Ausgabe: 4/2018
Während sich die internationalen Strukturen neu justieren, ringt die arabische Welt um ihre eigene Ordnung. Als Schauplatz externer Machtprojektion und damit auch globaler Systemkonkurrenz durchlaufen arabische Staaten und Gesellschaften zuvorderst tiefgreifende innere Umbrüche, die weithin von Gewaltspiralen und Radikalisierungstendenzen gezeichnet sind. Vor diesem Hintergrund bilanziert der vorliegende Beitrag die Lage in der Region und diskutiert ihre Entwicklungsperspektiven. Dabei zeigen wir zunächst, wie sich die dortigen Herrschaftsstrukturen überholt und damit die Protestwellen des „Arabischen Frühlings“ 2010 / 2011 hervorgebracht haben. Während sich Autoritarismus und Islamismus auf verhängnisvolle Weise gegenseitig befruchten, tun sich liberale Alternativen schwer. Doch nicht zuletzt das zunehmende bürgerliche Bewusstsein und zivilgesellschaftliches Engagement sowie die Präsenz weltoffener und reformorientierter junger Stimmen aus der Region selbst sowie auch aus der arabischen Diaspora lassen eine zumindest mittelfristig positive Entwicklung nicht ausgeschlossen erscheinen. Der zweifellos langwierige, aus unserer Sicht aber weiterhin offene Prozess der Herausbildung von Identitäten, Werten, Gesellschaftsmodellen und Regierungsformen wird durch geopolitische Friktionen und Rivalitäten indes verkompliziert.
Von der Schwäche der inneren Ordnung zum revolutionären Moment
Als am 14. Januar in Tunis und am 11. Februar in Kairo die Langzeitherrscher Ben Ali und Mubarak im Jahre 2011 stürzten, war der Kontrakt zwischen den autoritären Herrschern, die Sicherheit und Wohlfahrt bereitstellten, und den Bürgern, die dafür auf politische Mitsprache verzichteten, längst brüchig geworden. Während die Regime verknöcherten und sich immer schamloser bereicherten, wuchs eine Jugend heran, die besser ausgebildet war und – nicht zuletzt dank Al Jazeera und Facebook – international besser vernetzt. Die nur dem Namen nach liberalisierten, aber tatsächlich von Korruption durchsetzten Volkswirtschaften konnten dieser Generation keine glaubwürdigen Zukunftsperspektiven mehr bieten. Eine von den Herrschern geschützte Monopol- und Vetternwirtschaft hatte zwar vielerorts das Militär als Stütze des Regimes ersetzt oder ergänzt; von Wettbewerb, Innovation, marktwirtschaftlichen Anreizen und funktionierenden Sozialsystemen konnte jedoch kaum irgendwo die Rede sein. Nicht nur demokratische Teilhabe und rechtsstaatliche Sicherheit, sondern auch die elementaren Bestandteile staatlicher Daseinsvorsorge blieben der Bevölkerung weitgehend vorenthalten. Zu Recht ist deshalb das Scheitern von Staatlichkeit als Kernproblem der arabischen Welt diagnostiziert worden, das sich in einer „eklatanten Vernachlässigung und dem Missbrauch der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern“ manifestiert.
„Aus einem Staubhäufchen voller Individuen, aus einem Brei von Stämmen und Unterstämmen, alle gebeugt unter dem Joch der Resignation und des Fatalismus, habe ich ein Volk von Bürgern gemacht.“ Habib Bourguiba, Vorkämpfer der Unabhängigkeit, erster Präsident und herausragender Modernisierer Tunesiens, ließ keinen Zweifel daran, wem die Staatswerdung seines Landes zu verdanken sei. Dieser Paternalismus ist typisch für die Herrschaftsphilosophie, die sich im Zuge der Unabhängigkeit der arabischen Staaten herausgebildet hat – und diese blieb. Mehr als brutale Gewalt, soziale Wohltaten und kosmetische Reformen haben die arabischen Autokraten dann auch nicht im Repertoire, als 2010 / 2011 die Massenproteste ausbrechen. Ihr auf Bevormundung beruhender Führungsstil kommt noch bei ihren letzten Versuchen zum Ausdruck, die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen. Tunesiens Ben Ali inszeniert einen väterlich-fürsorglichen Besuch am Krankenbett des einbandagierten und mit dem Tode ringenden Mohammed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung die Proteste ausgelöst hatte, während Ägyptens Mubarak die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in seiner letzten Ansprache mit „liebe Bürger, meine Söhne“ adressiert.
Doch die Straße spricht längst eine andere Sprache – dort zeigt und entwickelt sich ein neues, wirkliches Bürgerbewusstsein. Neben dem „Verschwinde!“, das die Demonstranten ihren Herrschern entgegenschleudern, den Forderungen nach Arbeit, Brot, Freiheit und Würde wird „Das Volk will den Sturz des Regimes“ zu einem der ausdrucksstarken Protest-Slogans in vielen arabischen Ländern. Als „sea change in Arab public political thought“ bewertet der israelische Politikwissenschaftler Uriel Abulof diese Semantik. Der Sprechakt „Das Volk will“ (as-shab yourid) begründe erstmals einen positiven Nationalismus, der sich auf Selbstbestimmung und Volkssouveränität stütze. Damit werde nach dem Panarabischen Nationalismus, dem auf Befreiung von kolonialer Fremdherrschaft und staatliche Stabilität begründeten territorialen Nationalismus und dem Islamismus nun eine neue Form politischer Legitimität formuliert.
