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Auslandsinformationen

Die Wiederentdeckung Lateinamerikas

Europas Partner für eine globale Ordnungspolitik?

Während die internationale Ordnung zunehmend von einer neuen Systemkonkurrenz liberaler Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme auf der einen Seite sowie autoritärer, staatskapitalistischer Gegenmodelle auf der anderen Seite geprägt wird, rückt Lateinamerika wieder stärker in den Fokus deutscher und europäischer Außenpolitik. Der immer selbstbewusster formulierte globale Führungsanspruch Chinas und der Rückzug der ­USA als Garantiemacht einer westlich geprägten internationalen Werteordnung führen zur Rückbesinnung auf einen Subkontinent, der in der internationalen Politik zuletzt eher ein Schattendasein führte, aber für das Fortbestehen einer freiheitlich-demokratisch geprägten, multilateralen Weltordnung eine zentrale Rolle spielt.

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Weltordnung im Umbruch

Fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs, dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“, wird immer deutlicher, dass sich das westlich geprägte, liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nicht im globalen Maßstab durchgesetzt hat. Ganz im Gegenteil konstatieren Experten der internationalen Politik in diversen Studien seit einigen Jahren eine „Krise der Demokratie“ und einen wachsenden internationalen Einfluss autoritärer Akteure. Dieser ist aus Sicht vieler Beobachter eng mit dem Aufstieg Chinas verbunden, das aufgrund seiner ökonomischen Stärke und Entwicklungsfortschritte die Vorbildfunktion des westlichen Ordnungsmodells herausfordert und in einigen Weltregionen zum Vorbild wird. Gleichzeitig suggerieren die Uneinigkeit Europas infolge des Brexits und der ungelösten Herausforderungen beim Thema Flucht und Migration sowie der Rückzug der einstigen Schutzmacht der westlichen Demokratie- und Wertegemeinschaft einen Niedergang des sogenannten Westens. Egal ob man diesen Westen nun militärisch über die Mitgliedschaft in der NATO oder im Sinne des kontroversen US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington historisch-kulturell definiert – das Konzept des Westens taugt wenig für die Bewältigung der aktuellen weltpolitischen Herausforderungen, die sich in den Gegensätzen unterschiedlicher Prinzipien und Ordnungsmodelle widerspiegeln: Demokratie versus Autokratie, Freihandel versus Protektionismus und Multilateralismus versus Unilateralismus.

Wenn Deutschland und Europa dem gemeinsamen, auf Demokratie und Menschenrechten fußenden Wertesystem und einem liberalen, nachhaltigen Wirtschaftssystem im globalen Maßstab Geltung verschaffen wollen, kann dies nur mit internationalen Verbündeten gelingen, die über den traditionellen Rahmen des sogenannten Westens hinausgehen. Demokratien im asiatisch-pazifischen Raum (insbesondere Japan und Südkorea) müssen bei der Gestaltung einer globalen Wertallianz für Demokratie, Freihandel und Multilateralismus genauso einbezogen werden wie der Großteil der Staaten Lateinamerikas. Die in zahlreichen Sonntagsreden und diversen Lateinamerikastrategien vergangener Jahre oft beschworene Kultur- und Wertegemeinschaft zwischen Europa und Lateinamerika muss dabei dringend mit Leben gefüllt werden. Denn es geht um nicht weniger als die Überlebensfähigkeit unseres freiheitlich-demokratischen Gesellschaftssystems in einer multipolaren Welt. Selbstverständlich müssen die engen Beziehungen zu den USA gerade in Zeiten eines unilateral und ohne Rücksicht auf internationale Verpflichtungen und Partnerschaften agierenden US-Präsidenten besonders intensiv gepflegt werden. Präsident Trumps America First-Politik bietet aber auch die Chance, die Beziehungen zu anderen Regionen und Ländern, die sich als Teil einer freien und demokratischen Wertegemeinschaft verstehen, systematisch zu vertiefen.

Abb. 1: Demokratieindex 2017 (Skala nach Rangklassen)

https://www.kas.de/documents/259121/4395601/reith_abb_reith_weltkarte_demokratie_index_de_web-01.svg/f62ba16b-802b-59f8-81f0-3961f532e3d6
Quelle: Eigene Darstellung nach The Economist Intelligence Unit, in: http://bit.ly/2LbQLd8 [11.12.2018].

Lateinamerika – eine natürliche Partnerregion Europas

Ein Blick auf die Weltkarte des Demokratieindex 2017 macht deutlich, warum die meisten Länder Lateinamerikas wichtige Bausteine dieser globalen freiheitlich-demokratischen Werteallianz sind und entsprechend eingebunden werden sollten. Bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die lateinamerikanischen Demokratien behaftet sind, ist der Sub-Kontinent nach Europa und Nordamerika die demokratischste Region der Erde. Während Kuba und in jüngster Zeit auch Venezuela und Nicaragua als Diktaturen einzuordnen sind, wird die Region ansonsten von – defizitären oder weit entwickelten – Demokratien geprägt. Schon heute treten die EU und die meisten lateinamerikanischen Staaten im Rahmen multilateraler Foren wie den Vereinten Nationen (VN) für die gemeinsame Überzeugung ein, dass demokratische Regierungsformen und offene Märkte die Grundvoraussetzung für das Erreichen der in der Agenda 2030 vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele sind. Diese gemeinsamen Anstrengungen gilt es weiter auszubauen und intensiver zu koordinieren. Denn zusammen bilden die europäischen (EU) und lateinamerikanisch-karibischen Staaten (CELAC) eine kritische Masse, um gemeinsamen Werten und Interessen auf globaler Ebene Geltung zu verschaffen. Zusammen gerechnet leben in beiden Regionen über eine Milliarde Menschen, die 40 Prozent des Weltbruttosozialprodukts produzieren. Mit 61 Staaten stellen EU und CELAC gemeinsam knapp ein Drittel aller Mitglieder der VN.

