Ausgabe: 3/2024
Die sozialen Unruhen 2019 und die Rolle der traditionellen Parteien der Mitte
Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 hat Chile fast 30 Jahre der politischen Stabilität, des sozialen Friedens und eines stetigen Wirtschaftswachstums erlebt. Chile galt als Musterland in der Region. Zwischen 1990 und 2019 verzeichnete es ein jährliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich knapp fünf Prozent, begleitet von einer vergleichsweise geringen Inflation von etwa drei Prozent pro Jahr seit Ende der 1990er-Jahre. Laut Weltbank stieg in diesem Zeitraum das Pro-Kopf-Einkommen von rund 2.500 US-Dollar (1990) auf etwa 15.000 US-Dollar (2019), was einem Anstieg um das Sechsfache entspricht. Diese positive Entwicklung wurde unter anderem durch eine liberale Handels- und Wirtschaftspolitik ermöglicht, die gezielt die Öffnung des Landes für ausländische Investitionen und Handelsbeziehungen förderte. Ferner wurde die Infrastruktur des Landes (Häfen, Autobahnen, Flughäfen) deutlich ausgebaut. Diese Handels- und Wirtschaftspolitik wurde durch sozialpolitische Maßnahmen zur Stärkung der Mittelschicht flankiert. Der Gini-Koeffizient zur Messung der Ungleichheit verringerte sich zwischen 1990 und 2017 von 0,57 auf 0,45 Punkte, während die Armutsrate im selben Zeitraum von 40,0 auf 8,6 Prozent sank.
In politischer Hinsicht verzeichnete Chile nahezu drei Jahrzehnte lang eine Periode der Stabilität. Das binominale Wahlsystem, das von 1989 bis 2013 eingesetzt wurde und praktisch die Bildung eines Zweiparteiensystems durch Wahlallianzen ermöglichte, verhinderte eine frühzeitige Fragmentierung der politischen Landschaft. Die Abschaffung des binominalen Systems ab der Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2017 begünstigte die Bildung kleinerer Parteien, was wiederum ab 2019 zur Fragmentierung beitrug. Mit dem Beginn der sozialen Unruhen im Oktober 2019, dem estallido social, veränderte sich die politische Landschaft in Chile auf radikale und seit Rückkehr zur Demokratie nie dagewesene Weise.
Auslöser der landesweiten, gewaltsamen Unruhen war eine Erhöhung der Fahrpreise des öffentlichen Personennahverkehrs. Schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen gingen am 25. Oktober 2019 in der Hauptstadt Santiago de Chile auf die Straße, um gegen die Sozialpolitik der liberal-konservativen Regierung unter Präsident Sebastián Piñera (Renovación Nacional) zu protestieren. Es handelte sich um die größte politische Demonstration in der Geschichte Chiles. Die Proteste wurden von gewaltsamen Auseinandersetzungen überschattet. Mehrere U-Bahn-Stationen, Ministerien sowie zahlreiche öffentliche und private Einrichtungen wurden zerstört. Die UN-Klimakonferenz (COP 25) und ein geplanter Gipfel der APEC (Asia-Pacific Economic Cooperation) in Santiago mussten abgesagt werden. Der Präsidialpalast La Moneda, Amtssitz des chilenischen Staatspräsidenten, stand kurz vor der gewaltsamen Übernahme durch kommunistische und anarchistische Gruppierungen.
In diesem Zusammenhang positionierten sich die großen, traditionsreichen Parteien der politischen Mitte, die sozialdemokratische Partido Socialista (PS) und die christdemokratische Partido Demócrata Cristiano (PDC), äußerst ambivalent. Zwar wurden die Auseinandersetzungen formell kritisiert, aber eine eindeutige Verurteilung der Gewalt bei den Protesten wurde versäumt. Es entstand der Eindruck, dass die zum Teil gewaltsamen Demonstrationen bei Mandatsträgern der traditionellen Parteien der Mitte auf Verständnis und sogar verdeckte Sympathie stießen. Die Gefahr der Destabilisierung und des möglichen Sturzes der liberal-konservativen Regierung unter Präsident Piñera wurde hingenommen. Dies führte bei der PDC zu einer ersten Welle von Austritten. Parteimitglieder und -funktionäre, die dem konservativen Lager zuzuordnen waren, verließen die christdemokratische Partei.
