Der Weg zur Gründung
Schon vor der formalen Einführung der sogenannten Europa-Parteien durch den Vertrag von Maastricht existierten europaweite Parteienbündnisse, die sich allmählich zu transnationalen Parteien entwickelten. So arbeiteten die Christlichen Demokraten bereits ab 1947 zusammen in den „Nouvelles Equipes Internationales“ (NEI) und ab 1965 in deren Nachfolgeorganisation „Europäische Union Christlicher Demokraten“ (EUCD). Eine weitere Ebene der Kooperation war seit 1953 die Christlich-Demokratische Fraktion der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bzw. seit 1958 die CD-Fraktion im Europäischen Parlament.
Im Dezember 1969 hatten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft erneut das Ziel der Abhaltung von Direktwahlen zum Europäischen Parlament gefordert. Sie gaben damit den Impuls zur Gründung einer „Ständigen Konferenz“ innerhalb der EUCD. Dort koordinierten seit Ende April 1970 die Vorsitzenden und Generalsekretäre der Mitgliedsparteien ihre Politik. Die kontinuierliche Abstimmung unter den befreundeten Parteien wurde im April 1972 von der Führungs- auf die Arbeitsebene verlagert; EUCD und CD-Fraktion im EP gründeten ein gemeinsames Politisches Komitee, das zur Keimzelle der EVP wurde. Das Komitee konstituierte sich mit dem Ziel, eine dauerhafte Verbindung zwischen den Parteien und Fraktionen auf nationaler wie europäischer Ebene zu schaffen.
Der Kongress der EUCD im September 1973 betonte die Notwendigkeit zur Bildung einer europäischen Partei und beauftragte den Vorsitzenden der CD-Fraktion im Europäischen Parlament, Hans-August Lücker (CSU), mit der Verfassung eines Berichts über „die Anpassung der Strukturen der europäischen Christlichen Demokraten an die neuen Erfordernisse“. Im Februar 1975 beschloss der Vorstand der EUCD, ein Politisches Programm für eine „Partei der Christlichen Demokraten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft“ erarbeiten zu lassen; im gleichen Jahr begann eine Arbeitsgruppe „Europäische Partei“ unter Leitung von Wilfried Martens (CVP Belgien) und Hans-August Lücker mit konkreten Arbeiten. Entscheidend vorangetrieben wurden die Gründungsbemühungen durch den Beschluss des Europäischen Parlaments im Jahr 1976, Direktwahlen zum Europäischen Parlament in zwei Jahren durchführen zu lassen. Für die Koordinierung eines Wahlkampfes und die Formulierung gemeinsamer Wahlprogramme wurde eine Parteiorganisation als notwendig erachtet.
Eine echte Partei
Am 29. April 1976 wurde das Statut der „Europäischen Volkspartei – Föderation der christlich-demokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft“ vom Politischen Bureau der EUCD angenommen.
Der Name EVP, um den lange gerungen worden war, signalisierte ein wesentliches Element christlich-demokratischer Parteipolitik: den Volksparteigedanken; andere europäische CD-Parteien wie die Partido Popular Spaniens oder die Österreichische Volkspartei führten bereits diesen Namen. Außerdem sollte deutlich gemacht werden, eine echte gesamteuropäische Partei ins Leben rufen zu wollen und nicht ein Parteienbündnis, das ja mit der EUCD schon existierte. Die EVP war im Unterschied zu einer nationalen als föderative Partei gedacht, in der die gewachsenen Strukturen der Mitgliedsparteien respektiert werden sollten. So führte der Zusammenschluss den Titel „Partei“ und der Terminus „Föderation“ fungierte als Untertitel. Die Bezeichnung war bewusst gewählt worden, um die Zusammenarbeit der nationalen Parteien auf der europäischen Ebene zu intensivieren.