Ökonomisch sind EU und Lateinamerika eng mit einander verflochten. Mit 26 der 33 CELAC-Staaten bestehen Handelsabkommen. Die EU ist zweitgrößter Handelspartner, größter Investor und wichtigster Partner in der Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika. Die Liberalisierung der biregionalen Handelsströme ist weit fortgeschritten. So bestehen Freihandelsabkommen mit Mexiko und Chile, die gerade aktualisiert wurden bzw. werden. Weitere Abkommen bestehen mit Kolumbien, Peru und Ecuador. Die Verhandlungen mit dem MERCOSUR (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurden 2016 nach Jahren des Stillstands wieder aufgenommen und sind weit fortgeschritten. Allerdings sind die Gespräche auf der vermeintlichen Zielgeraden erneut ins Stocken gekommen, sodass der geplante Abschluss vor den Wahlen in Brasilien im Oktober 2018 noch während der argentinischen G20-Präsidentschaft nicht mehr zustande kam. Ein Abkommen mit dem MERCOSUR hätte angesichts der protektionistisch ausgerichteten Politik von US-Präsident Trump nicht nur symbolische, sondern auch eine hohe strategische Bedeutung. Denn der Wert dieses Handelsabkommens würde das Achtfache des mit Kanada geschlossenen Handelsabkommens (CETA) und das Vierfache des Volumens des jüngsten Abkommens mit Japan – dem derzeit größten der EU – betragen. Zugleich würde es die Markt-position der EU in einem Moment stärken, in dem sie von China als wichtigster Handelspartner des MERCOSUR verdrängt wurde. Neben dem MERCOSUR gewinnt auch die 2011 gegründete Pazifik-Allianz (Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru) zunehmend an Bedeutung, ein regionales Integrationsbündnis, das für 34 Prozent des Bruttoinlandprodukts, 57 Prozent des gesamten Handelsvolumens und 41,5 Prozent der Auslandsinvestitionen der lateinamerikanisch-karibischen Region steht. Bei einem Treffen im Juli 2018 in Brüssel vereinbarten die Außenminister der EU-Mitgliedstaaten mit den Außenministern der Pazifik-Allianz eine engere Zusammenarbeit und hoben in der Abschlusserklärung den gemeinsamen Einsatz für Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie ein regelbasiertes, liberales internationales Handels- und Finanzsystem besonders hervor.

Die strategische Bedeutung Lateinamerikas haben auch andere internationale Akteure längst erkannt.

Es scheint, dass die deutsche Außenpolitik die Zeichen der Zeit erkannt hat und erste vorsichtige Schritte unternimmt, die Beziehungen mit Lateinamerika aus dem Dornröschenschlaf der letzten zwei Dekaden zu wecken. Die Lateinamerikareise von Bundeskanzlerin Angela Merkel und der öffentlich zelebrierte Schulterschluss mit Mexiko und Argentinien im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 waren ein deutlich sichtbares Signal. Doch auch bei den Außenpolitikern im deutschen Parlament ist wieder ein deutlich gestiegenes Interesse an Lateinamerika zu verzeichnen, was sich an einer Zunahme von Kontakten und bilateralen Arbeitsbesuchen ablesen lässt. Das Auswärtige Amt nimmt das 250-jährige Jubiläum der Geburt des bekannten Natur- und Lateinamerikaforschers Alexander von Humboldt zum Anlass, um im Rahmen des Humboldt-Jahres 2019 intensiv für den Ausbau der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen zu werben. Und auch der Europäische Auswärtige Dienst (European External Action Service, EEAS) hat angesichts der aktuellen internationalen Herausforderungen einen intensiven Dialog mit europäischen Partnern angestoßen, der in ein neues EU-Lateinamerika-Positionspapier münden soll. Doch die strategische Bedeutung der Region haben auch andere internationale Akteure längst erkannt.