Die sozialen Unruhen von 2019 wurden beigelegt, als die gesamte politische Parteienlandschaft Chiles im Konsens die Voraussetzungen zur Erarbeitung einer neuen Verfassung durch eine verfassunggebende Versammlung schuf. Der Entwurf der neuen Verfassung, der im Juli 2022 vorgelegt wurde, enthielt radikale, sozialistische und teilweise realitätsfremde Elemente, wie die Abschaffung des Senats, die Gleichberechtigung der indigenen Justiz, die Definition Chiles als plurinationales Staatsgebilde, überproportionale Rechte für indigene Gruppen oder sogar die Anerkennung von Tieren als Subjekte in der Verfassung. Die christdemokratische Partei unterstützte den neuen Verfassungsentwurf mit bemerkenswerter Vehemenz. Zahlreiche Parteimitglieder und -funktionäre, die sich öffentlich gegen den Entwurf positionierten, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Dies führte im letzten Quartal des Jahres 2022 zu einer zweiten, massiven Austrittswelle aus der PDC. Der Verfassungsentwurf wurde im September 2022 im Rahmen eines Plebiszits von den Chilenen mehrheitlich abgelehnt.
Linksruck der Christdemokratie und die „neue Mitte“
Der einstimmige Beschluss der Parteiführung der PDC, den sozialistisch geprägten Verfassungsentwurf von 2022 zu unterstützen, markierte den Höhepunkt des sich seit vielen Jahren anbahnenden Linksrucks der Partei. Für zahlreiche Führungspersönlichkeiten, Parteimitglieder, amtierende Abgeordnete und Senatoren sowie für ehemalige hochrangige Funktionsträger und Mitglieder der PDC bedeutete die vorbehaltlose Zustimmung zum Verfassungsentwurf das Ende einer Epoche der politischen Mäßigung und der Positionierung als „Partei der demokratischen Mitte“, die mit der Gründung 1957 begonnen hatte. Die Folge waren Parteiausschlüsse sowie freiwillige und erzwungene Rücktritte von Mitgliedern des gemäßigten Flügels der Partei.
Diese Entwicklung beschleunigte den sich seit Beginn der 2000er-Jahre andeutenden Bedeutungsverlust der Partei. Während die PDC 1989 bei der ersten demokratischen Wahl nach der Militärdiktatur noch 26 Prozent der Stimmen erreichte und somit die stärkste politische Kraft im Land war, stimmten bei den Parlamentswahlen 2021 lediglich 4,2 Prozent der wahlberechtigten Chilenen für die Christdemokratie. Mehrere Gründe spielten eine zentrale Rolle für das Debakel der „erfolgreichsten Partei der jüngsten Geschichte Chiles“. Unter anderem war der Linksruck durch immer stärker werdende Gruppierungen innerhalb der PDC seit den 1990er-Jahren entscheidend. Die damit einhergehende Distanzierung von moderaten Positionen, parteiinterne Auseinandersetzungen, die Identitätskrise der Partei und der Verlust an Bürgernähe beschleunigten den Verfall der PDC.
Der Niedergang der Christdemokratie eröffnete jedoch Chancen für neuartige politische Initiativen, die zur Aufstellung einer „neuen politische Mitte“ ab Ende 2022 führen sollten. Der erste erfolgreiche Versuch war die Gründung der politischen Bewegung Amarillos por Chile. Gründer der Bewegung ist der Lyriker und Literaturprofessor Cristián Warnken, der zu Beginn des Jahres 2022 in einem öffentlichen Brief vor der Gefahr einer sozialistisch geprägten „Neugründung“ des chilenischen Staates aufgrund des sozialistischen Charakters des Verfassungsentwurfs von 2022 warnte. Im April 2023 konstituierte sich die Bewegung zu einer eingeschriebenen politischen Partei. In der Gründungserklärung wird auf die Notwendigkeit einer starken politischen Mitte im Land hingewiesen. Amarillos por Chile solle diese Rolle übernehmen. Sie gilt als zwar noch kleine, aber in Sachfragen äußerst kompetente Partei. Ihre Mitglieder und Funktionäre gelten als Experten und bildeten vormals die politische und intellektuelle Elite der Christdemokratie. Unter den Führungspersönlichkeiten der Partei befinden sich beispielsweise ehemalige christdemokratische Verteidigungs-, Innen-, Arbeits-, Transport- und Bildungsminister, die maßgeblich an der Modernisierung Chiles seit Ende der Militärdiktatur mitgewirkt haben. Der ehemalige Leiter des nationalen Menschenrechtsinstituts sowie der ehemalige Leiter des Museums der Erinnerung (an die Opfer der Militärdiktatur) und der Menschenrechte haben ebenfalls führende Positionen in der Partei übernommen. Obwohl Amarillos por Chile über eine herausragende Sachkompetenz in fast allen Bereichen der Innenpolitik, der Wirtschafts- und der Sozialpolitik verfügt, wird ihr vorgeworfen, einen mangelnden Bezug zu den alltäglichen Problemen und Herausforderungen der Chilenen zu haben. Amarillos por Chile wird nicht selten als eine Partei der intellektuellen Elite Chiles wahrgenommen.
