Ausgabe: 4/2018
Ai: Ai: Herr Wientzek, der Ausstieg der USA aus internationalen Verträgen, der Vormarsch autoritärer Kräfte, Spaltungstendenzen innerhalb Europas – so mancher sieht angesichts dieser Entwicklungen bereits das Ende der liberalen Weltordnung gekommen. Zu Recht?
Olaf Wientzek: Wir erleben in der Tat einen graduellen Wandel, was das internationale Machtgefüge betrifft. Möglicherweise befinden wir uns tatsächlich in einer Art Übergangszeit hin zu einer neuen Weltordnung. Was die von Ihnen genannten Beispiele betrifft, drei Anmerkungen: Erstens muss man temporäre und strukturelle Veränderungen voneinander unterscheiden. Beispiel: Der Ausstieg der USA aus internationalen Verträgen ist nicht unwesentlich mit der aktuellen Führung verbunden und muss kein Dauerphänomen sein. Die Forderung der USA nach einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement an ihre europäischen Verbündeten ist hingegen altbekannt und wird sich eher noch verstärken. Zweitens sollte man die Widerstandsfähigkeit der bestehenden Strukturen nicht unterschätzen. Der voraussichtliche Austritt eines Mitgliedstaats – Großbritannien – aus der EU hat bislang nicht zu einem Dominoeffekt bei anderen Mitgliedstaaten geführt. Eher hat dieser Schritt eine abschreckende Wirkung gehabt. Die Entschlossenheit, die EU zusammenzuhalten, hat seitdem bei den wichtigsten Akteuren eher noch zugenommen. Drittens ist noch nicht gesagt, dass ein Wandel der etablierten Weltordnung gleichbedeutend ist mit dem Zusammenbruch aller bestehender Strukturen und Allianzen. Trotz aller Krisen ist der Zerfall der EU in den kommenden Jahren ein unwahrscheinliches Szenario.
Ai: Mit der Forderung nach einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement der Europäer sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Aktuell wird der EU – übrigens nicht nur von amerikanischer Seite – vorgehalten, dass sie den USA die Rolle des Weltpolizisten nur allzu bereitwillig überlassen und nun der Schwächung des liberalen Gefüges kaum etwas entgegenzusetzen hat. Ist die EU – auch vor dem Hintergrund der Vielzahl interner Probleme – überhaupt in der Lage, die Lücke, die der Rückzug der USA reißt, zu füllen?
Olaf Wientzek: Komplett ist diese Lücke zumindest kurzfristig nur schwer zu füllen. Die Antwort muss je nach Politikbereich unterschiedlich ausfallen. Im Bereich der Handelspolitik hat die EU eine gute Figur abgegeben, seitdem TTIP auf Eis gelegt wurde: Abschluss von Freihandelsabkommen u.a. mit Kanada und Japan, das Abkommen mit Mexiko ist nahe am Abschluss. Das fällt auch deshalb leichter, weil die EU-Handelspolitik eine Gemeinschaftspolitik ist, d. h. supranational und nicht nach dem Einstimmigkeitsprinzip erfolgt. Was die Sicherheitspolitik angeht, wäre ich skeptischer: Hier ist zwar in den vergangenen zwei Jahren viel passiert, von „strategischer Autonomie“ ist die EU jedoch noch meilenweit entfernt. Hier ist der Rückstand noch erheblich. Das Thema sollte deshalb einer der Schwerpunkte in der nächsten europäischen Legislaturperiode sein. Erschwerend wirkt, dass die Außen- und Sicherheitspolitik nach wie vor inter-gouvernemental geregelt ist: Für Entscheidungen braucht es Einstimmigkeit unter allen EU-Mitgliedstaaten.
Ai: Die Uneinigkeit zwischen den Regierungschefs ist das eine, die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, solche Entscheidungen mitzutragen, das andere. Auf dem ganzen Kontinent hat die EU-Skepsis zuletzt deutlich zugenommen. Ist das nicht das viel größere Problem?