Lateinamerika und die Rückkehr der Geopolitik

Die Geschichte Lateinamerikas ist durch die Vorherrschaft externer Mächte gekennzeichnet. Auf 300 Jahre europäische Kolonialherrschaft folgten 200 Jahre Dominanz durch die USA im Norden. In der Monroe-Doktrin von 1823 hatten die Vereinigten Staaten ihren Führungsanspruch auf dem gesamtem amerikanischen Kontinent unmissverständlich deutlich gemacht und bis zum Ende des Kalten Krieges zahlreiche offene und verdeckte Interventionen durchgeführt, um die lateinamerikanischen Staaten in ihrer Einflusssphäre zu behalten. Gleichzeitig bauten sie ihren wirtschaftlichen Einfluss in der Region massiv aus. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 bedeuteten einen tiefen Einschnitt in der US-Außenpolitik. Im Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus und die „Achse des Bösen“ spielte Lateinamerika für die USA keine wichtige Rolle. In der Phase sozialistischer Regierungen in Lateinamerika, die sich insbesondere mit den Präsidentschaften von Hugo Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien und dem Ehepaar Kirchner in Argentinien verbindet, nahm die Entfremdung auf beiden Seiten zu. Das durch venezolanisches Erdöl finanzierte ALBA-Projekt (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, ALBA) zielte auf eine Blockbildung der sozialistisch regierten Staaten unter Führung Venezuelas und Kubas ab und richtete sich gegen den Einfluss der USA und deren Initiative einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (Area de Libre Comercio de Las Americas, ALCA). Auch unter der Obama-Administration bildete Lateinamerika trotz der Lockerung der restriktiven Anti-Castro-Politik und US-Präsident Obamas umjubelten Besuchs in Havanna zum Ende seiner Amtszeit keinen Schwerpunkt der US-Außenbeziehungen. Der rüde Umgangston seines Nachfolgers gegenüber den lateinamerikanischen Nachbarn und die rücksichtslose Durchsetzung amerikanischer Interessen im Zuge von Präsident Trumps America-First-Politik vertiefen die Kluft weiter.

Während US-Präsident Trump lateinamerikanische Einwanderer pauschal als „bad hombres“ verunglimpft und den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko sowie die Neuverhandlung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zu den Kernanliegen seiner Lateinamerikapolitik erklärt hat, füllen andere Akteure, allen voran China, das entstandene Vakuum. Die ökonomische und politische Durchdringung des Kontinents geht dabei Hand in Hand. Politische Kommentatoren sprechen bereits von einem Wandel Lateinamerikas „vom Hinterhof der USA zum Vorhof Chinas“. Denn China ist inzwischen der wichtigste Handelspartner von Argentinien, Brasilien, Chile und Peru sowie Hauptgläubiger von Brasilien, Venezuela und Ecuador. Das Handelsvolumen zwischen Lateinamerika und China betrug 2017 fast 260 Milliarden US-Dollar – mehr als zwanzigmal so viel wie zur Jahrtausendwende. Im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ ist China auch zu einem der wichtigsten Investoren und Kreditgeber in Lateinamerika geworden. Die wichtigsten Empfänger chinesischer Großkredite waren bislang Venezuela, Argentinien, Brasilien und Ecuador. Im Rahmen des China-CELAC-Gipfels 2015 kündigte der chinesische Präsident Xi Jinping an, in der nächsten Dekade 250 Milliarden US-Dollar in Lateinamerika zu investieren. Hauptinvestitionsfelder sind die Erdöl- und Erdgasförderung, Bergbau, Großprojekte im Bereich Energie, Infrastruktur und Transport sowie zunehmend im Agrarsektor, welche die Versorgung Chinas mit Rohstoffen und Agrargütern, insbesondere Kupfer, Eisenerz, Soja und Rindfleisch, absichern sollen. Zudem geht es um Zugang zu und Kontrolle von Handelsrouten und Logistik, wie die Planungen für eine interozeanische Eisenbahn vom Pazifik zum Atlantik oder den viel diskutierten interozeanischen Kanal durch Nicaragua zeigen. Ob der Bau eines zweiten Kanals zwischen Atlantik und Pazifik – diesmal unter chinesischer Führung – tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, ist derzeit ungewiss. Schon bereits vor den Protesten gegen den Ortega-Clan und der Krise in Nicaragua stagnierte das Großprojekt kurz nach dem offiziellen Baubeginn 2014. Kritiker bezweifelten die Rentabilität und Machbarkeit wegen der immensen Investitionen und unkalkulierbaren Umweltschäden ohnehin schon lange. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass China die Option eines zweiten Kanals als strategische Option für die Zukunft weiter in Betracht zieht.

Die wirtschaftliche Partnerschaft lateinamerikanischer Länder mit China bringt auch Abhängigkeiten mit sich.

Der steigende wirtschaftliche Einfluss Chinas und die damit verbundenen Abhängigkeiten werden von den lateinamerikanischen Regierungen zwiespältig gesehen. So bietet eine Partnerschaft mit China die Möglichkeit einer Diversifizierung des Außenhandels sowie einer Emanzipation von den USA, deren traditioneller politisch-ökonomischer Vorherrschaft man sich nun entziehen will. Zudem bieten die chinesischen Kredite insbesondere den Regierungen gute Alternativen, denen eine Finanzierung über die von den USA und Europa dominierten Kreditmärkte verschlossen bleibt. Das galt insbesondere für die Länder, die sich dem von Hugo Chávez propagierten Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verschrieben hatten. Über 60 Milliarden US-Dollar hat China in den vergangenen Jahren an Venezuela verliehen und sich damit Zugriff auf die Ölreserven gesichert. Denn die Kredite werden durch Öllieferungen zurückgezahlt. Im Juli 2018 wurde bekannt, dass die chinesische Entwicklungsbank dem staatlichen Ölkonzern PDVSA noch einmal einen Kredit in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar gewährt, um die Ölförderung anzukurbeln. China schwingt sich damit zum Hauptfinanzier einer Regierung auf, die das Land nicht nur in eine Diktatur, sondern auch in eine wirtschaftliche und humanitäre Krise geführt hat, die inzwischen die Nachbarstaaten zusehends destabilisiert.

