Ausgabe: 2/2016
Mehr deutsches Engagement im Kampf gegen den Klimawandel, einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der heimischen Kohleverstromung sowie stärkeren Einsatz der Bundesregierung für eine ambitioniertere EU-Klimaschutzpolitik – dies wünscht sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung laut einer von der Umweltorganisation WWF in Auftrag gegebenen Umfrage. Das Pariser Klimaschutzabkommen (PA) hat Erwartungen und Forderungen dieser Art zusätzlichen Schwung verliehen. Als klimapolitischer Vorreiter müsse Deutschland der Welt zeigen, dass es seine nationalen Klimaschutzziele erreichen, die Energiewende meistern, der Elektromobilität zum Durchbruch verhelfen kann und vieles mehr. Aus dieser Perspektive werden auch die mit der Förderung erneuerbarer Energien in Deutschland verbundenen Kosten – im Verlauf des Jahres 2016 wird der Gesamtumfang der seit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 erhobenen EEG-Umlage die Marke von 150 Milliarden Euro erreichen – als indirekte weltweite Entwicklungshilfe unter klima- und energiepolitischen Vorzeichen gerechtfertigt. Denn aufgrund der großen deutschen Weltmarktanteile dürfte die durch das EEG ausgelöste Massenproduktion erheblich zur Kostensenkung erneuerbarer Stromerzeugungstechnologien beigetragen haben.
Wer diese Sicht auf die Dinge anzweifelt, gilt schnell als Pessimist, Industrielobbyist, beharrende Kraft einer vom Wachstumsfetisch geprägten fossilen Welt, phantasielos und unempfänglich für die Botschaft eines heilsbringenden Nachhaltigkeitsnarrativs. Aber sollte nicht gerade angesichts immer neuer CO₂- und Temperaturrekorde weltweit sehr genau und mit kühlem Kopf überlegt werden, auf welchem Wege Deutschland am effektivsten dem internationalen Klimaschutz dienlich sein kann? Es besteht nämlich durchaus die Gefahr, dass Deutschland vor lauter klimapolitischem Ehrgeiz auf den Holzweg gerät. Wo diese Gefahr liegt und was getan werden kann, um die Effektivität und Effizienz deutscher Klimapolitik zu erhöhen, wird im Folgenden erörtert. Hierzu richtet sich der Blick zunächst auf den Inhalt des PA, da dieses ab sofort als zentraler Referenzrahmen für den internationalen Klimaschutz fungieren soll. Ausgehend davon wird die aktuelle klimapolitische Debatte in Deutschland genauer betrachtet und schließlich in einen europäischen und globalen Zusammenhang gestellt.
Der Pariser Klima-Deal: Evolution statt Revolution
Der wichtigste Grund für den erfolgreichen Abschluss des PA beim VN-Klimagipfel im Dezember 2015 (COP21) liegt in der Unverbindlichkeit und im prozeduralen Charakter der Vereinbarungen. Bei der COP15 in Kopenhagen 2009 war der Versuch gescheitert, den Top-down-Ansatz des Kyoto-Protokolls – also die Aufteilung eines gemeinsamen Emissionsbudgets in handelbare Emissionsrechte – auf alle 196 Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change – UNFCCC) zu übertragen. In den Folgejahren wurde daher stattdessen ein Bottom-up-Modell entwickelt, das unter Verzicht auf ein gemeinsames konkretes Emissionsbudget auf freiwilligen nationalen Beiträgen (Nationally Determined Contributions – NDCs) zur Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen (THG) basiert. Als gemeinsames Langfristziel wird im PA die Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter zwei, möglichst 1,5 Grad Celsius, und entsprechend eine schnellstmögliche Reduzierung der globalen THG-Emissionen bis Netto Null im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte festgelegt. Alle Vertragsparteien verpflichten sich dazu, ihre NDCs nach einem (noch auszuhandelnden) einheitlichen Standard transparent und nachvollziehbar in einem Fünfjahresrhythmus vorzulegen. Die NDCs sollen, den Möglichkeiten des jeweiligen Landes entsprechend, so ambitioniert wie möglich sein und bei ihrer Fortschreibung nicht hinter bereits zugesagte Ziele zurückfallen. Diese Ziele sind in nationale Maßnahmenkataloge zu übersetzen. Schlussendlich folgt daraus, dass jeder Staat Herr über die eigenen Klimaziele bleibt und im Falle einer Nichterfüllung keinerlei harte Sanktionen fürchten muss. Als weiches Sanktionsinstrument besteht lediglich die Möglichkeit des öffentlichen Anprangerns (naming and shaming), dessen Wirksamkeit allerdings mit Blick auf bisherige Erfahrungen als sehr gering einzuschätzen ist.