Ob es sich bei den Protestbewegungen 2010 / 2011 wirklich um (zumindest beabsichtigte) Revolutionen mit „anarchistischer Methode und liberaler Intention“ handelte, wie sie der amerikanisch-ägyptische Soziologe Mohamed Bamyeh charakterisiert, der an den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo selbst teilgenommen hat, mag indes strittig sein. Bamyeh beruft sich auf das Konzept des civic state, also des zivilen Staates (dawla madaniyaa), das im Zuge des „Arabischen Frühlings“ selbst von den beteiligten religiös-konservativen Kräften vertreten worden sei, weshalb er der Gesamtbewegung eine liberale Zielrichtung attestiert. Für andere begründen bereits die Forderungen nach einem Systemwechsel, weg von Tyrannei und Diktatur, und nach einem selbstbestimmteren Leben den liberalen Charakter der Protestbewegungen. Dem entgegen steht die soziale und ideologische Diversität der Demonstranten, die gegen den Status quo und für allgemeine Prinzipien, wie sie sich in den genannten Begriffen und Slogans widerspiegeln, auf die Straße gingen, die aber keine gemeinsame Vorstellung hatten, wie der neue Staat konstitutionell und institutionell zu organisieren sei. Auch deshalb gelang es den revolutionären Jugendbewegungen in Tunesien und vor allem Ägypten nicht, sich über Parteien oder andere strukturierte Organisationsformen nachhaltig in den Transformationsprozess einzubringen. Dennoch: Der revolutionäre Moment, die Selbstermächtigung von zumindest Teilen des Volkes, auch unter der Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken für den Einzelnen, war ein mächtiger liberaler Funkenschlag in der arabischen Welt. Was ist acht Jahre später davon noch übrig?
Die Revolution scheitert, Bürgerengagement bleibt – soweit noch möglich
Die Bilanz des „Arabischen Frühlings“ wirkt niederschmetternd. Mit Libyen, Syrien und Jemen sind drei Staaten in ihrer Existenz bedroht und zum Schauplatz von Bürger- und Stellvertreterkriegen geworden. Gnadenlos haben Regime wie das in Damaskus jeden Protest niederkartätscht, die Opposition hat sich zerstritten und militarisiert. Eine hoffnungsvolle Generation ist im Exil, in Folterkellern oder zwangsrekrutiert auf den Schlachtfeldern verschwunden, die nächste wächst auf in Trümmern und Hass. Im Windschatten der Proteste und angesichts der Schwäche der Staaten haben sich extremistische Ideologien und Terrororganisationen wie der „Islamische Staat“ (IS) verbreitet. Es wächst die Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität, und sei es um jeden Preis. In Ägypten herrscht seit 2013 wieder ein General mit noch härterer Hand als all seine Vorgänger.
Selbst in Tunesien, dem als einzigem Land in Folge der Unruhen 2010 / 2011 eine bemerkenswerte demokratische Transition gelang, sieht Umfragen zufolge rund die Hälfte der Bevölkerung die Revolution mittlerweile als gescheitert an. Ziele wie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit und die Entwicklung des Hinterlandes seien nicht erreicht worden, stattdessen seien die Kaufkraft und der Lebensstandard gesunken. Wenngleich die im Land nun herrschende Meinungsfreiheit von 57 Prozent als klarer Erfolg genannt wird, schätzen 80 Prozent der Befragten die Situation des Landes heute insgesamt schlechter ein als vor 2011.
Doch die aufwühlenden Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ haben gezeigt, dass die bestehenden Verhältnisse nicht in Stein gemeißelt sind. Für den tunesischen Politikwissenschaftler Hatem M’rad führten die „Revolutionen, Revolten und Demonstrationen“ in der Region zur „Geburt einer wirklich unabhängigen Zivilgesellschaft“, welche die etablierten politischen, militärischen und religiösen Autoritäten ins Wanken bringen konnte. In Tunesien, in dem unmittelbar nach dem Sturz des ancien régime Tausende neue Vereine gegründet wurden, hat sich dieses Aufblühen der Zivilgesellschaft am deutlichsten gezeigt – und zeigen können. Dabei lässt sich lokales Engagement – von dem Recycling von Plastikflaschen oder der Renovierung einer Schule in der Nachbarschaft bis zum öffentlichen Anprangern von Missständen in der örtlichen Verwaltung – genauso beobachten wie politischer Lobbyismus landesweiter Nichtregierungsorganisationen. Diese spielten beispielsweise bei der Festschreibung von bürgerlichen Freiheiten und von Frauenrechten in der neuen Verfassung aus dem Jahr 2014 eine Schlüsselrolle.