Während die chinesischen Kredite für das Regime Maduro eine Atempause vor der drohenden Staatspleite bedeuten, bemühen sich andere Regierungen, sich aus der Umklammerung zu lösen, die durch die Aufnahme chinesischer Kredite entstanden ist. In Ecuador ist die Regierung von Präsident Lenin Moreno damit beschäftigt, unvorteilhafte Verträge zu überprüfen, welche die Vorgängerregierung unter Präsident Rafael Correa mit China geschlossen hat. Diese verpfändeten den Großteil der ecuadorianischen Ölproduktion für die nächsten Jahre an China. Auch in Argentinien hatte Präsident Mauricio Macri vor seinem Amtsantritt 2015 angekündigt, die Verträge der Regierung Kirchner mit China einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und u. a. das Megaprojekt zweier Staudämme am Rio Santa Cruz in Patagonien zu stoppen. Als die chinesischen Geldgeber drohten, sich in diesem Fall auch aus anderen Finanzierungszusagen zurückzuziehen, zog Macri seine Ankündigung zurück.

Die Abhängigkeit von chinesischen Krediten und Handelsbedingungen ist insbesondere für die kleineren Länder der Region problematisch. Sie können leicht in eine politische Abhängigkeit führen oder gar die nationale Souveränität bedrohen. Zwar gibt es in Lateinamerika noch keinen Fall Sri Lanka – dort trat die Regierung 2017, nachdem sie in massive Zahlungsschwierigkeiten geraten war, im Gegenzug eines Schuldenerlasses die Nutzungsrechte des Hafens Hambantota für 99 Jahre an China ab. Doch der wirtschaftliche Druck und politische Einfluss Chinas äußert sich bereits deutlich sichtbar, z. B. in der Durchsetzung der Ein-China-Politik in Zentralamerika. Nachdem Panama im vergangenen Jahr die langjährigen diplomatischen Beziehungen mit Taiwan abbrach und stattdessen einen Botschafter nach Peking entsandte, folgte in diesem Jahr El Salvador. Costa Rica hatte diesen Schritt bereits 2007 vollzogen. Medienberichten zufolge spielte in El Salvador der Ausbau des Pazifikhafens La Unión bei der Entscheidung eine wichtige Rolle. Nachdem Taiwan sich finanziell nicht im gewünschten Maße engagieren wollte, springt nun China ein. Auch in Panama wird gerade ein von chinesischem Investment getragenes Eisenbahnprojekt in Höhe von mindestens fünf Milliarden US-Dollar geprüft. Aufgrund seiner geografischen Lage und des Kanals ist Panama von besonderem geopolitischem Interesse. Es war das erste lateinamerikanische Land, das sich wenige Monate nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen Mitte 2017 auch offiziell der Seidenstraßeninitiative angeschlossen hat und in dessen Rahmen zahlreiche Regierungsabkommen abschloss. Inzwischen befindet sich auch ein Freihandelsabkommen in Verhandlung. Kritiker werfen China vor, auch in Zentralamerika gezielt Kredite zu vergeben, um Abhängigkeiten zu schaffen und perspektivisch die Kontrolle von neuralgischen, geostrategisch bedeutenden Positionen und Seewegen anzustreben. Strategen des US-Verteidigungsministeriums mahnen in diesem Sinne, dass China nicht nur handelspolitische Ziele verfolge, sondern langfristig darauf abziele, Marinestützpunkte auch in der westlichen Hemisphäre zu etablieren. Aktuell sind abgesehen von der Unterstützung der VN-Mission zur Stabilisierung Haitis und dem Verkauf von Militärtechnologie in geringem Umfang allerdings keine sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperationen Chinas in Lateinamerika bekannt.

Deutlich sichtbar ist dagegen das Bemühen Chinas, durch soft power für sich zu werben und künftige Entscheidungsträger an sich zu binden. An rund 40 Konfuzius-Instituten in der lateinamerikanischen Region studieren Tausende von Studenten die chinesische Sprache und Kultur. Darüber hinaus vergibt China Tausende von Stipendien für Studien- und Weiterbildungsaufenthalte in China. Eingeladen werden insbesondere Regierungsvertreter, Mitglieder von politischen Parteien und Nachwuchsführungskräfte aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Im Rahmen des zweiten China-CELAC-Forums im Januar 2018 in Santiago de Chile kündigte der chinesische Außenminister Wang Yi weitere 6.000 Regierungsstipendien und 600 Einladungen an lateinamerikanische Politiker nach China an.