Immerhin überwindet die Zusammenführung aller Staaten zu einem globalen Klimaschutzkonsens die längst obsolete strikte Aufteilung der Vertragsstaaten in Industrie- und Entwicklungsländer, aus der sich nur für erstere eine Klimaschutzverantwortung ableitete. Die Auffassung, dass nun alle Staaten Verantwortung beim Klimaschutz übernehmen müssen, hat sich also durchgesetzt, wobei die sogenannten Industrieländer weiterhin die Führungsrolle durch absolute Emissionsreduzierungen übernehmen sollen, während den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern hierfür mehr Zeit eingeräumt wird. In diesem Sinne erhebt das PA für den Klimaschutz auch keinen Absolutheitsanspruch, sondern stellt ihn neben weitere Entwicklungsprinzipien wie Armutsbekämpfung oder Nahrungsmittelsicherheit. Dabei wird unterstrichen, dass das klimapolitische Ambitionsniveau ärmerer Staaten vom Umfang der Unterstützung durch reichere Staaten abhängt, vor allem in Form finanzieller Ressourcen, technischer Ausstattung und Wissen. Aus Sicht besonders verwundbarer Staaten ist außerdem wichtig, dass dem Aspekt der Anpassung an die Klimawandelfolgen die gleiche Bedeutung zukommt wie der Vermeidung des Klimawandels.
Damit markiert das PA für den internationalen Klimaschutz einen bedeutenden evolutionären, aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit und Sanktionsmechanismen jedoch nicht revolutionären Schritt. Weiter reichende Erwartungen wären indes auch wenig realistisch, denn Staaten neigen erfahrungsgemäß nicht dazu, in zentralen politischen Fragen freiwillig die eigene Souveränität einzuschränken. Vor diesem Hintergrund überrascht auch nicht, dass im Zusammenhang mit dem PA die bislang seitens der Vertragsstaaten gemeldeten beabsichtigten Klimaschutzbeiträge summa summarum das vereinbarte Temperaturziel deutlich verfehlen und eher einem Erderwärmungsszenario von 2,7 Grad Celsius entsprechen.
Folglich ist auch der mit dem PA angestrebte schnellstmögliche Wendepunkt bei den globalen THG-Emissionen noch nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass bis 2040 im Vergleich zu 2013 die weltweite Energienachfrage um rund ein Drittel zunehmen wird – und damit um etwa 16 Prozent auch die THG-Emissionen des Energiesektors. Trotz beachtlicher Zuwachsraten liegt der Anteil erneuerbarer Energien am globalen Endenergieverbrauch derzeit erst bei knapp 20 Prozent. Auch die Ergebnisse der internationalen Zukunftsstudie Delphi Energy Future 2040 des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sprechen von einer Verdopplung des Energiebedarfs bis 2040 gegenüber heute. Gleichzeitig dürften sich die Preise für fossile Energieträger angesichts von Überangeboten, unter anderem aufgrund technischer Möglichkeiten wie der des Frackings, auf einem eher niedrigen Niveau fortschreiben. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass mit der Zeit eine bessere Verknüpfung ökonomischer und sozialer mit klimapolitischen Zielen gelingen wird. Wahrscheinlich ist auch, dass Klimawandelfragen künftig für immer mehr Staaten zu high politics avancieren werden, in dem Maße, in dem ihre zentrale Bedeutung in Zusammenhang mit wirtschafts- und sicherheitspolitischen Aspekten eklatanter wird. Eine in diesem Sinne sich wandelnde Wahrnehmung der Erderwärmung ist beispielsweise mit Blick auf Nordafrika und den Nahen Osten zu erwarten, da sich mit fortschreitendem Klimawandel in Kombination mit dysfunktionalen staatlichen Strukturen der Wasserstress in dieser Region weiter verschärfen dürfte.
