Wolodymyr Selenskyj und das „Se“-Phänomen
In Talk Shows, die allabendlich die Fernsehsender fluten, wartete man auf Selenskyj vergeblich. Dieser führte seinen Wahlkampf vor allem über die sozialen Medien, insbesondere jungen Wählern gefielen seine frische neuartige Kampagne, sein jugendlich frecher Stil und die vermeintlich fehlende Bindung an das „System“. Inhaltlich blieb er immer vage und holte sich erst im bereits fortgeschrittenen Wahlkampf Beratung von Fachleuten und einigen wenigen Politikern. Eines der wenigen Interviews, das er im März gab, wurde wegen Unkenntnis wichtiger Politikfelder zu einem Fiasko. Als er kurz darauf auf You-Tube auch noch Lehrern Gehälter von 4.000 US$ monatlich versprach (bei derzeit ca. 250 US$) erntete er viele hämische Kommentare. Dennoch hat er den Einzug in die Stichwahl mit 30,4 Prozent geschafft, seit Januar hatte er in den Umfragen konstant bei ca. 25% gelegen und die bis dato führende Julia Timoschenko abgelöst. Er verkörpert das „neue Gesicht“ in der Politik, das viele Menschen von den drei Staffeln seiner Fernsehserie „Diener des Volkes“ kennen. In ihr spielt er einen einfachen Lehrer, der durch eine Kampagne in den sozialen Medien unerwartet zum Präsidenten der Ukraine gewählt wird. So wie möglicherweise jetzt im realen Leben. Die 3. Staffel der Serie kam dann auch pünktlich wenige Tage vor dem 31. März ins Fernsehen, ausgestrahlt vom Sender 1+1, der seinem mutmaßlichen Sponsor, dem Oligarchen Ihor Kolomoyjski gehört. Der erklärte, die Ausstrahlung der Fernsehserie hätte rein gar nichts mit ihm als Kandidaten zu tun, er sei dort lediglich Schauspieler. Am 30. März brachte derselbe Sender noch eine Eigenproduktion über den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in Anspielung darauf, dass auch in der Ukraine Schauspieler Präsidenten werden können. Durch die Sendung führte Wolodymyr Selenskyj.
Erfolg hatte er bei den Wählern auch mit seiner Vision - ein Traumland Ukraine ohne Korruption zu erschaffen. Hier wurde er dann in seinem ansonsten sehr dünnen Programm etwas konkreter: er habe vor die Parlamentarier von ihrer Immunität zu befreien um Ermittlungen in Korruptionsfällen zu ermöglichen. Auch wenn er außenpolitisch einen pro-westlichen Kurs vorgibt, so ist er bislang ein Unbekannter und wäre als politikferner und schwacher Präsident durch sein Umfeld möglicherweise leicht zu manipulieren.
Petro Poroschenko und der Kampf um Stabilität.
Poroschenko ist im Unterschied zu Selenskyj ein politisches Schwergewicht, seit 1998 in der nationalen Politik, mehrfach Abgeordneter der Verchovna Rada, unter Präsident Juschtschenko an der Spitze des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und Außenminister, kurzzeitig Wirtschaftsminister unter Präsident Janukowitsch, seit 2014 Präsident der Ukraine.
Im Wahlkampf profilierte er sich als Garant für Stabilität, die Fortführung der innenpolitischen Reformen und den Kurs des Landes in Richtung EU und NATO. Von westlichen Regierungen wird er als zuverlässiger Partner geschätzt, auch wenn ihm Halbherzigkeit im Kampf gegen Korruption seit Jahren vorgeworfen wird. In seine Amtszeit fallen die jüngst erzielte Autokephalie der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die Autonomiepolitik für Krimtataren, Visaliberalisierung für Reisen in die EU und wichtige Reformen wie Dezentralisierung, im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Landesverteidigung und im Grenzschutz. Dennoch ist er hinter den Erwartungen der Menschen zurückgeblieben, insbesondere bei der Anpassung der Lebensverhältnisse und der allgegenwärtigen Korruption. Noch im März wurde ein Korruptionsskandal bei der Beschaffung von Ausrüstung für die Verteidigungsindustrie aufgedeckt, in den sein unmittelbares Umfeld verstrickt war.
Im Wahlkampf hatte er sich in den letzten 4 Wochen dennoch immer wieder auf den 2. Platz vor Julia Timoschenko schieben können, eine Position, die er in der letzten Woche ausbauen konnte. Die Kampagne in der letzten Woche „Denk nach“ richtete sich indirekt gegen Selenskyj und für eine vernunftbetonte Wählerentscheidung.
Timoschenko zum dritten Mal gescheitert.
Julia Timoschenko ist wie Poroschenko dem politischen Establishment zuzurechnen, seit 1996 in der nationalen Politik, bis heute Abgeordnete der Rada und Vorsitzende ihrer Partei „Batkiwschtschyna“, für die sie auch wieder angetreten ist. Zweimal war sie bereits Premierministerin, zweimal Präsidentschaftskandidatin, 2010 knapp und 2014 weit unterlegen. Seit 10 Jahren hatte sie die Präsidentschaft fest im Blick, dieser 3. Versuch sollte zum Sieg führen, den ihr alle Umfragen bis Dezember letzten Jahres auch verhießen.