Neben China ist Russland ein weiterer Akteur, der sein Engagement in Lateinamerika verstärkt. Präsident Putin nutzte insbesondere die Phase der sozialistischen Regierungen der 2000er Jahre, um politischen Einfluss im vermeintlichen „Hinterhof der USA“ zu gewinnen und die globale Handlungsfähigkeit Russlands demonstrativ zur Schau zu stellen. Wirtschaftlich spielt Russland in der Gesamtregion jedoch keine bedeutende Rolle und bleibt sowohl im Bereich des Außenhandels als auch bei der Kreditvergabe und Investitionen weit hinter den USA, China und Europa zurück. Es finden jedoch gezielte Kooperationen im Energie- und Rüstungsbereich statt. Insbesondere für Venezuela ist Russland neben China ein wichtiger internationaler Verbündeter. Russland unterstützt das Regime Maduro mit Vorzugskrediten und großzügigen Umschuldungen, um sich eine strategische Position im Land mit den weltweit größten nachgewiesenen Ölreserven zu erschließen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Kooperation des russischen Staatskonzerns Rosneft mit seinem venezolanischen Pendant PDSVA. Nach Medienberichten soll Rosneft dem staatlichen Ölkonzern in Caracas 2015 bis 2017 Vorauszahlungen für Öllieferungen über sechs Milliarden US-Dollar gewährt haben. Als Sicherheiten im Falle eines Zahlungsausfalls wurden Rosneft offenbar Anteile an großen Förderprojekten und Anlagen zugesagt. Angesichts der Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft sind die Investitionen in Venezuela eine riskante Wette auf die Zukunft; sie erklären zugleich, warum Russland an einem Sturz des Regimes Maduro kein Interesse haben kann. Auch zu Kuba und Nicaragua pflegt Russland traditionell enge Beziehungen und erregte in den letzten zwei Jahren u. a. durch den Verkauf von 50 Kampfpanzern an die Regierung Ortega sowie die Eröffnung eines Trainingszentrums für die Bekämpfung des Drogenhandels in Nicaragua Aufmerksamkeit. Nach offiziellen Informationen sollen in dem Zentrum zentralamerikanische Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Drogenkartelle ausgebildet werden. Die russischen Rüstungslieferungen in die Region sowie die neue Sicherheitskooperation in Zentralamerika sind US-Sicherheitsexperten ein Dorn im Auge. Auch mit Kuba wurden die Beziehungen zuletzt wieder intensiviert. Moskau hat Kuba einen Großteil seiner Schulden erlassen, modernisiert das kubanische Militär und springt für die knapper werdenden Öllieferungen aus Venezuela ein. Die Projektion russischer Außenpolitik auf Lateinamerika und die demonstrative Herausforderung der USA in ihrem eigenen Einflussbereich dient dem Ansinnen Präsident Putins, Russland in der Nachfolge der Sowjetunion wieder sichtbar als Weltmacht zu positionieren. Das Investment in Venezuela zielt darauf ab, die eigene Position auf dem globalen Energiemarkt zu stärken und den Zugriff auf Energieressourcen zu sichern. Zugleich hat das Engagement eine geostrategische Dimension, wenn sich dadurch die Gelegenheit ergeben sollte, einen neuen Stützpunkt in der westlichen Hemisphäre aufzubauen.

Russlands geostrategisches Engagement in Lateinamerika zielt auf den Aufbau eines neuen Stützpunkts in der westlichen Hemisphäre ab.

Da Russland im Vergleich zu China und den USA jedoch die ökonomischen und militärischen Mittel fehlen, um seine Interessen in der gesamten Region prominenter zu vertreten, setzt es verstärkt auf andere Mittel der Einflussnahme. Zentrales Instrument dabei ist das spanischsprachige Programm des Fernsehsenders Russia Today, das im Vergleich mit anderen internationalen Sendern sehr professionell gestaltet und äußerst populär ist. Die Positionen und Äußerungen von US-Präsident Trump gegenüber den lateinamerikanischen Nachbarn bieten zudem einen idealen Kontext, um das Modell der liberalen Demokratie zu diskreditieren und für das autoritäre Staatsmodell Russlands als Alternative zu werben, oder zumindest Verständnis und Sympathie für russische Interessen zu erzeugen. Die nach den Erfahrungen aus dem US-Wahlkampf von Putin-Kritikern befürchtete Einmischung Russlands in lateinamerikanische Wahlkämpfe hat sich bislang nicht bewahrheitet. Eine dezidiert russlandkritische Haltung wie in vielen europäischen Ländern lässt sich in den meisten lateinamerikanischen Staaten nicht feststellen, weil Russland aufgrund der geografischen Entfernung kaum als Aggressor, sondern eher als ein wichtiger internationaler Akteur wahrgenommen wird, der von Nutzen ist, um den Einfluss des Hegemons im Norden auszubalancieren. Das autoritäre Staatsmodell, für das Russland und China in ihren unterschiedlichen Ausprägungen stehen, wird weder in der lateinamerikanischen Öffentlichkeit noch in Regierungskreisen intensiv problematisiert.

Leitlinien und Handlungsfelder einer privilegierten Partnerschaft

Um die lateinamerikanischen Demokratien als Partner einer Werteallianz für eine freiheitlich-liberale Weltordnung zu gewinnen, sollten sich deutsche und europäische Entscheidungsträger von Lippenbekenntnissen der vergangenen Jahre und überholten Konzepten lösen. Das in zahlreichen Lateinamerikapapieren wiederkehrende Bekenntnis zu einer „europäisch-lateinamerikanischen Wertefamilie“ verliert seinen Sinn, wenn daraus keine konkreten Initiativen für die gemeinsame Zusammenarbeit erfolgen. Gleiches lässt sich über den oft bemühten Begriff der „strategischen Partnerschaft“ sagen, wenn eine erkennbare Strategie nicht vorhanden ist. Dem 2005 von der EU-Kommission vorgestellten Konzept einer strategischen Partnerschaft zwischen EU und Lateinamerika fehlt bis heute eine realistische und hinreichend konkrete Strategie für die Beziehungen der EU mit Lateinamerika. Politischer Dialog und wirtschaftliche Kooperation ergänzen sich nicht, sondern stehen bisweilen in einem diametralen Gegensatz, wie das Beispiel der EU-MERCOSUR Verhandlungen aktuell wieder zeigt. Politischen Willensbekundungen einer vertieften Zusammenarbeit stehen in diesem Fall die Interessen der europäischen Agrarlobby entgegen. Eine substanzielle Vertiefung der EU-Lateinamerikabeziehungen hat seit 2005 nicht stattgefunden.