Doch auch andernorts haben die Bürger ihr eigenes und das – im weitesten Sinne – öffentliche Schicksal viel stärker selbst in die Hand genommen. Dieses bürgerschaftliche Engagement drückt sich in jedem Land in Ausmaß und Qualität sehr unterschiedlich und kontextbezogen aus. Das Spektrum reicht dabei von der kompletten Selbstverwaltung, wie sie über einige Zeit mit Hilfe von Lokalräten in „befreiten Gebieten“ Syriens praktiziert wurde, über die immer wieder aufflammenden Proteste für regionale Entwicklung in der marokkanischen Berberregion Rif bis hin zu themenbezogenen Bewegungen. Ein Beispiel dafür sind die im Zuge der Müll-Krise in Beirut 2015 entstandenen „You stink!“-Proteste, aus denen sich dann sogar eine neue, von unabhängigen Bürgern getragene Partei entwickelt hat (allerdings – wiederum bezeichnenderweise – ohne nachhaltigen Erfolg an der Wahlurne). Im selben Jahr protestierten die Bürger des Provinzstädtchens In Salah in der algerischen Sahara gegen Probebohrungen zur Förderung von Schiefergas, da sie negative Umweltauswirkungen des Frackings befürchteten. In der Folge wurde der Energieminister entlassen und die Regierung kündigte den Verzicht Algeriens auf Schiefergasförderung an. Zuletzt haben die Jordanier durch Proteste im Sommer 2018 einen Regierungswechsel erzwungen, nachdem sich die durch die Ankündigung von Steuererhöhungen und Subventionsabbau ausgelösten Demonstrationen zunehmend politisiert hatten.
Letztlich replizieren diese Protestbewegungen eine Tendenz, die sich schon im Zuge des „Arabischen Frühlings“ gezeigt hat: Sie sind spontaner, themenbasierter, oft ohne prominente Führungsfiguren und weniger eingebettet in formale Strukturen als man es in einem klassischen Verständnis von Zivilgesellschaft gemeinhin erwartet. Zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass auch internationale Akteure und Demokratie-Unterstützer diese neuen sozialen Bewegungen viel stärker als potenzielle Partner in den Blick nehmen müssen.
Die vereinzelten Konzessionen, welche die „Arabische Straße“ ihren Herrschern abzuringen vermag, und der Einsatz der Bürger, um die Mängel staatlicher Service-Strukturen auszugleichen, dürfen gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den meisten arabischen Staaten (Tunesien wiederum ausgenommen) der Spielraum für bürgerliches und zivilgesellschaftliches Engagement in den letzten Jahren deutlich enger geworden ist. Rechtliche Verbesserungen, die im Zuge des „Arabischen Frühlings“ 2011 teilweise durchgeführt wurden, werden durch eine Nichtregierungsorganisationen behindernde Verwaltungspraxis, etwa in Bezug auf Registrierung, konterkariert. Zugleich wurde – auch mit Blick auf das Erstarken des „Islamischen Staates“ – die Anti-Terror-Gesetzgebung verschärft. Die meist sehr dehnbaren Bestimmungen zur Terrorismus-Unterstützung machen den in den meisten Fällen von vornherein beabsichtigten Missbrauch solcher neuen Gesetze zwecks Machterhalts deutlich und haben das Risiko für das öffentliche Äußern missliebiger Meinungen erhöht. Aus der Eskalationsspirale von autoritärer Herrschaft und islamistischer Radikalisierung hat die arabische Welt noch keinen Ausweg gefunden.
Im Teufelskreis von Autoritarismus und Islamismus
„Ich oder das Chaos, ich oder die Islamisten.“ Nachdem sich die 2011 auch im Westen verbreitete Hoffnung auf eine rasche demokratische Entwicklung der arabischen Welt als trügerisch erwiesen hat und sich Europa heute mehr denn je von Migration und islamistischem Terror bedroht sieht, gewinnt dieses Lieblingsnarrativ arabischer Potentaten wieder an Prominenz. „Es ist auch wichtig zu verstehen, dass wir eine Balance schaffen müssen zwischen der Wahrung der Menschenrechte und der Wahrung der Sicherheit und Einheit des Landes. Wir sind ein Land von 93 Millionen Einwohnern und wenn das Land zerfällt, dann werden Sie sehen, dass die Menschen sich auf die Flucht begeben, irgendwohin“, erinnerte Ägyptens Staatspräsident Al-Sisi die deutsche Öffentlichkeit bei seinem Berlin-Besuch im Juni 2016. Dass sich Syriens Machthaber Assad in westlichen Medien regelmäßig als Partner im Kampf gegen den Terrorismus anbietet („Sie können Terrorismus ohne Bodentruppen nicht bekämpfen“) und als Garant für die Stabilität in der Region preist, kann man getrost als zynisches Propaganda-Manöver abtun. Doch spätestens wenn das syrische Regime mit russischer und iranischer Hilfe seinen militärischen Sieg vollendet hat, werden auf den Westen und gerade auch auf Deutschland harte Fragen in puncto Wiederaufbau des von Assad kontrollierten Gebietes und Umgang mit syrischen Flüchtlingen zukommen.
