Ausgabe: 1/2023
Der Klimawandel erleichtert die Rohstoffgewinnung in der Arktis und führt durch die Eisschmelze zu einer längeren Schiffbarkeit des Nördlichen Seewegs als Teil der Nordostpassage. Dadurch verändern sich die geopolitischen Gegebenheiten in der arktischen Region. Russland versucht schon seit geraumer Zeit, in der Arktis neue Potenziale im globalen Wettbewerb zu erschließen. Doch der Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Moskau in eine außenpolitische Isolierung geführt, die sich auch auf die Ambitionen im hohen Norden auswirkt. Durch die Sanktionen steht die Zukunft wichtiger Projekte auf dem Spiel – eine Situation, die vor allem China nutzen könnte, um seine seit langer Zeit gehegten Ambitionen in der Arktis zu realisieren. Doch auch von anderer Seite droht in den kommenden Jahren Spannungspotenzial: Mit der Aussicht auf die zunehmende Nutzbarkeit des Nördlichen Seewegs stellt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage nach dem rechtlichen Status der Handelsroute.
Die Macht der Geografie
Die Russische Föderation ist der größte Anrainerstaat der Arktis. Die Gesamtfläche der arktischen Gebiete Russlands beträgt etwa fünf Millionen Quadratkilometer. Bewohnt wird die Region von rund 2,4 Millionen Menschen. Vier der fünf größten Städte der Arktis liegen in der Russischen Föderation, darunter die wichtige Hafenstadt Murmansk. Innerhalb der russischen Arktis selbst bestehen erhebliche Unterschiede – vor allem in der Infrastruktur. Während die Kola-Halbinsel bei Murmansk, der Polar-Ural bei Salechard und die Jamal-Halbinsel relativ gut mit Eisenbahnlinien, Straßen und Tiefwasserhäfen erschlossen sind, führen östlich des Jenisseis weder Straßen noch Zugstrecken in die Kältewüste der Taimyr-Halbinsel, in die Sumpf- und Bergwelten von Nordjakutien sowie zu der Halbinsel Tschukotka. Häfen, Siedlungen und Militäreinrichtungen in diesem Teil der russischen Arktis können häufig nur auf dem Luft- oder Seeweg erreicht werden. Der Nördliche Seeweg bietet die Möglichkeit zur weiteren Erschließung dieser Gebiete zum Zwecke ihrer zivilen und militärischen Nutzung sowie zur Etablierung eines alternativen transkontinentalen Transportwegs für Energielieferungen und Warenströme.
Historischer Abriss
Die Geschichte der Erschließung der russischen Arktisregion war immer schon mit geopolitischen Überlegungen verknüpft. Die Versuche englischer und niederländischer Entdecker, im 16. Jahrhundert über die Nordostpassage einen Seeweg nach Asien zu finden, scheiterten. Dafür endeckten britische Kaufleute die Passage jedoch als nutzbaren Seeweg ins Weiße Meer und zum russischen Hafen Archangelsk. Archangelsk, die Hafenstadt an der nördlichen Dwina, war damals Russlands einziger Zugang zum offenen Meer. Der Handel über die Arktis erlaubte Russen und Engländern eine Umgehung der Ostsee, deren Häfen von Schweden, Dänen und der deutschen Hanse kontrolliert wurden. Der neue Handelsweg führte Mitte des 16. Jahrhunderts zur Gründung der Muscovy Company, einer englischen Handelsgesellschaft für den Handel mit Russland. In London begann man, ein Auge auf das nördliche Sibirien zu werfen. Um eine englische Wirtschaftsexpansion in Richtung der Mündung des Flusses Ob zu unterbinden, verbot Michael I., der erste Zar der Romanow-Dynastie, ab 1620 die Nutzung des arktischen Seewegs nach Sibirien. Infolge des Verbots geriet die arktische Route für Jahrhunderte in Vergessenheit.