Die klimapolitische Debatte in Deutschland: Grenzen des Vorreitertums
Im Nachgang zur COP21 wird die klimapolitische Diskussion in Deutschland von Stimmen dominiert, die auf eine konsequentere Verfolgung nationaler Klimaschutzziele abheben, insbesondere mittels einer forcierten Umsetzung der Energiewende. So soll die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft, also der vollständige Verzicht auf fossile Energieträger, zuvorderst durch eine Umstellung der Energiewirtschaft auf 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2050 ermöglicht werden. In der internationalen Klimapolitik soll Deutschland dadurch als „verlässlicher und glaubwürdiger Partner“ und „ehrlicher Makler“ wahrgenommen werden. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) hat einen Klimaschutzplan 2050 erarbeitet, der „die weiteren Reduktionsschritte im Lichte der europäischen Ziele und der Ergebnisse der Pariser Klimaschutzkonferenz 2015 bis zum Zielwert von 80 bis 95 Prozent im Jahr 2050“ sowie entsprechende Maßnahmen definiert und spätestens im Herbst dieses Jahres beschlossen werden soll. Das Langfristziel des Klimaschutzplans 2050 ist ambitioniert: Für eine Emissionsminderung von 80 bis 95 Prozent müsste Deutschland ab sofort seinen CO₂-Ausstoß um durchschnittlich mindestens 3,5 Prozent pro Jahr verringern. Eine Minderungsrate in dieser Höhe wurde seit 1990 bisher nur als Spitzenwert erreicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Deutschland während der letzten rund 25 Jahre seine THG-Emissionen vor allem Anfang der 1990er Jahre aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels in Ostdeutschland senken konnte. In den darauffolgenden Jahren fielen die jährlichen Minderungsraten deutlich geringer aus, abgesehen von einem stärkeren Rückgang im Jahr 2009 aufgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Seither verharren die Emissionen im Großen und Ganzen auf diesem Niveau. In der Energiewirtschaft sinken die THG-Emissionen zwar langsam aber stetig, in den anderen relevanten Sektoren geht es hingegen kaum voran. Im Verkehr und in der Landwirtschaft beispielsweise konnten während der letzten zwei Jahrzehnte keine nennenswerten Emissionsminderungen erreicht werden – eher ist das Gegenteil der Fall. Deutschland wird sein Minderungsziel bis 2020 wahrscheinlich verfehlen.
Die Emissionsentwicklung in Deutschland verdeutlicht, dass die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Emissionsanstieg alles andere als banal ist, selbst wenn ein Land über entsprechende Spitzentechnologien verfügt. Laut Experten ist für eine solche Entkopplung „nicht nur ein stufenweiser Umbau des Energiesystems auf den Einsatz klimaverträglicher Energieträger (erforderlich), sondern auch die Schaffung des dafür notwendigen politischen, institutionellen, kulturellen und sozialen Rahmens. Dies schließt Verhaltensänderungen auf unterschiedlichen Ebenen ebenso ein wie die Notwendigkeit einer breiten und über den langen Zeitraum konstanten Unterstützung sowie Akzeptanz durch die Bevölkerung“.