„Arabische Autokraten geben sich heute selbstbewusst, aber davon sollte sich niemand täuschen lassen. In Wahrheit sind sie heillos überfordert, hypernationalistisch, noch repressiver und außerdem paralysiert, und das im Angesicht wachsender Krisen“, resümiert der Politikwissenschaftler Mark Lynch. Die zunehmende Gewalt der arabischen Regime nach innen und ihre oft aktivistisch wirkende Außenpolitik seien Zeichen ihrer Schwäche und Nervosität. Lynch prognostiziert eine neue Aufstandsbewegung, die dann aber wesentlich radikaler ablaufen werde. Auch für den Nahostwissenschaftler und französischen Ex-Diplomaten Jean-Pierre Filiu können die „Despoten“ in dieser Region niemals Teil der Lösung sein, weil sie Kern des Problems sind. Ihr „tiefer Staat“ habe durch seine anti-demokratischen Sabotage-Manöver zur Entstehung eines „Islamischen Staates“ beigetragen. Unfähig ihn zu beherrschen, würden sie den Umgang damit nun dem Rest der Welt überlassen.
Unbestritten ist, dass die fortdauernd schlechte Regierungsführung in der arabischen Welt ein fruchtbares Terrain für das Aufblühen extremistischer Ideologien geschaffen hat. Die Marginalisierung der Jugend in politischer, wirtschaftlicher und soziokultureller Hinsicht macht sie anfällig für die Heilsversprechen und Heldenerzählungen, wie sie der „Islamische Staat“ und andere dschihadistische Gruppen propagandistisch geschickt aufbereiten. Die Gewaltspirale von Repression und Radikalisierung ist mit besonderer Schärfe im syrischen Bürgerkrieg, aber auch in Ägypten in den letzten Jahren offenkundig geworden: Das gewaltsame Vorgehen des Regimes gegen eine – manchmal reale, manchmal vermeintliche – islamistische Opposition stärkt deren extremistische Elemente und treibt sie in den bewaffneten Untergrund. Gleichzeitig haben, auch das hat die Spirale von Autoritarismus-Islamismus angetrieben, arabische Autokraten zeitweise und selektiv immer wieder mit Kräften des politischen Islam kooperiert. Damit sollte ein Gegengewicht gegen linkssäkulare Oppositionelle geschaffen und die Unterstützung konservativer Bevölkerungsgruppen gewonnen werden. Erinnert sei beispielhaft daran, dass die Scharia als Hauptquelle ägyptischen Rechts bereits 1980 unter dem eigentlich pro-westlichen Staatspräsidenten Anwar el-Sadat in der Verfassung festgeschrieben wurde.
Nach dem Wahlsieg der gemeinhin als „moderat“ bezeichneten Islamisten in Tunesien und Ägypten und ihrer Stärkung auch andernorts, etwa in Marokko und Libyen, in den Jahren 2011 und 2012 hatten viele in Washington und europäischen Hauptstädten gehofft, dass ein gemäßigter politischer Islam für eine stabile und demokratische Entwicklung der arabischen Welt sorgen könne, da die Zeit der in der Regel auf das Militär gestützten und mit säkularem Anstrich versehenen Autokratien abgelaufen schien. Die Regierungsverantwortung würde die Islamisten dann endgültig domestizieren. Wenngleich die Muslimbrüder mit dem Putsch in Kairo am 3. Juli 2013 die Macht verloren haben und auch sonst in der Region derzeit auf dem Rückzug sind, bleibt dieses Argument präsent. Als „Brandmauer gegen den Dschihad“ bezeichnete der Journalist Rainer Hermann jüngst die Muslimbrüder in Ägypten, die mit deren gewaltsamer Absetzung eingerissen worden sei. Junge Islamisten hätten fatalerweise dadurch gelernt, dass sich Demokratie nicht auszahle.