Olaf Wientzek: So allgemein formuliert stimmt das aus meiner Sicht nicht. Auf der einen Seite gewinnen in vielen – aber nicht in allen – EU-Ländern europakritische und populistische Kräfte an Gewicht. Auf der anderen Seite hat die Zustimmung zur EU im Nachgang des Brexit wieder deutlich zugenommen. Wie auch die letzten Eurobarometer gezeigt haben, ist der Großteil der EU-Bürger nicht gegen die europäische Integration an sich – wobei es hier zwischen den Ländern durchaus signifikante Unterschiede gibt. Vielmehr sind viele Bürger nicht mit der Prioritätensetzung der EU einverstanden. Der Eindruck besteht, dass die EU – die eine gut geölte Gesetzgebungsmaschine ist – viele Details regelt, die von den Bürgern als weniger wichtig angesehen werden. In Bereichen, in denen es seit Jahren viel Zustimmung für „mehr Europa“ gibt – etwa bei innerer wie äußerer Sicherheit–, ist das Angebot der EU hingegen bescheiden. Da fehlen ihr sowohl die Gesetzgebungs- als auch die Umsetzungskompetenzen. Entsprechend wäre eine stärkere Rolle der EU in diesen Fragen wichtig. Ohne eine weitere Aufgabe nationaler Souveränität wird das aber nicht möglich sein.
Ai: Ein stärkeres Engagement der EU braucht, wie Sie sagen, verlässliche Partner in der Welt. Wer sind aus Ihrer Sicht denn mögliche Partner?
Olaf Wientzek: Auch nach dem Brexit hat die EU ein großes Interesse an einer engen Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich. Die USA bleiben trotz aller aktuellen Schwierigkeiten als Partner unverzichtbar. Und dann natürlich Länder, die sich dem Wertekanon der freiheitlichen Welt verbunden fühlen wie Japan, Kanada, Australien, Neuseeland, Mexiko oder die Mercosur-Staaten. Das freiheitlich-demokratische Leitbild, wie die EU es vertritt, wird künftig stärker von alternativen, autoritäreren Modellen herausgefordert werden. Wenn wir wollen, dass internationale Normen künftig durch unsere Werte geprägt werden, sind all diejenigen Länder Partner, mit denen uns nicht nur viele gemeinsame Interessen, sondern auch gemeinsame Werte verbinden. Vorausschauend sollte man solche Partnerschaften unbedingt auch mit Schlüsselländern Subsahara-Afrikas schmieden, die diese Kriterien erfüllen. Darüber hinaus kommen – je nach Politikfeld – grundsätzlich alle in Frage, die eine internationale regelbasierte Ordnung, internationale Institutionen und multilaterale Lösungen für globale Herausforderungen unterstützen. Im Bereich der Klimapolitik ist das beispielsweise auch China, wobei ich da in einigen anderen Politikbereichen deutlich skeptischer bin. Wichtig ist, Gesprächsformate, die diese Ordnung beibehalten möchten, zu stützen, etwa das ASEM (Asia--Europe Meeting). Wenn wir von der globalen Ebene auf die unmittelbare europäische Nachbarschaft gehen, muss man sicherlich die Ukraine und auch die Türkei nennen. Eine weitere Verschärfung der wirtschaftlichen oder der politischen Krise in der Türkei hätte für die EU schwerwiegende Folgen. Ein Erfolg des politischen und des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in der Ukraine könnte dagegen zur Stabilisierung und Entwicklung der gesamten östlichen Nachbarschaft der EU beitragen.
Ai: Bleiben wir doch einen Moment beim Thema Autoritarismus, von dem die EU ja sowohl von außen als auch von innen herausgefordert wird. Die punktuelle Zusammenarbeit mit autoritären Systemen ist, wenn ich Sie richtig verstehe, eine pragmatische Entscheidung und in einzelnen Politikfeldern unerlässlich. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, wie die EU mit autoritären Tendenzen und Regimen grundsätzlich umgehen sollte, wenn sie im Wettstreit der Systeme und damit im Kampf um die liberale Weltordnung bestehen will. Eine befriedigende Antwort scheint da bislang noch nicht gefunden – zumal autoritäre Tendenzen auch in einzelnen Mitgliedstaaten auf dem Vormarsch sind.