Dass die deutsche Bevölkerung derart tiefgreifende Umwälzungen mitträgt, scheint alles andere als gesichert. Die Umsetzung der Energiewende, obwohl noch eher am Anfang als vor ihrem Abschluss stehend, stößt zunehmend auf Widerstände in der Bevölkerung, sei es beim weiteren Ausbau erneuerbarer Energien, der Stromnetze oder auch mit Blick auf die steigenden Strompreise. Letztere betreffen dabei natürlich nicht nur private Haushalte, sondern auch die Unternehmen. Spürbare wirtschaftliche Nachteile im Zuge der Energiewende würde die deutsche Gesellschaft mehrheitlich kaum mittragen, hält man sich die Ergebnisse der im Zweijahresrhythmus durchgeführten Umweltbewusstseinsstudie des BMUB vor Augen. Darin werden die Befragten hinsichtlich ihrer Umwelteinstellungen und ihres Umweltverhaltens unterteilt in:
- Die „Nachhaltigkeitsorientierten“ (14 Prozent der Befragten), die mit umweltbewusstem Denken und Handeln eine Vorreiterrolle einnehmen und davon überzeugt sind, dass eine grundlegende gesellschaftliche Transformation notwendig ist.
- Die „Umweltbesorgten“ (22 Prozent), die den Zustand der Umwelt für sehr bedenklich halten und auf eine ökologische Modernisierung setzen, wobei Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander verbunden werden sollen.
- Die „Orientierungssuchenden“ (20 Prozent), die der Überzeugung sind, dass ein „Weiter so“ nicht möglich ist, wobei sie gleichzeitig unsicher sind, was konkret getan werden kann, und sich um ihren gewohnten Lebensstandard sorgen.
- Die „Wachstumsorientierten“ (17 Prozent), die volles Vertrauen in Marktmechanismen und Wirtschaftswachstum haben und der Überzeugung sind, dass Deutschland in puncto Umwelt- bzw. Klimaschutz auf einem guten Weg ist.
- Die „Umweltpassiven“ (27 Prozent), die sich kaum für Umweltthemen interessieren und wenig Bereitschaft zu nachhaltigem Verhalten zeigen.
Der europäische und internationale Kontext: Schlüssel zu mehr Effektivität und Effizienz
Darüber, dass die deutsche Energiewende für ihre erfolgreiche Umsetzung europäisch eingebettet werden muss, herrscht weitgehend Konsens. Auf der praktischen Ebene tut sich indes bislang wenig. Im Hinblick auf die anvisierte Integration des europäischen Strombinnenmarktes bedarf es aus deutscher Perspektive vor allem einer verstärkten energiepolitischen Koordinierung wie auch einer verbesserten physikalischen Vernetzung mit den elf „elektrischen Nachbarn“. Die gemeinsame Erklärung zur Verbesserung der Stromversorgungssicherheit durch eine verstärkte regionale Kooperation im Rahmen des europäischen Energiebinnenmarktes vom Juni 2015 weist in diese Richtung, muss nun aber schnellstmöglich durch die Umsetzung konkreter Maßnahmen unterfüttert werden. Denn der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland ist der damit verbundenen notwendigen Modernisierung bzw. Erweiterung des Stromnetzes weit voraus. Nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch grenzübergreifend führt dies zu erheblichen Problemen, wie beispielsweise die aktuelle Diskussion um die deutsch-österreichische Stromhandelszone verdeutlicht. Weil Netzkapazitäten zur Durchleitung der Stromüberschüsse aus den norddeutschen Windenergieanlagen nach Süddeutschland und weiter nach Österreich fehlen, empfiehlt die Agentur für die Zusammenarbeit