Andererseits hat die kurzzeitige Regierungsführung der Islamisten in Tunis und Kairo ein – gelinde gesagt – ambivalentes Verhältnis zur liberalen Demokratie und pluralen Gesellschaft offenbart. Ägyptens Staatspräsident Mursi bezog fortschrittliche Elemente der Gesellschaft ausdrücklich nicht ein und setzte stattdessen Präsidialdekrete durch, mit denen er die Macht der Muslimbrüder zu zementieren suchte. Auch Tunesiens Ennahda verzichtete erst nach heftigem Widerstand aus der Zivilgesellschaft auf den Rückbau des progressiven Besitzstandes des Landes, etwa bezüglich der Frauenrechte. Inwiefern sich die Ennahda-Partei, die sich in der Folge zunehmend konzilianter präsentierte und seit 2015 in einer „großen Koalition“ mit bürgerlich-säkularen Kräften durchaus auch kompromissbereit regiert, wirklich gewandelt hat, ist unter Beobachtern strittig. So macht Ivesa Lübben mit Blick auf den „Reformparteitag“ der Ennahda im Mai 2016 zwar ein nach wie vor „holistisches Islamverständnis“ und einen Kanon islamischer Werte als programmatische Grundlage der Partei aus, sieht aber in „Symbolik wie im neuen Sprachgebrauch der Partei den Abschied vom politischen Islam zugunsten einer muslimischen Demokratie.“ Sigrid Faath zufolge hat religiöses Recht hingegen für die Ennahda weiterhin Priorität; ihre Haltung sei daher mit einem „modernen Zivilstaat“ nicht kompatibel. Mit Bezug auf die Entwicklungen in der Region insgesamt weist Faath nicht zu Unrecht darauf hin, dass selbst wenn salafistisch-dschihadistische Organisationen von Gewalt als politischem Mittel Abstand nehmen und den legalen politischen Weg einschlagen, dies noch nicht zwangsläufig mit einer Entradikalisierung ihrer religiös-fundamentalistischen Positionen und gesellschaftlichen Agenda verbunden werde.
Kann sich aus der derzeitigen Umbruchphase heraus letztlich ein toleranter und gemäßigter „bürgerlicher Islam“, wie ihn Hermann als bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die städtischen Zentren der arabischen Welt prägend beschreibt, aufs Neue entwickeln und durchsetzen? Solange diese Frage nicht beantwortet ist, bleibt auch ein Dilemma präsent, mit dem sich Liberale in der arabischen Welt und ihre Unterstützer im Westen seit dreißig Jahren konfrontiert sehen.
Das liberale Dilemma – welche Werte sind mehrheitsfähig?
„Syndrom von Algiers“ wird manchmal das Phänomen genannt, dass demokratische Wahlen undemokratische Islamisten an die Macht bringen können. Als sich Algerien Ende der 1980er Jahre zaghaft politisch öffnete, gewann die „Islamische Heilsfront“ (FIS) im Dezember 1991 die erste Runde der Parlamentswahlen. Das Militär putschte, es folgte ein blutiger Bürgerkrieg. In den Palästinensischen Gebieten errang 2006 die radikal-islamistische sowie von der EU und den USA als Terrororganisation gelistete Hamas die meisten Sitze im Parlament der Autonomiebehörde.
Als sich im Zuge des „Arabischen Frühlings“ neue demokratische Perspektiven eröffneten, rückte dieses Dilemma wieder verstärkt auf die Tagesordnung. Wie schwierig es für Liberale nach wie vor ist, damit umzugehen, lässt sich besonders anschaulich – und auf tragische Weise – in Ägypten beobachten. Unter den Millionen, die im Frühling 2013 gegen den ersten demokratisch gewählten und zivilen Präsidenten des Landes, den Muslimbruder Mohamed Mursi, auf die Straße gingen, waren auch revolutionäre Jugendbewegungen, die schon gegen Mubarak mobilisiert hatten und eigentlich für eine freiheitlichere Gesellschaft eintraten. Genauso wie liberale Intellektuelle sprachen sie den zunehmend autoritär und exklusiv regierenden Muslimbrüdern nun Kompetenz und Legitimität ab. Diese würden den Staat nach ihren Vorstellungen formen wollen. Die bereits von Alexis de Tocqueville aufgezeigte Problematik einer „Tyrannei der Mehrheit“, die heute unter dem Stichwort der illiberalen Demokratien weltweit wieder stärker in den Fokus genommen wird, zeigt sich also besonders eindrücklich auch in der arabischen Welt.
„Die Armee hat den Willen des Volkes verteidigt“, rechtfertigte damals beispielsweise der Schriftsteller und langjährige Oppositionelle Alaa Al-Aswani die gewaltsame Absetzung Mursis: „Für die Revolution besteht daher jetzt das erste Mal die Möglichkeit, ihre demokratischen Ziele umzusetzen.“ Mittlerweile hat Al-Aswani ein Auftrittsverbot, seinen jüngsten Roman wollte in Ägypten niemand mehr verlegen. In den Kerkern des Al-Sisi-Regimes sitzen nicht nur Zehntausende Muslimbrüder, sondern auch Vertreter der liberalen Opposition. Menschenrechtsorganisationen gehen von insgesamt 60.000 politischen Gefangenen aus (unter Mubarak wird deren Anzahl auf zuletzt 5.000 bis 10.000 geschätzt) und erheben schwere Foltervorwürfe. Gleichzeitig verteidigt die unter Aufsicht der ägyptischen Regierung stehende und im gesamten sunnitisch-arabischen Raum angesehene Al-Azhar-Universität eine rigide Religionsauslegung, zum Beispiel mit Blick auf Frauenrechte, mittels islamischer Rechtsgutachten.