Olaf Wientzek: Sie nennen hier zwei unterschiedliche Aspekte: Erstens den Umgang mit autoritären externen Partnern, zweitens den Umgang mit autoritären Tendenzen innerhalb der EU. Konzentrieren wir uns vielleicht erst einmal auf die äußere Dimension. Es ist schwer, hier eine allseits gültige Regel zu formulieren. In einigen Regionen hat die EU nur die Wahl zwischen miteinander konkurrierenden autoritären Staaten. Gerne wird hier die Abwägung zwischen Interessen und Werten beschworen. Oder aber diejenige zwischen Reform und Resilienz. Langfristig sehe ich hier keinen Gegensatz. Wenn wir über unsere unmittelbare Nachbarschaft sprechen, so glaube ich, dass es ohne eine demokratische politische und wirtschaftliche Transformation dieser Länder langfristig keine Stabilität geben wird. Es ist daher im ureigensten Interesse der EU, Bemühungen der Ukraine, von Marokko, Georgien oder Tunesien um eine Reform von Wirtschaft und Politik nach Kräften zu unterstützen. Hier sollte noch viel mehr passieren, gerade gegenüber den Ländern der südlichen Nachbarschaft. Ich halte das Narrativ von Stabilität durch Autoritarismus langfristig auch für eine Mär. Kurz: Dort, wo wir die Wahl haben, so etwa in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, sollten wir die demokratischen Bestrebungen fördern.
Ai: Wie kann das aus Ihrer Sicht am ehesten gelingen? Wie kann die EU ihre unmittelbare Nachbarschaft angesichts schwieriger Rahmenbedingungen davon überzeugen, dass demokratische Reformen einer Wendung z. B. hin zum Autoritarismus vorzuziehen sind?
Olaf Wientzek: Trotz durchaus berechtigter Sorgen um die Verbreitung autokratischer Diskurse sollte man die Strahlkraft der EU nicht unterschätzen. Die Erfolgsbilanz der EU kann sich durchaus sehen lassen. Von außen wird das mitunter auch stärker anerkannt als in der EU selbst. Man betrachte nur die lange Friedensperiode in den Ländern der EU. Das ist zwar ein überstrapaziertes Beispiel, aber es wird dadurch nicht weniger wahr. Der erfolgreiche politische und wirtschaftliche Transformationsprozess der postkommunistischen Länder Mittelosteuropas und auch des Baltikums zeigt gleichfalls die Stärke des europäischen Modells. Natürlich gibt es in diesen Ländern auch Abwehrreaktionen und problematische Entwicklungen. Die Demokratie in diesen Ländern ist dennoch weit gefestigter als in anderen Transformationsregionen dieser Welt, man schaue allein auf den postsowjetischen Raum jenseits des Baltikums.
Wir in der EU und in der westlichen Welt neigen bei allen unbestrittenen Problemen zu übertriebenen Selbstzweifeln. Ironischerweise ist das sogar ein gutes Zeichen, denn es zeigt, dass (selbst-)kritische Stimmen ungehindert zu Wort kommen. Das erfolgt in autoritären Ländern nicht oder kaum. Ob die Alternativmodelle als so erfolgreich angesehen werden, würde ich ebenfalls bezweifeln. Jedenfalls hat noch keines der Länder des westlichen Balkans oder Osteuropas aus freien Stücken seine europäischen Ambitionen aufgegeben, um sich etwa der Eurasischen Wirtschaftsunion anzuschließen. Selbst Armenien, das diesen Schritt unter starkem politischem Druck machen musste, und Weißrussland senden starke Signale einer Annäherung Richtung EU.