der europäischen Regulierungsbehörden (ACER), die seit 2001 bestehende gemeinsame Handelszone zu teilen oder zumindest einzuschränken, um eine Überlastung des Leitungsnetzes zu verhindern. Auch die Teilung Deutschlands in zwei Strompreiszonen wird diskutiert. Nach Integration klingt das zunächst einmal nicht.Insbesondere unter klimapolitischen Gesichtspunkten erscheint ein europäisch koordinierter Ansatz zielführender als eine nationale Fokussierung, angefangen bei der Tatsache, dass der deutsche Anteil an den weltweiten Emissionen „nur“ knapp 2,4 Prozent beträgt – Tendenz fallend. Die EU insgesamt kommt immerhin auf einen Emissionsanteil von etwa zehn Prozent, hinter den USA mit knapp 16 Prozent und China an der Spitze mit rund 28 Prozent. Wie Deutschland strebt auch die EU insgesamt bis zum Jahr 2050 eine Emissionsminderung um 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 an. Im Kontext des PA ist dies von zentraler Bedeutung, denn Deutschland ist – wie alle EU-Mitgliedstaaten – zwar auch selbst Vertragspartei des Abkommens, die deutschen Emissionsminderungsbeiträge sind jedoch Teil der gemeinsamen Klimaziele der ebenfalls als Vertragspartei auftretenden EU. Es gibt im Rahmen des PA also keine eigenen nationalen Klimaschutzziele der einzelnen EU-Staaten. Daraus folgt, dass Deutschland zum globalen Klimaschutz am effektivsten durch kluge, konsensfördernde Führung bei der Gestaltung der weiteren EU-Klimapolitik beitragen kann. Hier ist Deutschland angesichts der aktuellen multiplen Krisen und Desintegrationskräfte in Europa (Brexit etc.) besonders gefordert. Denn auch im Bereich der Klimapolitik bestehen zum Teil grundsätzliche Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten. An der Suche nach Kompromissen führt jedoch kein Weg vorbei, wenn Deutschland im globalen Maßstab effektiv Klimapolitik betreiben will. Die Klimaziele der EU bis zum Jahr 2030 stehen zwar vorerst fest und dürften vor dem Antritt der neuen EU-Kommission 2018 nicht erneut zur Debatte stehen. Im Jahr 2018 und abermals im Jahr 2023 steht dann aber gemäß dem PA die erneute Überprüfung der Klimaschutzbeiträge der Vertragsparteien des PA hinsichtlich ihrer Verträglichkeit mit den vereinbarten Langfristzielen an. Auch die EU wird sich dann aufs Neue der Frage stellen müssen, ob das bisherige Minderungsziel von minus 40 Prozent bis 2030 angemessen ist oder verschärft werden sollte. Immerhin hat die EU selbst das 40-Prozent-Ziel als Mindestwert formuliert, eine eventuelle nachträgliche Erhöhung also mitgedacht. Die nächsten deutschen Bundesregierungen sollten die Jahre zwischen 2018 und 2023 daher nutzen, um mit den anderen EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer Zielerhöhung und damit verbundene Lastenausgleiche zu verhandeln. Das wäre zweifelsohne eine effektivere klimapolitische Führung als die in der Rolle des Musterschülers oder Strebers, dem niemand folgen will. Denn dass nicht jede Art deutscher Führung auf positive Resonanz stößt, hat die jüngere EU-Geschichte gezeigt.
Weiter konkretisiert, lohnt sich ein Blick auf den Europäischen Emissionshandel (EU ETS) als zentrales Instrument europäischer Klimapolitik. Der EU ETS umfasst den energiewirtschaftlichen und den industriellen Sektor, die zusammen für etwa die Hälfte aller THG-Emissionen der EU verantwortlich sind. Da die Gesamtmenge an Emissionszertifikaten den Emissionsminderungszielen der EU angepasst ist, stellt der EU ETS grundsätzlich ein treffsicheres klimapolitisches Instrument dar und wird als vergleichsweise unkompliziertes, marktnahes und grenzübergreifendes Regelwerk auch von Wirtschaftsvertretern mehrheitlich bevorzugt. Aus deren Sicht wäre ein weltweiter Emissionshandel bzw. eine vergleichbare CO₂-Bepreisung ideal, um für alle Marktteilnehmer international faire Wettbewerbsbedingungen zu garantieren (level playing field). Dies könnte längerfristig z.B. durch die sukzessive Verknüpfung bereits bestehender Emissionshandelssysteme erreicht werden. Erste Bestrebungen in diese Richtung gibt es bereits. Der EU ETS hat als weltweit größter und bereits seit 2005 bestehender Kohlenstoffmarkt in jedem Fall Potenzial. Um dessen Fortbestand und Verbesserung sollte sich Deutschland daher weiterhin intensiv bemühen und sich mit Beharrlichkeit für eine Ausweitung auf weitere Sektoren einsetzen.