Nach den unruhigen Jahren des Umbruchs und angesichts des Ordnungszerfalls in der arabischen Welt erscheint vielen ein starker Mann, der für ein Mindestmaß an Stabilität sorgt, als das geringere Übel. Den Menschen dieser Region deshalb den Wunsch nach Freiheit abzusprechen, wäre jedoch – auch angesichts des gezeigten Engagements und des dafür erlittenen Leids der letzten Jahre – zynisch. Umfragen deuten eine weiterhin breite (wenn auch keineswegs eindeutige) Zustimmung zur Demokratie als für das eigene Land geeignetes Regierungssystem an. Wenn es dann aber darum geht, wie diese Demokratie ausbuchstabiert werden soll, zeigen sich große, auch länderspezifische Unterschiede. Während etwa in Libyen fast 80 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, die Scharia, also das islamische Recht, soll die einzige „Inspirationsquelle“ für die Gesetzgebung sein, tut dies im benachbarten Tunesien nur jeder vierte.
Wie sich die Wertepräferenz in der arabischen Welt entwickeln wird, ist offen. Mit dem Niedergang des eher säkular orientierten Pan-Arabismus und Nasserismus sowie der wachsenden Enttäuschung über die Fehlentwicklungen nach der Unabhängigkeit haben sich seit den 1970er Jahren islamisch-konservative Vorstellungen verbreitet. In der gegenwärtigen Umbruchphase mag die Religion den verunsicherten und nach Identität suchenden Gesellschaften besonderen Halt geben. Innenpolitische und externe Akteure instrumentalisieren in ihren Machtkämpfen den Konfessionalismus und fachen ihn damit weiter an. Empirische Studien zeigen, dass Religion heute eine zunehmend wichtige Rolle in den Alltagspraktiken junger Menschen spielt. Dem Marburger Nahostwissenschaftler Rachid Ouissa zufolge ist dabei aber ein Rückgang der politischen und ein Anstieg der sozialen Religiosität zu beobachten; der Grad der Frömmigkeit steige nun vor allem auf individueller Ebene und nicht mehr als eine kollektive Sozialutopie.
Youssef Courbage und Emmanuel Todd argumentierten schon vor über zehn Jahren, dass die abnehmenden Geburtenraten und der zunehmende Bildungsstand in der muslimisch-arabischen Welt als unaufhaltsamer Motor der Modernisierung wirken. Christopher de Bellaigue sucht in seinem jüngst erschienenen Buch „Die islamische Aufklärung“ nachzuweisen, dass „Ideen wie der Wert des Individuums und die Vorzüge des Rechts, der Wissenschaft und einer repräsentativen Staatsform (…) heute authentische Elemente islamischen Denkens und islamischer Gesellschaft darstellen“ – auch wenn diese sich bislang nicht in die politische Praxis umsetzen konnten.
Selbst wenn man solche Thesen für reduktionistisch hält, lassen sich doch – gerade auch in den und über die Sozialen Medien – in den letzten Jahren verstärkt Nischen „progressiven“ Lifestyles einer zunehmend an die globale Informationsgemeinschaft angebundenen Jugend ausmachen. Frauen wie die franko-marokkanische Schriftstellerin Leila Slimani oder die britisch-ägyptische Wissenschaftsjournalistin Shereen El Feki forcieren einen offeneren Umgang mit lange tabuisierten Themen wie sexueller Unterdrückung und sexueller Selbstbestimmung, und prangern offensiv die patriarchalischen Strukturen in der arabischen Welt an. Einen „schleichenden, aber radikalen soziokulturellen Wandel“ in der Region beobachtet der marokkanische Journalist Ahmed Benchemsi. Diesen Wandel könnten Liberale nutzen, um die etablierten konservativen und religiösen Kräfte zurückzudrängen. Dafür müssten sie jedoch raus aus den Städten, über die Mittel- und Oberschicht hinaus greifen und nachhaltigere, graswurzelbasierte Organisationsstrukturen entwickeln.
Jedenfalls erscheint der politische Islam besonders in seiner extremen und gewaltbereiten Ausprägung vor diesem Hintergrund keinesfalls als ernsthafte – aus der arabischen Welt kommende und nunmehr global auf dem Vormarsch befindliche – Alternative zur liberalen Ordnung, sondern eher als Krisensymptom eines weitgehend erstarrten und mit den Herausforderungen der Moderne überforderten herkömmlichen Islamverständnisses.