Abb. 1: Nördlicher Seeweg und Transpolare Route
Quelle: eigene Darstellung nach Dutzmann, Silke 2011, hier in: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2013: Karte: Der nördliche Seeweg, in: https://bpb.de/172284 [17 Feb 2023]. Karte: © Peter Hermes Furian, AdobeStock.
Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges im Jahr 1721 etablierte sich Russland – unter Peter dem Großen – als Ostsee- und Führungsmacht in Nordosteuropa. Damit ging auch die Bedeutung von Archangelsk als Hafenstadt zurück. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Arktis zwar weiter erforscht, aber aufgrund der klimatischen Bedingungen, abgesehen von Pelzhandel und Fischerei, nicht umfassender wirtschaftlich genutzt. Das größte Hindernis für die wirtschaftliche Nutzung der Arktis war lange Zeit die fehlende Infrastruktur. Ganz Sibirien war bis zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891 bis 1916) verkehrstechnisch kaum erschlossen. Dies galt in weit stärkerem Maß für die Arktis. Die heute größte Stadt am Polarkreis und Russlands wichtigster arktischer Hafen, Murmansk, wurde erst während des Ersten Weltkrieges im Jahr 1916 gegründet. Da die deutsche Kaiserliche Marine Transporte über die Ostsee verhinderte, konnten für Russland bestimmte Hilfs- und Rüstungsgüter der Entente nur über die Nordostpassage befördert werden, die damit wieder geostrategische beziehungsweise militärische Bedeutung erlangte. Auch während des Zweiten Weltkrieges gelangten alliierte Rüstungsgüter über diese Route in die Sowjetunion. Das Unternehmen „Wunderland“, mit dem das Deutsche Reich 1942 diesen Versorgungsweg blockieren wollte, scheiterte.
Die Gewinnung von Bodenschätzen in der russischen Arktis setzte relativ spät ein. Mit dem Abbau von Rohstoffen wurde erst in den 1930er-Jahren unter der Gewaltherrschaft von Josef Stalin begonnen. Parallel dazu kam es zur Erschließung eines Seewegs durch das arktische Meer. Im Jahr 1932 gelang dem Eisbrecher Alexander Sibirjakow die erste Durchfahrt der Nordostpassage ohne Überwinterung. In demselben Jahr wurde die „Hauptverwaltung für den Nördlichen Seeweg“ gegründet – die Geburtsstunde des Nördlichen Seewegs. Unter Ausbeutung Hunderttausender Zwangsarbeiter wurde in den folgenden Jahren die notwendige Infrastruktur für die Nutzung des Seewegs in der russischen Arktisregion geschaffen. Auch entlegene Rohstoffvorkommen konnten damit erstmals zugänglich gemacht werden. Die Entstehung der meisten Häfen in dieser Region geht auf jene Zeit zurück. Der Nördliche Seeweg diente fortan vor allem als innerrussische Wasserstraße, um die arktischen Förderstätten zu erreichen.
Der Tod Stalins setzte der weiteren infrastrukturellen Erschließung der Arktis vorerst ein Ende. Großprojekte wie der Bau einer Polarkreiseisenbahn blieben unvollendet. Was folgte, war hauptsächlich die technische Instandhaltung bestehender Strukturen. Mit der Indienststellung von atombetriebenen Eisbrechern Ende der 1950er-Jahre konnte zudem ein regelmäßiger Schiffsverkehr auf der Nordmeerroute sichergestellt werden. Während des Kalten Krieges spielte die Arktis eine wichtige sicherheitspolitische Rolle, da die verfeindeten Blöcke hier besonders nahe beieinanderlagen. Strategische U-Boote, die mit ballistischen Raketen bewaffnet waren, kreuzten unter dem Eis, waren schwer zu orten und sicherten somit beiden Seiten die Möglichkeit eines Nuklearschlags.