Die Verantwortung hierfür liegt allerdings auf beiden Seiten des Atlantiks. Das Verständnis der eigenen Rolle in der internationalen Politik, der Vorteile regionaler Zusammenarbeit sowie der Notwendigkeit zur Übernahme von internationaler Verantwortung ist bei vielen lateinamerikanischen Regierungen noch zu wenig ausgeprägt. Die jungen Nationalstaaten Lateinamerikas tun sich mit einer substantiellen regionalen Integration, welche die Aufgabe von nationaler Souveränität in einigen Politikfeldern implizieren würde, erfahrungsgemäß sehr schwer. Die Geschichte der regionalen Integration in Lateinamerika ist daher auch eine Geschichte des Scheiterns, wie die zahlreichen Regionalorganisationen zeigen, die de facto nur noch auf dem Papier bestehen, aber keine politische Relevanz mehr haben. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, dass Organisationen wie der MERCOSUR oder die Pazifik-Allianz weiterentwickelt werden und einen politischen Mehrwert erhalten, der die Summer ihrer Mitglieder übersteigt. Auch die Abstimmung der lateinamerikanischen Staaten auf multilateralen Foren untereinander ist noch ausbaufähig. So findet z. B. eine gemeinsame Abstimmung und Interessenvertretung der G20-Staaten Argentinien, Brasilien und Mexiko in diesem Forum kaum statt. Eine stärkere Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Demokratien untereinander, verknüpft mit einer aktiveren Wahrnehmung ihrer Verantwortung bei globalen Herausforderungen, würde nicht nur die Verhandlungsmacht der Region auf globaler Ebene stärken, sondern auch dazu beitragen, in Europa stärker als attraktiver Partner auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden.

Oberste Prämisse einer privilegierten Partnerschaft muss die Anerkennung der Souveränität und gleich-berechtigten Interessen der lateinamerikanischen Staaten sein.

Der Begriff „privilegierte Partnerschaft“ könnte in diesem Kontext dazu beitragen, die Beziehungen zu den lateinamerikanischen Partnerstaaten realistischer zu betrachten und konkreter auszugestalten. Grundlage für das Privileg einer gegenseitigen Vorzugsbehandlung, die dieser Begriff impliziert, wäre das gemeinsame Bekenntnis zu einer demokratisch-freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im jeweils eigenen Land sowie die Verpflichtung, diese auf internationaler Ebene auch gemeinsam zu verteidigen. Die Inhalte und Ziele einer europäisch-lateinamerikanischen Werte- und Interessengemeinschaft müssen dabei auf Augenhöhe definiert und ausgehandelt werden. Denn die in der Vergangenheit unter der Überschrift einer Wertegemeinschaft zu beobachtende Vereinnahmung Lateinamerikas für europäische Interessen ist kontraproduktiv. Das gilt auch für die internationale Rolle Chinas und Russlands, die aus lateinamerikanischer Perspektive längst nicht so negativ beurteilt wird wie in Europa. Zwar fühlen sich die meisten Staaten der Region dem europäischen, demokratischen Staatsmodell eng verbunden und lehnen das autoritäre Gegenmodell ab; dennoch sehen sie in Staaten wie China, Russland, Iran und der Türkei unter der Regierung Erdoğan Handels- und Investitionspartner, die zur Diversifizierung der eigenen Außen(handels)beziehungen einen wichtigen Beitrag leisten. Die demonstrative Zurückhaltung der lateinamerikanischen Staaten bei den Sanktionen der USA und der EU gegen Russland machte deutlich, dass die Regierungen nicht gewillt sind, europäische und US-amerikanische Interessen und Konflikte automatisch zu ihren eigenen zu machen.

Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff des Westens, weil erstens dessen prominenteste Vertreter – die USA und Europa – in der lateinamerikanischen Wahrnehmung häufig selbst Urheber von Unterdrückung und Bevormundung waren. Zweitens schreibt der Begriff die Logik des Kalten Kriegs fort, in dem Lateinamerika für den Westen mehr Spielfeld und Spielball einer geopolitischen Auseinandersetzung als echter Partner war. Und drittens impliziert der Begriff eine Abgrenzung des Westens gegenüber dem Osten, dem insbesondere die lateinamerikanischen Pazifikanrainer durchaus offen gegenüberstehen. Auch zur Einbindung demokratischer Partnerstaaten im asiatisch-pazifischen Raum, wie Japan und Südkorea, die als Partner einer demokratisch-freiheitlichen Werteallianz dringend gebraucht werden, ist das „Konzept des Westens“ wenig zielführend.