Solange diese Ausweitung noch nicht erreicht ist, sollte Deutschland seine nationalen Anstrengungen zur Emissionsreduzierung stärker auf die durch den EU ETS nicht abgedeckten Sektoren konzentrieren, also insbesondere auf den Verkehrs- und Gebäudesektor, wo große Einsparpotenziale liegen. Das „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ der Bundesregierung, mit dem das selbstgesteckte nationale Emissionsziel von minus 40 Prozent bis 2020 doch noch erreicht werden soll, sieht zusätzliche Emissionsminderungen von insgesamt 62 bis 78 Millionen Tonnen CO₂ vor. Davon fällt jedoch ein Drittel unter den EU ETS, was mindestens theoretisch bedeutet, dass deutsche Emissionseinsparungen in diesem Bereich durch den Zertifikatshandel andernorts in Europa neutralisiert würden. Dies betrifft z.B. die im vergangenen Jahr intensiv diskutierte und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im November 2015 beschlossene sogenannte Braunkohle-Reserve, die ab 2017 die Überführung mehrerer großer Braunkohlekraftwerke in eine bis zum Jahr 2021 vorzuhaltende Kapazitätsreserve vorsieht. Als Vergütung für diese (letztlich wohl nur pro forma bestehende) Reserve werden die Kraftwerksbetreiber schätzungsweise insgesamt bis zu 260 Millionen Euro jährlich erhalten. Diese Kosten werden wiederum auf die Netzentgelte umgelegt und somit von den Stromkunden gezahlt. Der Effekt: Steigende Kosten der Energiewende und damit ein erhöhtes Risiko zurückgehender Akzeptanz in der Bevölkerung..
Ungeachtet der genannten Einschränkungen hat Deutschland als derzeit noch viertgrößte Volkswirtschaft der Welt auch für sich genommen durchaus Gewicht in der internationalen Klimapolitik, was sich vor allem am Interesse vieler Länder an der deutschen Energiewende ablesen lässt. „Wenn es jemand schafft, dann Deutschland“, lautet ein viel zitierter Kommentar. Doch aus dieser Äußerung spricht nicht nur Bewunderung, sondern auch eine gewisse Skepsis und Distanz. So werden die Kosten der bisherigen Umsetzung der Energiewende von den meisten internationalen Beobachtern als sehr hoch bewertet, bestenfalls verkraftbar für ein wohlhabendes Land wie Deutschland. Einen nennenswerten Klimaschutzbeitrag kann Deutschland mit seiner Energiewende aber nur dann leisten, wenn es gelingt, diese auch für andere Staaten als wirtschaftlich attraktives Modell zu präsentieren. Wenn die Energiewende hingegen zum nationalen Selbstzweck verkommt, ist dem Klimaschutz kein Dienst getan. Dies wäre auch insofern tragisch, als Deutschland mit seinen hervorragenden technologischen Voraussetzungen von Klimaschutzmaßnahmen anderer Staaten enorm profitieren kann.