1991 wurde der Schifffahrtsweg für die zivile Schifffahrt freigegeben. Doch infolge des wirtschaftlichen und politischen Chaos nach dem Ende der UdSSR brach die Instandhaltung der arktischen Infrastruktur zusammen. Die Folge war eine weit verbreitete Abwanderung aus den arktischen Regionen. Militäreinrichtungen und Flugplätze wurden stillgelegt. Mit Beginn der staatlichen Rekonstruktionsmaßnahmen in der Russischen Föderation seit den 2000er-Jahren erfuhr das Interesse an der Arktis eine Wiederbelebung. Russlands Rückkehr in die Arktis wurde demonstrativ durch die Nordpolexpedition „Arktika 2007“ markiert, bei der ein U-Boot zum ersten Mal den Meeresboden des Nordpols erreichte und dort eine russische Flagge aufstellte. Die Nutzung des Nördlichen Seewegs rückte zunehmend in den Fokus der russischen Regierung, wozu auch der Klimawandel nicht unwesentlich beitrug.
Russland im Arktischen Rat
Seine Mitgliedschaft im 1996 gegründeten Arktischen Rat nutzte Russland, um sich als führende Arktisnation zu präsentieren. Der Rat soll besonders dem Interessenausgleich zwischen den arktischen Anrainerstaaten und der indigenen Bevölkerung sowie dem Schutz der arktischen Umwelt dienen. Russland hat bis Mai 2023 den Vorsitz im Arktischen Rat inne.
Aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine haben seit 2022 alle anderen Arktisstaaten ihre Mitwirkung im Rat jedoch vorläufig eingestellt – eine Entscheidung, die das russische Außenministerium als „politisiert und irrational“ bezeichnete. Die Russische Föderation ist davon in mehrfacher Hinsicht betroffen: Zunächst wird ein Politikfeld beschädigt, in dem die internationale Bedeutung Russlands noch weitgehend ungebrochen war. Wirtschaftlich steht die Zukunft wichtiger Industrieprojekte und Absatzmärkte Russlands auf dem Spiel. In Wissenschaft und Forschung haben zudem alle westlichen Partner ihre Kooperationen ausgesetzt.
Moskau versucht deshalb einerseits zu betonen, dass mit dem vollzogenen beziehungsweise angestrebten Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO Russland ohnehin das einzige Land des Arktischen Rates sein werde, welches nicht Teil der Nordatlantischen Allianz sei. Während früher der bündnisfreie Status von Stockholm und Helsinki einen Handlungsspielraum geboten habe, werde damit ein einheitlicher, von Washington diktierter NATO-Kurs vorherrschen. Andererseits versucht der Kreml, den Schein der Normalität zu wahren, und entsandte unmittelbar nach der Aussetzung der Arbeit des Arktischen Rates eine wissenschaftliche Expedition, „Umka-21“, auf das Franz-Josef-Land, Russlands nördlichste Inselgruppe, die durch das Eis des Arktischen Ozeans von der Außenwelt getrennt ist. Die Forscher sollten Zählungen und Untersuchungen der Eisbärenpopulation durchführen. Die Expedition umfasste auch eine militärische Komponente. Russland kündigte außerdem an, trotz der Aussetzung der Arbeit des Arktischen Rates die Arbeiten am Projekt „Sneschinka“ (Schneeflocke) von russischer Seite fortzusetzen. Die internationale Arktisstation „Sneschinka“ ist als autonomer Komplex geplant, der auf der Grundlage erneuerbarer Energiequellen und Wasserstoff (ohne Dieselkraftstoff) betrieben werden soll. Als sei nichts geschehen, begrüßte Präsident Wladimir Putin schließlich im August 2022 die Teilnehmer des Festivals „Arktis. Das Eis ist gebrochen“ in Usinsk. Die Durchführung des Festivals gehörte zum Veranstaltungsplan im Rahmen des russischen Vorsitzes im Arktischen Rat und soll der Sauberhaltung der Arktis dienen.