Oberste Prämisse einer privilegierten Partnerschaft muss daher die Anerkennung der Souveränität und gleichberechtigten Interessen der lateinamerikanischen Staaten sein. Das Konzept einer Werteallianz für eine freiheitlich-demokratische Weltordnung, das zudem für Partner im asiatisch-pazifischen Raum offen ist, findet in Lateinamerika sicher viele Sympathien. Die Vorstellung der Rückkehr zu einer westlich-atlantisch, von den USA und Europa, dominierten Weltordnung ist aus lateinamerikanischer Perspektive dagegen weniger attraktiv.

Zu einer privilegierten Partnerschaft gehört auch, dass die Herausforderungen für Demokratie und Freiheit in den Ländern beider Regionen offen angesprochen werden, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben. Soziale Ungleichheit, Korruption und Straflosigkeit sind in vielen lateinamerikanischen Ländern bekannte Defizite und damit wichtige Felder der Zusammenarbeit. Auch Europa sieht sich zunehmend mit populistischen und autoritären Tendenzen konfrontiert, die mit Beschneidungen demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen einhergehen. Ein offener Dialog über gemeinsame Herausforderungen und vorhandene Defizite der freiheitlich-demokratischen Ordnung in beiden Regionen sowie die Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Antworten ist ein wichtiges Element der europäisch-lateinamerikanischen Partnerschaft. Die politische, wirtschaftliche und humanitäre Krise in Venezuela hat in diesem Kontext besondere Bedeutung, weil sie inzwischen die Stabilität der gesamten Region bedroht. Das Zurückdrängen autoritärer Tendenzen und die Einhegung bestehender Diktaturen ist eine lateinamerikanisch-europäische Gemeinschaftsaufgabe.

Die deutsche Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat 2019 / 2020 sollte genutzt werden, um die Interessen der lateinamerikanischen Partner einzubringen.

Ein zentrales Handlungsfeld ist die europäisch-lateinamerikanische Zusammenarbeit in multilateralen Foren. Die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Argentinien bei der Übergabe der G20-Präsidentschaft war hier ein gutes Beispiel. Die Abstimmung und Kooperation in den VN-Gremien sollte weiter ausgebaut werden. Positives Beispiel ist das gemeinsame Engagement im Rahmen der Weltklimakonferenzen, wo Europa und Lateinamerika an einem Strang ziehen. Ohne das Engagement Mexikos und seiner damaligen Außenministerin Patricia Espinosa – heute Generalsekretärin des VN-Klimasekretariats – wäre das Klimaabkommen von Paris kaum denkbar gewesen. Die deutsche Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat 2019 / 2020 sollte genutzt werden, um die Interessen der lateinamerikanischen Partner einzubringen. Gleiches gilt für die Reformdebatte zum VN-Sicherheitsrat, in der Deutschland und Europa eine stärkere Berücksichtigung Lateinamerikas unterstützen sollten. Im VN-Menschenrechtsrat ist nach dem Rückzug der USA eine enge Zusammenarbeit der lateinamerikanischen und europäischen Demokratien von besonderer Bedeutung, um dem eingeübten Zusammenspiel autoritärer Staaten in diesem Gremium wirkungsvoll entgegenzutreten. Eine besondere Rolle spielen auch die internationalen Finanzinstitutionen, insbesondere IWF und Weltbank, die in einigen lateinamerikanischen Partnerstaaten wegen der US-amerikanisch-europäischen Dominanz nicht unkritisch gesehen werden. Eine Stärkung der lateinamerikanischen Rolle in beiden Organisationen könnte die Akzeptanz und die Wirkung beider Institutionen in der Region stärken und die Rolle alternativer Kreditgeber ausbalancieren. Eine in der Debatte zu multilateralen Foren noch wenig beachtete Organisation ist die OECD, die als Forum marktwirtschaftlich orientierter Demokratie globale Bedeutung hat. Nach Mexiko und Chile ist inzwischen auch Kolumbien Mitglied des Clubs. Costa Rica befindet sich in Beitrittsverhandlungen und Brasilien, Argentinien und Peru haben im Rahmen eines Kooperationsprogramms Reformprozesse in Gang gesetzt, um sich der Gemeinschaft anzunähern. Die Beitrittsbemühungen lateinamerikanischer Staaten und die damit verbundenen internen Reformprozesse sollten von deutscher und europäischer Seite unterstützt werden.

Ein weiteres zentrales Handlungsfeld bleibt die wirtschaftliche Integration mit und in Lateinamerika, die weiterhin höchste Priorität auf der EU-Lateinamerikaagenda genießen sollte. Die Aktualisierung der Assoziierungsabkommen mit Chile und Mexiko ist auf einem guten Weg. Die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit dem MERCOSUR (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) sind weit fortgeschritten, gerieten auf der vermeintlichen Zielgerade, u. a. wegen Bedenken einzelner EU-Staaten hinsichtlich der Auswirkungen auf den heimischen Agrarsektor, jedoch ins Stocken. Ein Durchbruch der Verhandlungen wäre angesichts der protektionistischen Tendenzen im Welthandel ein wichtiges politisches Signal für einen freien und fairen Handel und sollte von deutscher Seite unbedingt unterstützt werden.