Ai: Nichtsdestotrotz erleben wir, wie autoritäre Kräfte gerade in Osteuropa ungeahnte Erfolge feiern und die demokratische Verfasstheit und Rechtsstaatlichkeit einzelner Länder schrittweise untergraben. Diese Entwicklungen bedeuten vielleicht keinen Austritt dieser Staaten aus der EU, aber eine gefährliche Abkehr von den gemeinsamen europäischen Werten, was wiederum Auswirkungen auf die normative Strahlkraft der EU nach außen haben kann. Noch dazu, wenn der EU – so der Eindruck – keine effektiven Mittel zur Verfügung stehen, um solchen gefährlichen Tendenzen im Innern entgegenzuwirken.
Olaf Wientzek: Ihr Einwand ist berechtigt. Die EU war allerdings nicht untätig: Mit Unterstützung der meisten Mitgliedstaaten hat die Kommission ja auch auf den besorgniserregenden Umgang mit dem Rechtsstaat durch die aktuelle polnische Regierung reagiert. Im Übrigen: Vieles konzentriert sich derzeit auf Polen und Ungarn. Die sehr bedenklichen Entwicklungen in Rumänien erfahren aus meiner Sicht viel zu wenig Aufmerksamkeit. Ich halte im Übrigen auch die „alten“ Mitgliedstaaten nicht für immun gegenüber solchen Entwicklungen. In der Tat ist das bestehende Instrumentarium der EU hier bislang nicht ausreichend. Es gibt zum einen die Kopenhagener Kriterien im Rahmen des Beitrittsprozesses. Dann ist da noch die Artikel 7-Prozedur, die jetzt wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gegen Polen und Ungarn in die Wege geleitet wurde und an deren Ende ein Stimmentzug stehen kann, was aber sehr unwahrscheinlich ist. Diese Instrumente reichen nicht. Zunächst einmal muss sich die EU regelmäßiger mit der Lage der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten auseinandersetzen – und nicht erst, wenn die Krise schon da ist. Deshalb brauchen wir meines Erachtens erstens eine jährliche Bestandsaufnahme des Zustands der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten und zweitens die Möglichkeit, EU-Gelder zu reduzieren, wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die Gerichte unabhängig sind. Die EU ist eben auch eine Rechtsgemeinschaft und nicht nur eine Wirtschafts- und Solidargemeinschaft. Das wird gern vergessen.
Ai: Der bestehende Instrumentenkasten der EU müsste Ihrer Ansicht nach also dringend erweitert werden. Welche Mitgliedstaaten wären in Ihren Augen am ehesten in der Lage, derartige Reformen innerhalb der EU voranzutreiben?
Olaf Wientzek: Eine Unterstützung sowohl durch Deutschland als auch Frankreich wäre unabdingbar. Aber das wäre nicht genug: Wir sehen immer wieder, dass in einer EU der 27 ein funktionierendes deutsch-französisches Tandem eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für eine funktionierende EU ist. Es bedarf mithin der Unterstützung weiterer EU-Staaten. Neben anderen haben sich beispielsweise Belgien, Schweden und die Niederlande in den letzten Monaten für einige dieser Ideen oder für ähnliche Vorschläge ausgesprochen. Gerade bei einem solch sensiblen Thema sollte man sich auf eine möglichst breite Allianz stützen können. Einige Mitgliedstaaten – nicht nur Polen und Ungarn – sind gegen solche Ideen. Interessanterweise werden deren Vorbehalte aber nicht von allen mittelosteuropäischen Ländern geteilt.
Generell gilt: Es bedarf breiterer Allianzen. Wir neigen bisweilen in Berlin dazu, uns allein auf Frankreich zu fixieren. Klar ist: Frankreich bleibt der wichtigste Partner in der EU. Aber der Austausch mit und das Einbeziehen von Partnern wie Italien, Polen, -Spanien, den Niederlanden und den nordischen Ländern müsste intensiviert werden.