Russland und der Nördliche Seeweg
Der klassische Seeweg von Europa nach Asien führt durch mehrere Meerengen (Straße von Malakka, Straße von Gibraltar) und den Suezkanal. Wie anfällig diese Nadelöhre sind und welche Auswirkungen dortige Krisen oder Unfälle auf die Weltwirtschaft haben können, verdeutlichte zuletzt im März 2021 die Blockade des Suezkanals durch das unter panamaischer Flagge fahrende Containerschiff Ever Given. Erst sechs Tage nach dem Schiffsunfall war der Kanal wieder schiffbar. Der Nördliche Seeweg unterscheidet sich hinsichtlich der Rahmenbedingungen fundamental von der klassischen Route. Er führt über Tausende Kilometer lediglich an Russlands Küsten und Inseln vorbei. Jahrhundertelang war die Nutzung der Nordostpassage als arktischer Seeweg nach Asien durch die klimatischen Bedingungen ausgeschlossen. Das kurze Zeitfenster der Befahrbarkeit machte eine kommerzielle Nutzung nicht lohnenswert. Durch die Klimaveränderung der vergangenen Jahre hat sich jedoch die Zeitspanne der Befahrbarkeit der Nordostpassage mittlerweile bis in den September hinein verlängert, wodurch die Nutzung des Nördlichen Seewegs zunehmend attraktiver wird. Noch ist die Route aufgrund des teuren Einsatzes von Eisbrechern vergleichsweise wenig lukrativ. Dazu kommen die Schwierigkeiten bei der arktischen Navigation. Forscher gehen jedoch davon aus, dass die Nordostpassage bereits 2040 für mindestens neun Monate eisfrei sein könnte.
Es ist das erklärte Ziel Russlands, den Nördlichen Seeweg als alternative Transitroute zum klassischen Seeweg durch den Suezkanal zu etablieren.Präsident Putin erklärte im September 2022 auf dem Wirtschaftsforum in Wladiwostok, dass der Ferne Osten und die Arktis die Regionen seien, in denen die Zukunft Russlands liege. Dort gebe es nicht nur Ressourcen, sondern auch „Zugang zu einer Region der Welt, die sich aktiv und in einem sehr guten Tempo“ entwickle.
Für Moskau ist diese Route sowohl von volkswirtschaftlicher als auch von geopolitischer Bedeutung. Die in der russischen Arktis konzentrierten Rohstoffvorkommen generieren einen überproportionalen Anteil des russischen Bruttoinlandsprodukts. Zahlreiche Förderstätten, wie etwa die Nickelwerke von Norilsk, sind jedoch auf dem Landweg weder per Straße noch über das Schienennetz zu erreichen, weshalb sie ihre Erträge allein über das Nördliche Eismeer verschiffen. Der Ressourcenabbau in der russischen Arktis war daher von Beginn an mit dem Ausbau des Nördlichen Seewegs verknüpft. Neben seiner Bedeutung für die Erschließung und den Abtransport zahlreicher Bodenvorkommen dient diese Route auch den sogenannten Nordlieferungen. Aufgrund der abgeschiedenen Lage versorgt Moskau die isolierten Siedlungen und Städte des Nordens vor Beginn des Winters mit lebensnotwendigen Gütern. Der Satellit Sputnik Skif-D, der Ende Oktober 2022 vom russischen Raumfahrtunternehmen Roskosmos in die Um-laufbahn gebracht wurde, soll den hohen Norden ferner mit Hochgeschwindigkeitsinternet versorgen.
Das Projekt eines Ausbaus des Seewegs bildet einen besonderen Aspekt bei dem politischen Vorhaben der Putin-Administration, die russische Arktisregion weiterzuentwickeln. In den vergangenen Jahren war mit Blick auf den Frachtverkehr auf dem Nördlichen Seeweg ein steigendes Wachstum zu beobachten. Gleichwohl sind Experten skeptisch, wenn es um allzu optimistische Prognosen bezüglich der kommerziellen Schifffahrt in der Arktis geht. Der Krieg gegen die Ukraine und die enormen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Herausforderungen, mit denen Russland infolge der westlichen Sanktionen konfrontiert ist, führen in Moskau derzeit ohnehin zu einer anderen Schwerpunktsetzung. Der Ausbau der Nordroute soll jedoch fortgesetzt werden. Das Projekt wird von der russischen Führung sowohl als unabhängige Transportroute sowie als Bestandteil der chinesischen Seidenstraßenstrategie angesehen.