Um hier zusätzliche international wirksame Impulse zu geben, sollte Deutschland seine Kooperationsbestrebungen stärker auf die großen Emittenten-Staaten konzentrieren. Die vier größten unter ihnen (China, USA, Indien, Russland) sind allein für rund die Hälfte der weltweiten THG-Emissionen verantwortlich und könnten aufgrund ihres wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gewichts regional und im Falle der USA und Chinas sogar global zu Treibern eines Wandels hin zu emissionsärmeren, ressourcenschonenderen Wirtschafts- und Lebensweisen werden. Entsprechend sollten sich Kooperationsangebote von deutscher Seite möglichst eng an den in diesen Staaten vorrangigen Motivationen zur Emissionsreduzierung orientieren. So kann sich z.B. der Ausbau erneuerbarer Energien – jenseits des Klimaschutzes – bekanntermaßen auch positiv auf die Versorgungssicherheit eines Landes auswirken, sowohl nach innen, hinsichtlich einer dezentralen Energieversorgung von Bevölkerung und Wirtschaft, als auch nach außen, durch eine verringerte Importabhängigkeit von fossilen Energieträgern. Auf diesen Effekt setzt z.B. die Ukraine im Konflikt mit Russland, bei dem das Thema Gasabhängigkeit eine zentrale Rolle spielt. Für Länder wie China oder Indien sind v.a. auch umwelt- bzw. gesundheitspolitische Faktoren (Stichwort: Luftverschmutzung), Technologieentwicklung und wirtschaftliche Modernisierung von Bedeutung. Auch in den USA wird der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben. Bei amerikanischen Farmern wird hierfür mit dem Schlagwort homegrown energygeworben. Es geht um ländliche Entwicklungsperspektiven, Arbeitsplatzsicherung und Fragen der nationalen Sicherheit. Denn durch mehr Biokraftstoffverbrauch lassen sich der Erdölverbrauch und -import verringern und mittelfristig könnten sogar Erdölexporte in größerem Umfang erreicht werden. Aus deutscher Perspektive gewinnt derweil ein weiterer Aspekt an Bedeutung: Ein zunehmend auf erneuerbare Energien gestütztes Energiesystem, das sich durch stärkere Schwankungen in der Stromproduktion auszeichnet, erfordert eine intelligente Steuerung von Einspeisung, Speicherung, Verteilung und Verbrauch. Daraus ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten für digitale Anwendungen, durch deren Entwicklung Deutschland wertvolles Know-how auf diesem Zukunftsfeld erlangen kann. Durch die gezielte Nutzung und Verstärkung solcher Motivationen kann – quasi als Nebeneffekt – der globale Klimaschutz an Antriebskraft gewinnen und die erforderliche Eigendynamik erlangen, um sich den in Paris formulierten Zielen anzunähern.
Fazit: Mehr Pragmatismus, weniger Alleingänge!
Angesichts des zeitlichen Handlungsdrucks zur Begrenzung der Erderwärmung sollte die deutsche Klimapolitik pragmatischer ausgerichtet werden. Denn die praktischen Grenzen normativer Argumentationen bei einer derart komplexen Herausforderung wie dem Klimawandel hat die VN-Klimadiplomatie der letzten 20 Jahre vor Augen geführt. In der aktuellen Debatte in Deutschland manifestiert sich allerdings in erster Linie ein Vorreiterverständnis, das unilaterales Handeln favorisiert und auf Nachahmung durch andere Staaten setzt. Dieser Ansatz birgt jedoch das Risiko des gegenteiligen Effektes und damit letztlich auch das Scheitern der deutscher Energiewende- und Klimapolitik aufgrund unzureichender Koordination und Kooperation, innerhalb der EU wie auch im globalen Kontext. Gerade weil so viele Staaten mit Interesse auf die deutsche Energiewende schauen, muss Deutschland verantwortungsvoll handeln und die Kostenfrage stärker in den Fokus rücken. Wie so oft hilft hierbei der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus und der Austausch mit europäischen und internationalen Partnern.
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Jasper Eitze ist Koordinator für Energie-, Klima- und Umweltpolitik im Team Politikdialog und Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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