Ai: Deutschland sollte also eine aktivere Rolle spielen. Wie sähe diese konkret aus? Und sehen Sie in Deutschland momentan überhaupt die Bereitschaft, hier einen aktiveren Beitrag zu leisten?
Olaf Wientzek: Erstens hat Deutsch-land als größter Mitgliedstaat und Gründungsmitglied die Pflicht, in der EU – in partnerschaftlicher Art und Weise – zu führen und Impulse zu verleihen. Es liegt im deutschen Interesse, die EU in Ihrer Gesamtheit zusammenzuhalten und auch Rufen nach einer zu schnellen Abkapselung eines Avantgarde-Kerns zu widerstehen.
Zweitens leiten sich aus dieser Führungsrolle Pflichten ab. Deutschland sollte sich besonders der Wahrung der Grundwerte der EU verpflichtet fühlen. Deutschland muss gleichzeitig mehr als andere vorbildlich bei der Regelerfüllung sein. Jeder Regelverstoß durch Deutschland hat verheerende Wirkungen.
Drittens sollte sich Deutschland gerade im außenpolitischen Bereich noch mehr engagieren. Das wird von den übrigen Mitgliedstaaten erwartet. Das heißt: die notwendigen finanziellen Ressourcen im Verteidigungsbereich bereitstellen, aber auch den politischen Willen, sich – u.a. in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU – auch militärisch stärker zu engagieren. Das ist eine in Deutschland gerade wenig populäre Forderung, aber daran führt kein Weg vorbei, wenn wir bei Frankreich und anderen EU-Verbündeten mehr Vertrauen schaffen möchten. Und ohne mehr gegenseitiges Vertrauen wird es keine wirkliche gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben.
Viertens muss sich Deutschland bewusster werden, dass selbst innenpolitische Entscheidungen erhebliche Auswirkungen auf unsere Nachbarn haben. Dort wird deutsche Innenpolitik aufmerksam verfolgt. Daraus muss der Reflex erwachsen, bei allen Entscheidungen stets die Auswirkungen für die europäischen Partner und die gesamte EU und sogar die westliche Welt zu bedenken. Dieser Reflex fehlt teilweise. Zum Beispiel ist kaum zu unterschätzen, für welche politischen Verwerfungen ein Projekt wie North Stream 2 sorgt – egal wie häufig man betont, dass es sich hier in erster Linie um ein wirtschaftliches Projekt handle.
Ai: Und zu all dem ist Deutschland Ihrer Meinung nach tatsächlich bereit?
Olaf Wientzek: Die Bereitschaft, mehr Verantwortung zu übernehmen, sehe ich in einigen Bereichen durchaus. In der Außen- und Verteidigungspolitik hat sich einiges getan, wenn auch sicher noch mehr möglich wäre. Die Tatsache, dass Deutschland bereit ist, im Gegenzug für eine Stärkung der Konditionalität mehr in den EU-Haushalt zu zahlen, ist ebenfalls ein positives Beispiel. Was bisweilen noch fehlt, ist die Fähigkeit, die Perspektive anderer Länder besser nachzuvollziehen. Zudem gibt es immer mal wieder doch noch den einen oder anderen isolationistischen Reflex. Das hat man sowohl bei der Debatte um CETA als auch um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben gesehen. Das sieht man aber auch in anderen Politikfeldern. Salopp gesagt: Viele träumen nach wie vor davon, dass Deutschland eine Art große Schweiz sein könnte, aber aus meiner Sicht wäre das sehr gefährlich. Um in diesem Zusammenhang auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Wenn Deutschland eine verantwortungsbewusste, wertefundierte, partnerschaftliche Führungsrolle in der EU einnimmt, stehen die Chancen meines Erachtens gut, dass westliche und europäische Normen auch die Welt von morgen prägen. Drückt sich Deutschland allerdings vor dieser Verantwortung, würde das nicht nur die EU nachhaltig schwächen, sondern auch die Krise der liberalen Weltordnung erheblich verschärfen.
Das Gespräch führte Dr. Anja Schnabel.