Die Nordostpassage als Waren- und Transportroute unterscheidet sich vom klassischen Seeweg nach Asien insofern, als sie komplett in der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Russlands liegt. Das bedeutet, dass die Russische Föderation im Rahmen des Seerechts-übereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) in begrenztem Umfang souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse in diesem Teil des Nordpolarmeeres besitzt. Die extremen klimatischen Bedingungen setzen zudem eine Instandhaltung – durch Eisbrecher, Wetterstationen und Seenotrettungsstützpunkte – des Seewegs durch Russland voraus. Für die internationale Schifffahrt ergeben sich daraus sowohl völkerrechtliche als auch geopolitische Konsequenzen.
Im rechtlichen Spannungsfeld
Solange Russland den Nördlichen Seeweg vor allem als nationalen Transportweg nutzte, um an seine Rohstoffquellen in der Arktis zu gelangen, spielten völkerrechtliche Fragen eine untergeordnete Rolle. Mit der zunehmenden Aussicht auf die Nutzung dieser Route als transkontinentaler Seeweg rücken jedoch juristische Fragen in den Vordergrund. Die Rechtslage bezüglich der Nordostpassage ist dabei kompliziert und in weiten Teilen eine Frage der Auslegung. Als Teil des Seevölkerrechts regelt das SRÜ auch die Schifffahrt in der Arktis. Die Russische Föderation gehört zu den Unterzeichnern des Übereinkommens. Für den Nördlichen Seeweg ist vor allem die vertragsrechtliche Lage in der AWZ von Bedeutung. Zwar besitzen fremde Staaten in der AWZ nach Artikel 58 des SRÜ unter anderem das Recht auf freie Schifffahrt ohne vorherige Anmeldung. Russland behält sich für den Nördlichen Seeweg jedoch eine Anmeldepflicht vor. Moskau beruft sich dabei auf Artikel 234 des SRÜ. Demnach sind Gesetze und Vorschriften zur „Verhütung, Verringerung und Überwachung der Meeresverschmutzung durch Schiffe in eisbedeckten Gebieten innerhalb der (AWZ) zu erlassen und durchzusetzen“.
Zudem sind Tanker und Handelsschiffe, welche den Nördlichen Seeweg nutzen, auf die Informationen der entsprechenden russischen Behörden über die Eisbewegungen und Wetterbedingungen sowie unter Umständen auch auf den Einsatz von Eisbrechern angewiesen. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat das russische Verteidigungsministerium Änderungen des Gesetzes über Binnengewässer vorgeschlagen, um neue Regeln für die Durchfahrt ausländischer Schiffe auf dem Nördlichen Seeweg festzulegen. Das Verteidigungsministerium hält es für ratsam, die derzeitige Fassung des Gesetzes um eine Klausel zu ergänzen, nach der ausländische Schiffe und Boote generell eine Genehmigung für die Nutzung des Nördlichen Seewegs beantragen müssen. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017 regelt zudem, dass der Transport und Export (Kabotage) von in der Arktis gefördertem Erdöl, Gas und Kohle auf dem Nördlichen Seeweg nur unter russischer Flagge erfolgen dürfen.