Der Nahe Osten als Schauplatz der Systemkonkurrenz
Die inneren Verwerfungen und Transformationsprozesse im Nahen Osten und Nordafrika koinzidieren mit – und befördern – ein Machtvakuum in der Region, die damit verstärkt in den Fokus auch externer Mächte rückt und zu einem Schauplatz der globalen Systemkonkurrenz wird. Somit ist die Region, aus geopolitischer Sicht betrachtet, im Ringen um die liberale Weltordnung eher ein Spielfeld anderer als ein Herkunftsort eigenständiger Akteure. Auf der regionalen Ebene haben drei traditionelle Machtzentren der arabischen Welt an internationaler Akteursqualität rapide eingebüßt: Irak und Syrien, die sich in Bürgerkriegen zerfleischten, sowie Ägypten, das nach dem Hin und Her von Revolution und Restauration vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Es bleibt Saudi-Arabien, das sich – geführt vom jungen und aufstrebenden Kronprinzen Mohamed bin Salman – als Schutzmacht der Sunniten und überhaupt der arabischen Muslime versteht. Die Saudis sind dabei in einen Hegemonialkonflikt mit dem Iran verstrickt, der in den letzten Jahren mittels der Unterstützung schiitischer Milizen seine Stellung im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen ausbauen konnte. Doch weder Saudi-Arabien noch der Iran – und auch nicht die Türkei – spielen in der machtpolitischen Weltliga. Selbst das iranische Atomprogramm hat eher die Hegemonie in der Region als eine globale Machtprojektion zum Ziel. Kein Land des Nahen Ostens und Nordafrikas ist permanentes Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, keines Mitglied der G8 und nur Saudi-Arabien ist neben der Türkei Mitglied der G20.
Zugleich ziehen sich die Vereinigten Staaten, die von den Ressourcen des Nahen Ostens zunehmend unabhängiger werden, aus der Region sukzessive zurück und sind immer weniger bereit, Geld und militärische Macht dort einzusetzen. Diese Konstante hat auch den Wechsel von Obama zu Trump überlebt und wird sich fortsetzen. Mehr als 80 Prozent der Ölexporte vom Golf gehen nach Asien, besonders nach China, Japan und Südkorea. Warum sollte also, so die innenpolitische Schlussfolgerung in den USA, der amerikanische Steuerzahler weiter bereit sein, mit seinen Mitteln die Rohstoffsicherheit des chinesischen Rivalen zu gewährleisten? Wer das Vakuum füllt, das die USA hinterlassen werden, ist noch nicht entschieden.
Russland hat mit seiner regimestützenden Intervention in Syrien, seit September 2015 auch ganz offen militärisch, den zaudernden Westen geschickt ausgespielt und sich als unumgänglicher Akteur etabliert. Es verfolgt im Nahen Osten vielschichtige Interessen. Zunächst besteht der jahrhundertealte geopolitische Wunsch nach Zugang zum Mittelmeer weiter. Hinzu kommt, dass seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis auf Assads Syrien kein Verbündeter in der Region mehr vorhanden war. Nun präsentiert sich Russland nicht nur als Schutzpatron Assads, sondern auch als alternativer Partner für viele andere Regime der Region – von den Vereinigten Arabischen Emiraten über Saudi-Arabien und Ägypten, das bereits unter dem immer noch hoch angesehenen Präsidenten Nasser ein Verbündeter der Sowjetunion war, bis hin zur Türkei. Dazu kommen innenpolitische Motive: Nach dem Menetekel Ukraine geht es für Präsident Putin darum, jede „Farbenrevolution“ in seinem Einflussbereich oder in einem mit Moskau verbündeten Staat zu verhindern – das Bündnis mit Moskau quasi als Bestandsgarantie für Autokraten. Trotzdem ist Russlands Einfluss begrenzt. Über Syrien hinaus gibt es kaum militärische Präsenz. Mit Syrien verbundene Konfliktschauplätze, wie zum Beispiel der Irak, bleiben weitgehend unbearbeitet. Lieferungen moderner Waffensysteme – das prominenteste Beispiel sind der Iran und die Türkei – sind bislang vor allem Ankündigungen. Eine weitere geografische Ausweitung der militärischen Aktivitäten könnte möglicherweise zu einem overstretch russischer Machtprojektion führen.
Neben Russland entwickelt sich zunehmend China, traditionell ein Verfechter des Prinzips der Nichteinmischung, zu einem systemstabilisierenden Akteur in der Region. Wenngleich Chinas Bedeutung dort noch wesentlich geringer ist als für die Entwicklung Asiens und Afrikas, rückte mit Pekings wachsenden weltpolitischen Ambitionen auch der Nahe Osten und Nordafrika in den Fokus des Landes. Anfang 2016 veröffentlichte die chinesische Führung ihr erstes Strategiedokument zur arabischen Welt. Der Mittelmeerraum spielt eine Schlüsselrolle im 2013 lancierten Projekt der Neuen Seidenstraße (One-Belt-One-Road-Initiative, BRI). Beispielhaft sei hier Algerien genannt, wo China schon seit 2013 die ehemalige Kolonialmacht Frankreich als wichtigsten Importeur abgelöst hat (wenngleich die EU insgesamt immer noch der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Landes ist). Auch Ägypten will seit Al-Sisis Machtübernahme seine internationalen Beziehungen stärker diversifizieren und schaut dabei nach Osten. Dreimal haben sich der ägyptische und chinesische Staatspräsident bislang getroffen, und China ist ein Schlüsselpartner bei ägyptischen Megaprojekten wie dem Bau einer neuen administrativen Hauptstadt.