Ihren Wahlkampf hatte sie noch im Sommer letzten Jahres begonnen mit besonderem Fokus auf die prekäre wirtschaftliche Lage vieler Ukrainer, das Durchschnittseinkommen ist seit 2014 von 450 auf 380 US-Dollar gefallen. Auf landesweiten Foren stellte sie ihr Wirtschaftskonzept, ihre Pläne einer Verfassungsreform und ihren Friedensplan für den Krieg im Donbass vor. Im Westen löste ihr Vorschlag eines erweiterten Normandie-Formats mit den Unterzeichnern des Budapester Memorandums USA und Großbritannien sowie China allerdings nur Kopfschütteln aus. Auch ihr Vorschlag, die Gastarife für private Haushalte zu halbieren, entbehrte jeder finanziellen Grundlage. Ihrem politischen Gegner Poroschenko und seinem Umfeld drohte sie im März mit Strafverfolgung, sollte sie die Wahlen gewinnen. Es ist davon auszugehen, dass sie das Ergebnis anfechten wird. Bei den Parlamentswahlen im Oktober könnte ihre Partei entsprechend dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen deutlich hinzugewinnen.
Wahlverlauf
1127 internationale Wahlbeobachter hatten sich akkreditiert, viele davon als Langzeitbeobachter. Am Montagnachmittag wird die OSZE ihr Resümee zu Verstößen im Wahlkampf und Unregelmäßigkeiten am Wahltag bekanntgeben. Beobachter hatten in den letzten Tagen immer wieder davor gewarnt, dass es zu Protestaktionen der unterlegenen Kandidaten kommen würde. In den letzten Wochen hatte der paramilitärische „Nationalnyj korpus“ insbesondere Kundgebungen von Poroschenko gestört und sich Handgemenge mit der Polizei geliefert. Der Wahltag im Kiewer Regierungsviertel war dagegen bei frühlingshaften Temperaturen äußerst ruhig.
Die technischen Kandidaten
Neben weiteren realen Kandidaten wie Anatolij Gritsenko (7,1), Jurij Bojko (11,6), Oleh Ljaschko (5,1) und Ruslan Koschulinskij (1,6) gab es eine Vielzahl so genannter „technischer“ Kandidaten.
Es ist davon auszugehen, dass sich etwa die Hälfte von ihnen lediglich für die Parlamentswahlen warmlief und damit versuchte ihren Bekanntheitsgrad und den ihrer Partei zu steigern. Andere wie Sergej Taruta und Andrij Sadovyj schwenkten rechtzeitig ins Lager eines aussichtsreichen Kandidaten um, in dem Fall zu Timoschenko bzw. Gritsenko. Wieder andere wurden lediglich instrumentalisiert und finanziert, um den Amtsinhaber zu attackieren oder – im Gegenteil – ihn zu unterstützen. Einige wenige hatten einfach „Spaß an der Sache“, wie der Kandidat, der als Wahlprogramm ein Gedicht einreichte, noch dazu ein vom Nationaldichter Taras Schewtschenko gestohlenes.
Aussichten für die Stichwahl
Die besten Aussichten hat nach diesem Ergebnis Wolodymyr Selenskyj. Bisher sagen alle Prognosen seinen Sieg im zweiten Wahlgang gegen den derzeitigen Amtsinhaber voraus. Ausgemacht ist das aber noch nicht. Manche Experten prophezeien dagegen, dass sich die Anti-Establishment Wähler im zweiten Wahlgang doch für eine sicherere Zukunft und für den aktuellen Präsidenten entscheiden könnten. Poroschenko wäre zwar nur das „geringere Übel“, aber seine diplomatische Erfahrung wäre in Zeiten, wo ein Krieg im Osten des Landes herrsche doch besser als ein Präsident, der über keinerlei politische Erfahrung verfügt.
Nach den ersten Exit-Polls am Wahlabend hörte man aus dem Umfeld von Timoschenko, sie wolle Selenskyj in der Stichwahl unterstützen. Gritsenko gab an, er könne keinen der beiden Kandidaten seinen Wählern empfehlen.
Die Reaktionen der beiden Gewinner nach den ersten Hochrechnungen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Während Selenskyj optimistisch begann „Heute beginnt ein neues Leben, ohne Korruption“, hob der aktuelle Präsident die Schwäche seines Kontrahenten hervor. Bei der Pressekonferenz nach Bekanntgabe der Ergebnisse bezeichnete Poroschenko ihn als „weichen, unterwürfigen, schwachen, lächerlichen und unerfahrenen, politisch instabilen Präsidenten, genau wie es sich Putin wünschen würde.“. Ferner gestand sich Poroschenko ein, er fühle keine Euphorie, sondern das Ergebnis sei eine harte Lektion für ihn und die Autoritäten als Ganzes“.
Es wird ein Wettlauf um die Zukunft der Ukraine. Die Stichwahl findet am 21. April statt.
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