Russlands Ansichten kollidieren dabei sowohl mit denen Chinas als auch mit denen der USA. Diese betrachten die transarktischen Seewege als internationale Schifffahrtswege. Bei solchen greift das Recht auf Transitdurchfahrt (Art. 37 SRÜ) in den entsprechenden Meerengen. Für Moskau stellt der Nördliche Seeweg jedoch einen nationalen Schifffahrtsweg dar. Im Streitfall könnte sich die russische Führung auf das Völkergewohnheitsrecht berufen, da über Jahrzehnte der Nördliche Seeweg als nationaler Schifffahrtsweg Russlands lediglich von den USA infrage gestellt wurde. Zusätzlich hat Moskau seine Position durch die Tatsache gefestigt, dass bei zahlreichen Inselgruppen Artikel 7 des SRÜ, die Ziehung gerader Basislinien, angewendet wurde. Damit werden die Meerengen zwischen wichtigen Inselgruppen gemäß Artikel 8 Absatz 1 des SRÜ de jure zu inneren Gewässern. Von russischer Seite wird zudem häufig das Argument angeführt, dass die Erschließung und Nutzbarkeit des Seewegs überhaupt erst durch Russland ermöglicht wurde.
Diese rechtlichen Fragen bergen Potenzial für zukünftige Spannungen, da das SRÜ durch seine geringe Normdichte durchaus zahlreiche Interpretationsspielräume offenlässt. Grundlegendes Problem ist dabei, dass Teile des internationalen Seerechts unklar formuliert sind. Gerade für eisbedeckte Seeflächen wie in der Arktis fehlt noch ein einheitliches Rechtsverständnis. Letztlich handelt es sich somit um eine politische Frage der Durchsetzungsfähigkeit. Russland besitzt bereits heute die zur Einhaltung der russischen Rechtsauffassung notwendige militärische Präsenz entlang des Nördlichen Seewegs. Die fortlaufenden Gesetzesinitiativen und Äußerungen lassen keinen Zweifel daran, dass Moskau den Nördlichen Seeweg als nationalen Seeweg betrachtet.
Die geopolitische Dimension
Bereits den ersten Versuchen der Niederländer und Engländer im 16. Jahrhundert, einen nördlichen Seeweg nach Asien zu finden, lagen geopolitische Überlegungen zugrunde. Man wollte eine Alternative zu den von Portugal und den Osmanen beherrschten Seewegen nach Asien finden.
Im 21. Jahrhundert eröffnet sich für die Russische Föderation durch den Aufstieg Chinas zunehmend das Potenzial einer Transitmacht zwischen Ost und West. Die Geografie hebt die Russische Föderation zukünftig in eine günstige Position. Es ist davon auszugehen, dass Russland dieses Potenzial spätestens nach einem Ende des Krieges gegen die Ukraine nutzen wird. Die Meerengen der Nordostpassage – etwa die Sannikowstraße bei den Neusibirischen Inseln und die Wilkizkistraße bei der Inselgruppe Sewernaja Semlja – werden allein von Russland kontrolliert. Im Konfliktfall wäre es für die Russische Föderation mit wenig Aufwand verbunden, diese Route zu sperren. Dies wird vor allem im Fall einer Verschärfung des chinesisch-amerikanischen oder chinesisch-indischen Gegensatzes von Bedeutung sein.
Für die Volksrepublik China bietet sich mit dem Nördlichen Seeweg eine alternative Route zum klassischen Seeweg. Dies ist vor dem Hintergrund des chinesisch-indischen Interessenwiderspruchs in Asien insofern relevant, als es für die indische Marine möglich wäre, im Konfliktfall bei den zu Indien gehörenden Andamanen-Inseln den chinesischen Schiffsverkehr zu blockieren. Ähnliches droht bei einem Konflikt mit den USA. Für die chinesische Wirtschaft ist dieser Schifffahrtsweg jedoch notwendig, werden über ihn doch nicht nur chinesische Waren exportiert, sondern auch Öl- und Gaslieferungen nach China transportiert. Aus strategischer Sicht erlaubt die Nordostpassage theoretisch zudem die schnelle Verlegung von Kriegsschiffen aus dem Pazifik in den Nordatlantik und umgekehrt.