Europa sieht sich in seiner südlichen Nachbarschaft also mit einer veränderten und dynamischen Akteurslage konfrontiert. Dabei stehen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiterhin vor der Herausforderung, ihre nationalen Politikansätze – und diejenigen aus Brüssel – besser zu koordinieren. Bislang ist es nicht gelungen, dauerhaft eine Interessen- oder gar Handlungsgemeinschaft der Europäer herbeizuführen. So wird eine wirkliche Einflussnahme gegenüber einzelnen Regimen nur schwer zu erreichen sein, solange europäische Staaten beim Ringen um Wirtschaftsaufträge vor allem als Konkurrenten auftreten. Darüber hinaus hat sich im Bürgerkriegsland Syrien gezeigt, wie Roderich Kiesewetter und Stefan Scheller darlegen, wie die „Unfähigkeit der europäischen Staaten, diplomatisch, entwicklungs- und sicherheitspolitisch an einem Strang zu ziehen,“ dazu beigetragen hat, dass die EU mit einer politischen Lösung des Konfliktes gescheitert ist. Gleichwohl hat Europa nach wie vor enormes Potenzial in dieser Region, mit der es auf so vielfältige Weise verbunden ist. Allen hauseigenen Krisen zum Trotz bleibt Europa eine Quelle der Inspiration und für viele junge Menschen in der arabischen Welt ein ganz realer Sehnsuchtsort.
Ausblick
„Freiheitskämpfe verdienen nicht nur dann Respekt, wenn sie erfolgreich waren, sondern immer dann, wenn sie stattfinden“, mahnte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert 2012 bei seiner Erinnerung an die revolutionären Ereignisse vom März 1848 mit Blick auf die Protestbewegungen der Gegenwart in der arabischen Welt. Wenngleich der „Arabische Frühling“ nach acht Jahren leidvollen Umbruchs als gescheitert betrachtet werden muss, so sind doch, vielleicht ähnlich wie beim „Völkerfrühling“ von 1848/1849, Langzeitwirkungen zu erwarten. Autoritarismus und Islamismus jedenfalls haben ihre Regierungsunfähigkeit in der arabischen Welt hinreichend bewiesen und sind als dauerhafte Ordnungsmodelle zum Scheitern verurteilt.
Eine Restauration, die nur eine Scheinstabilität mit sich bringt, wird, das lehrt auch die europäische Geschichte, möglicherweise in neuen, gewaltsameren Ausbrüchen enden. Die Herrschenden der arabischen Welt – ob am politischen Islam orientiert oder säkular-autoritär geprägt – wären daher gut beraten, auf schrittweise Reformen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu setzen statt auf ihre alten Methoden. Dies müssen Deutschland, Europa und der Westen insgesamt immer wieder von ihnen einfordern. Dazu müssen die verschiedenen außenpolitischen Politikfelder und Instrumente, etwa Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaftspolitik, noch stärker miteinander verknüpft werden. Nur dann kann eine ausreichende „Hebelwirkung“ deutscher und europäischer Außenpolitik erzielt werden.
Ziel der deutschen und europäischen Nahostpolitik muss es in jedem Fall sein, schon jetzt eine Entwicklung zu mehr Elementen einer liberalen Ordnung zu fördern, auch wenn diese nur langsam und graduell ist. Dabei geht es nicht darum, spezifische europäische Regierungs- oder Gesellschaftsmodelle zu exportieren. Dennoch kann und sollte sich Europa – selbstbewusst und auf transparente Art und Weise – auch als normativer Akteur verstehen. Dabei gilt es, einen breiten Ansatz zu verfolgen, der nicht erst bei demokratischen Wahlen ansetzt, sondern weit vorher: Eine unabhängige und lebendige Zivilgesellschaft, eine vielfältige Medienlandschaft, politische Parteien und Bildungseinrichtungen, eine Wirtschaft, die auf Markt und Wettbewerb beruht und damit Anreize für Innovation und Unternehmertum schafft, soziale Sicherungssysteme, welche die Menschen von klientelistischer Abhängigkeit befreien, eine auch vom eigenen Selbstverständnis her unabhängige Justiz – all das sind Institutionen, die es zu fördern gilt. Hierfür können auch unter schwierigen Bedingungen die Grundlagen gelegt werden, ob in Kooperation oder in Konkurrenz zu bestehenden Herrschaftssystemen. Dazu müssen diesen zum einen Anreize geboten werden, etwa in Gestalt verstärkter wirtschaftlicher Kooperation. Zum anderen sollte dann aber auch vor negativer Konditionalisierung nicht zurückgeschreckt werden.
Was in unserer südlichen Nachbarschaft passiert, betrifft Deutschland und Europa unmittelbar. Mit der Flüchtlingskrise 2015 ist diese lange vernachlässigte Selbstverständlichkeit tief in die Lebensrealität der deutschen Gesellschaft und in die politische Landschaft eingedrungen. Mauern zu ziehen wird uns auf Dauer nicht schützen. Deutschland muss im Verbund mit seinen europäischen Partnern die langwierige Transformation der arabischen Welt begleiten, mit Augenmaß, aber mutig und engagiert.
Thomas Birringer ist Leiter des Teams Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Edmund Ratka ist Referent im Team Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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