheit in der Mitte Europas zu lenken, und die drohende Gefahr einer Verletzung der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität eines VN-Mitgliedstaates durch ein ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates zu verurteilen und die internationale Gemeinschaft in der Verteidigung der Werte und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen zu einen.
Zum 1. Februar übernahm Russland turnusgemäß die Präsidentschaft im Sicherheitsrat. Wie bereits in vorherigen Jahren setzte man zum Jahrestag des Minsker Abkommens (12.02.2015) am 17. Februar eine Diskussion zum Stand der Implementierung auf die Agenda. Diese Diskussion fand bereits zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Präsenz russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine daraufhin deuteten, dass die russischen Interessen weit über die Gebiete von Luhansk und Donezk hinausgehen. Auch die Anerkennung der Unabhängigkeit dieser Gebiete durch Russland zwei Tage vor der Debatte stellten einen weiteren Todesstoß für die Minsker Abkommen dar.
Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der selbsternannten Republiken von Luhansk und Donezk durch Russland und einer Verschärfung der dortigen Kämpfe griff die Ukraine – mit der Unterstützung der UN-Sicherheitsratsmitglieder Albanien, Frankreich, Irland, Norwegen, Großbritannien und USA - auf Art. 34 und 35 der UN-Charta zurück, welche es jedem Mitglied der Vereinten Nationen ermöglicht, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf Konfliktfälle und Bedrohungen von Frieden und Sicherheit zu richten.
Diese Zusammenkunft des Sicherheitsrates am 21. Februar setzte auch den Ton für die am 23. Februar folgende Sitzung der Generalversammlung, unter dem Tagesordnungspunkt “The situation in the temporarily occupied territories of Ukraine”.
Die USA verurteilten im Sicherheitsrat die Anerkennung der abtrünnigen Republiken sowie die Entsendung von russischem Militär in diese Gebiete, beides weitere Indikatoren für die bevorstehende russische Invasion.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres erklärte die Anerkennung der sogenannten unabhängigen Gebiete Donezk und Luhansk als Verletzung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine und als Verstoß gegen die Prinzipien der UN-Charta. Ein solcher, von UN-Generalsekretären höchst selten erhobener Vorwurf gegen ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates unterstreicht das beispiellose Ausmaß der russischen Aggression.
Weitere Mitglieder des Sicherheitsrates folgten der Argumentation von Guterres, um so auch die notwendigen Akzente für die Debatte in der UN-Generalversammlung zu setzen und vor allem eine größere Resonanz unter jenen Mitgliedern zu erwirken, die den Konflikt bislang als regionales Problem sehen wollten.
Wirkmächtig mit Blick auf die G77-Staaten - dem größten Zusammenschluss von Entwicklungsländern innerhalb der Vereinten Nationen - war in dieser Sitzung des Sicherheitsrates vor allem auch die Rede des kenianischen Botschafters. Dieser kritisierte nicht nur eine seit einiger Zeit zu beobachtende leichtfertige Verletzung internationaler Rechtsnormen durch geopolitische Mächte. Er verwies auch auf die Gefahren einer mit Gebietsansprüchen einhergehenden Revision der Geschichte, die gerade in Subsahara Afrika zu mehr Konflikten und Leid führen würde. Botschafter Kimani ging in seiner leidenschaftlichen Rede sogar so weit vom „Todesbett des Multilateralismus“ zu sprechen und kritisierte den Kolonialismus der russischen Regierung.
Während die afrikanischen Mitglieder des Sicherheitsrates Ende Januar noch in ihren Positionen divergierten und lediglich Ghana den westlichen Einschätzungen der Lage folgte, zeigten sie sich doch spätestens mit der Präsenz offizieller russischer Truppen in der Ostukraine wieder als geschlossene A3 Einheit.
Für viele andere afrikanische Staaten werden jedoch die bestehenden Abhängigkeiten ihre politischen Positionen bestimmen. Die Ukraine und Russland sind in vielen Ländern Afrikas die Hauptlieferanten von Getreide. Insbesondere in Zentral- und Westafrika ist Russland militärisch präsent und unterstützt Regierungen mit Militärberatern oder Söldnern der Wagner-Gruppe im Kampf gegen islamistische Terrororganisationen. Auch die Regierungen Südafrikas (traditionelle Verbindungen des ANC mit Russland bzw. der Sowjetunion) und Nigerias taten sich bis zu dem Angriff an mehreren Fronten mit einer klaren Positionierung schwer.
Auch im Falle Chinas lassen sich Nuancen einer Repositionierung gegenüber Russland erkennen. Zunächst und bis Mitte Februar fest an der Seite Russlands wurden Signale deutlich, dass man bereit sei, über die Formulierungen einer Resolution zu diskutieren. Zwar stellt sich China gegen eine NATO-Erweiterung und kritisierte in der Sitzung des Sicherheitsrates am 17. Februar und mit Blick auf den pazifischen Raum und Asien die Stärkung regionaler Sicherheitsarchitekturen. Allerdings betont China seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erneut sein außenpolitisches Leitmotiv „Respekt für die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten“ sowie den Respekt für die Prinzipien der UN-Charta.