Hinsichtlich des Ausbaus der arktischen Infrastruktur befindet sich Russland in einem Dilemma: Moskau verfügt dafür kaum über eigene finanzielle Mittel, der Rückgriff auf ausländische Investoren wäre unumgänglich. Strategisch wäre eine Diversifizierung solcher Investoren sinnvoll, um einen einseitigen Einflussgewinn eines einzelnen Staates in der Arktis zu verhindern. Infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine scheidet der Westen als Investor aus. Peking hingegen ist durchaus gewillt, in den Ausbau des Nördlichen Seewegs zu investieren. Aber auch Indien bringt sich in Stellung: Indische Unternehmen wollen sich an der Erschließung des Erdöl- und Erdgasfeldes Wankor beteiligen.
Und nicht nur das: Während Moskaus Aufmerksamkeit derzeit an der Westgrenze gebündelt ist, mehren sich in jüngster Zeit Berichte chinesischer Einflussnahme auf die nationalen Republiken und autonomen Kreise in der russischen Arktis. Die Tatsache, dass es sich bei den Titularnationen um asiatische Ethnien handelt, spielt China dabei in die Hände. Insbesondere im rohstoffreichen Jakutien, einer Region siebenmal größer als Deutschland, ist seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine eine verstärkte Einflussnahme Chinas zu beobachten.
Die militärische Dimension
Die klimatischen Veränderungen in der Arktisregion bergen für Russland außerdem gänzlich neue wehrgeografische Herausforderungen, die zu den militärischen Herausforderungen im russisch-ukrainischen Krieg hinzukommen. Jahrhundertelang bildete das ewige Eis der Arktis eine unüberwindbare Barriere an den nördlichen Grenzen. Dieser natürliche Schutz entfällt zunehmend. Die arktischen Grenzregionen gilt es aus Moskauer Sicht nun zu kontrollieren und im Ernstfall zu verteidigen – ein historisch vollkommen neues Szenario. Zwar hatte es in arktischen Gefilden durchaus Operationen der Engländer im Krimkrieg (1853 bis 1856) und der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gegeben, diese beschränkten sich aber auf einen kleinen Abschnitt im Westen. Zukünftig muss aus der Perspektive des russischen Staates die gesamte Küstenlinie der Arktis in einem verteidigungsbereiten Zustand gehalten werden, will man nicht Förderanlagen für Gas, Häfen, LNG-Terminals, Raffinerien, Bergwerke und den Nördlichen Seeweg ohne militärischen Schutz belassen. Erschwert wird die Kontrolle über diesen riesigen Raum durch die dünne Besiedlung und die schwach entwickelte Infrastruktur.
Abb. 2: Klassische euro-asiatische Seefrachtrouten
Quelle: eigene Darstellung nach shipmap.org. Karte: Natural Earth.
In den 2010er-Jahren begann Russland eine militärische Umstrukturierung in der Arktis. Die alten sowjetischen Stützpunkte befanden sich in einem desolaten Zustand. Im Jahr 2014 wurde eine eigenständige militärisch-administrative Einheit für die Arktis geschaffen, das Vereinigte Strategische Kommando „Nordflotte“. In Funktion und Art nimmt es die Aufgaben eines Militärbezirks wahr, unter anderem sind ihm alle Inseln der Arktis zugeordnet. Im Ergebnis werden sämtliche Marine-, Luft- und Landformationen von Murmansk bis Anadyr unter einem einheitlichen Kommando zusammengefasst. Kern bildet die bei Murmansk stationierte Nordflotte, sie gilt als die schlagkräftigste und modernste unter den russischen Flotten. Ausgestattet ist sie unter anderem mit U-Booten der 955-Borej- beziehungsweise 955-A-Borej-A-Klasse, modernste strategische Atom-U-Boote der sogenannten vierten Generation.