Mit Blick auf die Handels- und Investitionsbeziehungen befinden sich Deutschland und Europa in Konkurrenz mit China und anderen Akteuren. Der Hinweis auf den autoritären Charakter des chinesischen Staatskapitalismus und unfaire Praktiken bei der Kreditvergabe und Durchführung großer Infrastrukturprojekte ist oft berechtigt, aber wenig zielführend. Vielmehr gilt es, Worten Taten folgen zu lassen und nachzuweisen, dass Wirtschaftsbeziehungen mit Europa tatsächlich nachhaltiger sind und im Sinne einer langfristigen Win-Win-Situation für beide Seiten gestaltet werden können. Der Gewinn eines großen Projekts zur Förderung des Zukunftsrohstoffs Lithium in Bolivien 2018 durch ein deutsches Konsortium war auch deshalb möglich, weil das Investitionsabkommen den Aufbau einer Industrie und Wertschöpfungskette vor Ort, Ausbildungsprogramme und Arbeitsplätze vorsieht sowie hohe Umwelt- und Sozialstandards berücksichtigt. Dass sich chinesische Großprojekte in der Rohstoffförderung oder im Infrastrukturbereich in der Vergangenheit häufig durch die Verletzung eben dieser Standards auszeichneten, wird in vielen lateinamerikanischen Ländern inzwischen kritisch reflektiert. Das Modell nachhaltiger Rohstoffpartnerschaften und die Zusammenarbeit beim Aufbau einer einheimischen Industrie und Dienstleistungsgesellschaft sollten von europäischer Seite intensiv vorangetrieben werden. Denn eine europäische Unterstützung bei der nachhaltigen Weiterentwicklung der lateinamerikanischen Rohstoffökonomien würde sowohl die Wettbewerbsposition als auch die politische Glaubwürdigkeit Europas in Lateinamerika stärken. Insbesondere mit Blick auf die Geschäftsfelder erneuerbare Energien und Umwelttechnologie könnte Deutschland dabei eine wichtige Rolle übernehmen.

Ein wichtiges und noch unzureichend bearbeitetes Handlungsfeld ist der gesamte Bereich der Digitalisierung einschließlich der Debatten um Künstliche Intelligenz, Cyber Security, big data und Datenschutz, elektronischen Handel und Industrie 4.0. Chinas digitale Seidenstraße reicht bis nach Europa und Lateinamerika. Während die Standards der digitalen Weltordnung bei Suchmaschinen (Google und Baidu), sozialen Netzwerken (Facebook und Tencent) sowie Marktplätzen (Amazon und Alibaba) von chinesischen und amerikanischen Internetgiganten gesetzt werden, finden sich Europa und Lateinamerika weitgehend in einer Zuschauerrolle wieder. Bei den Verhandlungen zu globalen Regelungen für den digitalen Handel, die Besteuerung von Digitalkonzernen oder Cyber Security – beispielsweise im Rahmen der WTO, des G20-Prozesses oder des Internet Governance Forum (IGF) der VN – sollten Europa und Lateinamerika daher dringend gemeinsame Positionen entwickeln und vertreten. Diese Debatte steht in den europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen jedoch noch am Anfang.

Es wäre eine fatale Fehleinschätzung, die nach Europa und Nordamerika demokratischste Weltregion außen vorzulassen.

Fazit

Die Weltordnung befindet sich in einer Umbruchphase, die von gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet ist. Das Leitbild der liberalen Demokratie wird durch autoritäre Staatsmodelle in Frage gestellt. China und Russland sind dabei nur die sichtbarsten Akteure. Die Welthandelsordnung ist geprägt vom Konflikt zwischen Protektionismus und Freihandel. Die Verrechtlichung internationaler Politik durch multilaterale Institutionen wird durch ein zunehmend unilaterales Handeln wichtiger internationaler Akteure herausgefordert. Deutschland und Europa sollten sich vor diesem Hintergrund für eine internationale Werteallianz im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Weltordnung einsetzen. Die vom deutschen Außenminister Heiko Maas angestoßene Initiative einer „Allianz für den Multilateralismus“ zielt deswegen in die richtige Richtung, hat aber zwei entscheidende Schwachpunkte. Zum einen darf eine solche Allianz bei allen Herausforderungen und Irritationen, welche die Präsidentschaft Trump für das transatlantische Verhältnis mit sich bringt, nicht gegen die USA gerichtet sein, sondern muss alles daran setzen, diese weiterhin als zentralen Partner einzubeziehen. Zum anderen müssen die Demokratien Lateinamerikas als elementare Bestandteile und gleichberechtigte Partner einer solchen Werteallianz prominenter einbezogen werden. Wenn die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland betont, es sei an der Zeit, dass sich die liberalen Demokratien den zunehmend autoritären Tendenzen in der Welt entgegenstellen, wäre es eine fatale Fehleinschätzung, die nach Europa und Nordamerika demokratischste Weltregion – die Lateinamerika trotz aller Defizite der dortigen Demokratien ist – bei dieser Mission außen vorzulassen. In diesem Sinne kommt das 250-jährige Jubiläumsjahr 2019 der Geburt Alexander von Humboldts, der als „zweiter Kolumbus“ für die „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ gefeiert wurde, zum richtigen Zeitpunkt. Denn der Weg von einer vorsichtigen Wiederentdeckung Lateinamerikas für die deutsche und europäische Außenpolitik bis hin zu einer privilegierten Partnerschaft, die diesen Namen auch verdient, kann jeden Impuls gebrauchen.




Stefan Reith ist Leiter des Teams Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung.




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Sebastian Enskat

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Leiter des Multilateralen Dialogs Wien

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