Die Gründungsparteien der EVP, die sich angesichts der ursprünglich bereits für 1978 geplanten Direktwahlen zum Europäischen Parlament am 8. Juli 1976 zur konstituierenden Sitzung in Luxemburg trafen, kamen aus sieben Ländern: Belgien (CVP, PSC), Deutschland (CDU, CSU), Frankreich (CDS), Irland (Fine Gael), Italien (DC), Luxemburg (CSV) und Niederlande (KPV, ARP, CHU). Sie wählten den Belgier Leo Tindemans zum ersten Vorsitzenden der Partei. Im März 1978 fand der Erste Kongress in Brüssel statt, auf dem das Politische Programm verabschiedet wurde unter der Devise „Gemeinsam für ein Europa freier Menschen“, basierend auf christlichen Werten und mit einem Hauptakzent auf der Sozialpolitik. Seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 trägt die christlich-demokratische Fraktion im Europäischen Parlament den Namen Fraktion der Europäischen Volkspartei.
Öffnung für die konservativen Parteien
Unklar war von Anfang an, ob nicht nur christlich-demokratische, sondern auch konservative Parteien beispielsweise aus den skandinavischen Ländern zugelassen werden sollten. CDU und CSU favorisierten eine „Strategie der Öffnung“; andere, wie die CD-Parteien der Benelux-Staaten, die eine stärker christlich-soziale Tradition vertraten, bestanden auf einer eindeutigen christlich-demokratischen Identität. Die Spannung zwischen den beiden Positionen begleitete die weitere Entwicklung der EVP.
Erst der Umbruch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989/90 veränderte die Situation grundlegend; die sich daraus ergebende Erweiterung der Europäischen Union um Österreich, Schweden und Finnland sowie die Osterweiterungen machten eine Politik der Öffnung notwendig, um die konservativen Parteien dieser Länder in die EVP zu integrieren. Allerdings war die Aufnahme der italienischen und britischen Konservativen Mitte der 1990er Jahre in die EVP nur gegen massive Widerstände der niederländischen und belgischen Christlichen Demokraten möglich. Die EVP war wegen der Vielfältigkeit ihrer Mitglieder nie eine homogene christlich-demokratische und/oder konservative Partei.
Die EVP heute
Im 1992 verabschiedeten Grundsatzprogramm wie auch in ihren Aktionsprogrammen tritt die EVP für eine föderale und demokratische Europäische Union ein. Für sie bedeutet Europa eine politische, geistige und kulturelle Wertegemeinschaft, in der der Einzelne seine Persönlichkeit frei entfalten kann.
Die EVP umfasst zurzeit 82 Mitgliedsparteien und Partner aus 43 Ländern. Sie stellt seit 1999 die größte Fraktion im Europäischen Parlament mit 177 Mitgliedern. Vorsitzender der EVP ist seit 2019 der polnische Politiker Donald Tusk.
Gemäß Art. 17 der Satzung der EVP gibt es Vereinigungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen: Europäische Union Christlich-Demokratischer Arbeitnehmer, Europäische Kommunal- und Regionalpolitische Vereinigung, Europäische Frauenunion, Europäische Mittelstandsunion, Europäischer Arbeitskreis Christlich Demokratischer Juristen, Europäische Senioren-Union, Jugend der Europäischen Volkspartei, Europäische Demokratische Studenten.
Offizieller „Think Tank“ der EVP ist das Centre for European Studies (CES) in Brüssel, eine politische Stiftung auf europäischer Ebene.
Literatur:
- Michael Borchard (Hrsg.), Deutsche Christliche Demokraten in Europa. Sankt Augustin/Berlin 2021.
- Jansen, Thomas: Die Entstehung einer europäischen Partei. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung der EVP, Bonn 1996.
- Jansen, Thomas: Art. Europäische Volkspartei (EVP), in: Winfried Becker / Günter Buchstab u. a. (Hg.), Lexikon der christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002, S. 514-516.
- Jansen, Thomas/Van Hecke, Steven: At Europe´s Service. The Origins and Evolution of the European People´s Party. Berlin 2011.
- Veen, Hans-Joachim/Altzermatt, Urs/Jansen, Thomas/Welle, Klaus: Schweiz, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Europäische Demokratische Union (EDU), Europäische Volkspartei (EVP). Paderborn 2000 (Christlich-demokratische und konservative Parteien in Europa, Bd. 5).