Dies bedeutet, dass China sich zwar bei wichtigen Entscheidungen weiterhin enthalten, aber nicht von seinem Veto-Recht Gebrauch machen dürfte.
Bei einer Sondersitzung des Sicherheitsrates am Abend des 23. Februar kündigte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen die Vorbereitung einer Resolution unter Kapitel VII der Charta an. Kapitel VII ermöglicht es dem Sicherheitsrat, nach der Feststellung einer Verletzung des Friedens oder eines Aktes der Aggression, die notwendigen Maßnahmen, inklusive den Einsatz von militärischen Mitteln, zu ergreifen. China sprach sich für eine Resolution unter Kapitel VI, d.h. für eine Konfliktlösung ohne militärische Mittel aus und enthielt sich in der Abstimmung zur Resolution am 25. Februar.
„…all member states shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the purposes of the UN.“ [Art. 2(4) UN Charta]
Diese von den USA und Albanien eingebrachte Resolution verurteilte die Aggression Russlands als Akt, der Art. 2 (4) der UN-Charta verletzt.
Der Text forderte Russland auf, unmittelbar alle Kampfhandlungen einzustellen, die Truppen aus dem international anerkannten Territorium der Ukraine zurückzuziehen. Die Resolution forderte darüber hinaus Russland auf, die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der Gebiete Donezk und Luhansk zurückzunehmen und zu einer Implementierung der Minsker Abkommen zurückzukehren.
Da die Resolution durch das Veto Russlands blockiert wurde, blieb den elf Unterstützern lediglich die Option, die eigene Blockade durch eine Resolution der Generalversammlung und eine Auseinandersetzung mit der Verletzung der UN-Charta im Kontext der „Uniting for Peace“ Resolution zu minimieren.
Neben China enthielten sich auch Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) bei der Abstimmung am 25. Februar im Sicherheitsrat.
Obgleich die VAE bislang als Verbündeter der USA galten, rechtfertigten sie die Enthaltung bei einer solch wichtigen Resolution mit dem Verweis auf mehr Zeit für deren Ausarbeitung. Allerdings ist die Enthaltung auch in Zusammenhang mit einer zunehmenden Desillusionierung bezüglich der Zuverlässigkeit des Partners USA zu sehen. Nachdem die jemenitischen Houthi-Rebellen am 17. Januar den Flughafen in Abu Dhabi angriffen, hatte man die USA nicht nur um Unterstützung im Bereich Sicherheit gebeten, sondern auch die Re-Klassifizierung der Houthi Rebellen als Terrororganisation. Insbesondere letzteres wurde unter Verweis auf die Auswirkungen auf die Humanitäre Hilfe abgelehnt.
Einer geopolitischen Neutralität scheint sich auch Indien verschreiben zu wollen. Allerdings sind dort die Motive eher davon beeinflusst, dass man einen langjährigen Verbündeten im Bereich der Militärhilfe, und bei der Unterstützung – auch der diplomatischen Unterstützung im Sicherheitsrat beim Kaschmirkonflikt mit Pakistan - nicht verprellen möchte. Insbesondere der Besuch des pakistanischen Premierministers Imran Khan in Moskau zum Zeitpunkt der Invasion führte zu verstärkter Nervosität auf indischer Seite. Darüber hinaus benötigt Indien die Unterstützung Russlands im Grenzkonflikt mit China.
Wie die Haltung der beiden nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, Indien und VAE, zeigen, sind die Positionen nicht nur beeinflusst von der eigentlichen Thematik, sondern auch im weiteren geopolitischen Kontext zu beurteilen.
Während die Generalversammlung weiter an einem Resolutionstext arbeitete, widmete sich zeitgleich der Sicherheitsrat der humanitären Lage. Frankreich und Mexiko werden eine Resolution einbringen, die den Respekt des humanitären Völkerrechts einfordert sowie den uneingeschränkten Zugang der humanitären Hilfe in allen Regionen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Russland im Kontext des Zugangs für humanitäre Akteure in Syrien kann grundsätzlich zunächst von einer Blockade Russland ausgegangen werden. Sollte statt eines Vetos eine Enthaltung erhandelt werden können, hätte eine solche Enthaltung Signalwirkung und könnte durchaus als ersten Etappensieg der Diplomatie verstanden werden.
Der weitere Prozess in der UN-Generalversammlung und die Verabschiedung einer die Invasion verurteilenden Resolution wird historischen Charakter besitzen. Zum einen wird man mit Interesse verfolgen, welchen Grad der Unterstützung Russland von Gleichgesinnten (z.B. Kuba) erhalten wird und ob diese die grundlegende Verletzung der UN-Charta mittragen werden. Welche Staaten der Gruppe der G77 werden sich für Neutralität entscheiden, zu einem Zeitpunkt, an dem Neutralität die Akzeptanz der Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts und der UN-Charta bedeutet?
Und wird es der Staatengemeinschaft gelingen, Kohäsion und Entschlossenheit in der Verurteilung und Sanktionierung auch über einen längeren Zeitraum hinweg zu demonstrieren?
Die zukünftige Relevanz der Vereinten Nationen als Säule der internationalen Friedensarchitektur wird maßgeblich davon abhängen.
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