Seit 2021 verfügt Russland über einen neuen Entwicklungsplan für seine Streitkräfte, der bis 2025 einen forcierten Ausbau der militärischen Infrastruktur vorsieht. In der Arktis sollen die alten sowjetischen Flughäfen Seweromorsk-1, Seweromorsk-3, Rogatschowo, Talagi und Kipleowo (Insel Nowaja Semlja, deutsch: Neuland) modernisiert werden. Außerdem ist die Wiederinbetriebnahme des 1998 geschlossenen Militärflughafens Seweromorsk-2 vorgesehen. In Nagurskaja (Insel Semlja Alexandry, deutsch: Alexandraland) wurde bereits im Jahr 2020 die Einrichtung einer neuen Militärbasis abgeschlossen. Die Infrastruktur in den Siedlungen Petschenga, Sputnik, Alakurtti und Kilpyavr (Standorte von motorisierten Schützenverbänden und Marine-Infanterieverbänden) soll ausgebaut werden.
Die russische Arktis rückt auch als Testgebiet für Hyperschallwaffen in den Fokus. 2019 testete Russland dort eine Rakete des Typs Kinschal (deutsch: Dolch, NATO-Name: AS-24 Killjoy), die mit einem Nukleargefechtskopf ausgerüstet werden kann. 2022 wurde von der Nordflotten-Fregatte Gorschkow eine Hyperschallrakete des neuen Typs Zirkon (NATO-Name: SS-N-33) abgeschossen. In Planung befindet sich wohl auch ein spezielles Mehrfachraketenwerfersystem für arktische Einheiten, das sich auf einem neuen, geländegängigen autonomen Fahrgestell bewegen soll, welches somit für den Einsatz im hohen Norden geeignet sei.
Der Krieg in der Ukraine dürfte aktuell dazu führen, dass Russland wehrpolitisch andere Akzente setzt und sich auf die Rüstungsproduktion konzentrieren muss. Teile der in der Arktis stationierten Truppen sollen an andere strategische Standorte verlegt worden beziehungsweise im Einsatz in der Ukraine sein. Insgesamt aber ist eine weitere starke Aufrüstung Russlands anzunehmen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte im April 2022, dass die Modernisierung der militärischen Infrastruktur in der Arktis weitergehen wird. Bereits 2021, so Schoigu, habe man dort Objekte gebaut. Dmitri Medwedew, Stellvertreter im Nationalen Sicherheitsrat, erklärte im Dezember 2022, „die Produktion mächtigster Zerstörungsmittel, einschließlich solcher, die auf neuen Prinzipien basieren“, fördern zu wollen.
Fazit
In der näheren Zukunft wird der Nördliche Seeweg nicht mit der Route durch den Suezkanal konkurrieren können, doch ist mit einer zunehmenden Bedeutung als Warentransportweg zu rechnen. Moskau erhielte durch die faktische Kontrolle über die Nordostpassage einen politischen Hebel. Bei einer Eskalation des Gegensatzes zwischen Peking und Washington wäre unweigerlich auch die Arktis betroffen. Das Verhältnis zu Russland wäre in einem solchen Fall entscheidend dafür, inwiefern eine chinesische Machtprojektion in der Arktis möglich wäre. Die Volksrepublik verfügt bereits heute über die größte Kriegsmarine der Welt – dies auch durch russische Rüstungshilfe.
Um das Potenzial des Nördlichen Seewegs weiter auszubauen, muss Russland allerdings intensiv am Ausbau der Infrastruktur entlang der Route arbeiten. Dafür ist die Russische Föderation auf ausländische Investoren angewiesen. Insofern der Zugang zu westlichem Kapital durch Sanktionen weiter eingeschränkt ist, wird Moskau auf chinesische Investments zurückgreifen müssen. Zusammen mit weiteren Entwicklungen, wie dem zunehmenden Gasexport nach China sowie der Rüstungszusammenarbeit, wird dies die Bindung an Peking voraussichtlich verstärken.
Dr. Thomas Kunze ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Russland.
Leonardo Salvador war bis Anfang 2022 Projektassistent im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau. Derzeit arbeitet er in Berlin für die Stiftung.
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