Neben Amarillos por Chile ist Demócratas die zweite Neugründung einer Partei der „neuen politischen Mitte“ in Chile im Rahmen des Verfassungsprozesses. Die Partei wurde am 2. November 2022 von den ehemaligen christdemokratischen Senatoren Ximena Rincón und Matías Walker gegründet. Ende Juli 2023 erfolgte die offizielle Einschreibung im Parteiregister. Rincón und Walker gelten als sachkundige und sehr erfahrene Politiker. Als christdemokratische Senatoren haben sie zahlreiche Diskussionen geprägt, darunter die Debatten um notwendige Renten- und Gesundheitsreformen.
Ähnlich wie Amarillos por Chile entstand Demócratas als Reaktion führender Christdemokraten auf die vorbehaltlose und institutionelle Zustimmung der PDC zum sozialistisch geprägten Verfassungsentwurf von 2022. Beide Senatoren hatten öffentlich ihren Dissens mit der Parteispitze und ihre Ablehnung des Verfassungsentwurfs artikuliert. Rincón und Walker wurden daraufhin beim Obersten Parteigericht (Tribunal Supremo) der PDC angeklagt, unter dem Vorwurf, die PDC politisch nach rechts rücken zu wollen. Um den Ausschluss aus der Partei zu verhindern, traten Rincón, Walker sowie weitere Führungspersönlichkeiten Ende Oktober 2022 aus der Partei aus und gründeten im Nachgang Demócratas.
Wie auch Amarillos por Chile positioniert sich Demócratas in der politischen Mitte und beansprucht, das Erbe der erfolgreichen Concertación zu repräsentieren, die das Land von 1990 bis 2010 als Allianz zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten nach der Militärdiktatur regierte. Im Unterschied zu Amarillos por Chile verfügt Demócratas über eine bedeutende Präsenz im Parlament. Neben Rincón und Walker im Senat sind vier Vertreter der Partei Mitglieder des Abgeordnetenhauses, darunter drei ehemalige Christdemokraten. In beiden Kammern sind die Vertreter von Demócratas bei politischen Entscheidungen nicht selten das Zünglein an der Waage, da die Mehrheitsverhältnisse im Senat und im Abgeordnetenhaus ausgeglichen sind. Dies verschafft Demócratas eine politische Sichtbarkeit und eine Chance auf politische Einflussnahme, über die Amarillos por Chile in dieser Form nicht verfügt. Weiterhin ist Demócratas eine Partei mit einer verhältnismäßig breiten Basis in allen sozialen Schichten des Landes mit landesweiten Verbänden. Die Parteistruktur ist vertikal, die beiden Parteigründer sind Vorsitzender und Stellvertreter. Bei Amarillos por Chile wird hingegen der Versuch unternommen, horizontale Parteistrukturen zu stärken, was nicht selten zu Verzögerungen bei dringenden Entscheidungen führt.
Amarillos por Chile und Demócratas verfügen über zahlreiche Gemeinsamkeiten: Sie besetzen denselben politischen Raum und beanspruchen, die politische Mitte zu vertreten. Der Hintergrund ihrer Gründung und Entwicklung als politische Kraft in Chile ist vergleichbar, ihre Führungsspitzen wurden durch die Ideale der chilenischen Christdemokratie geprägt. Beide Parteien weisen deutliche Parallelen in ihren öffentlichen Stellungnahmen und politischen Positionierungen auf. Unterschiedlich ist der Grad der politischen Einflussnahme und der Perzeption beim Wähler. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum beide Parteien, die über komplementäre Eigenschaften verfügen, sich aber ideologisch kaum unterscheiden, nicht fusionieren. Politische und persönliche Ambitionen sowie die Überzeugung der politischen Führung beider Parteien, man solle die eigene Identität nicht verlieren, haben den Zusammenschluss der Parteien bisher verhindert. Zumindest verabschiedeten beide Parteien am 7. April 2024 eine Wahlallianz zur gemeinsamen Abstimmung von Kandidaten im Hinblick auf die Kommunal- und Regionalwahlen Ende Oktober 2024.
Renovación Nacional: Die Neuerfindung einer traditionsreichen Partei
Die Partei Renovación Nacional (RN), die 1987 aus der Fusion von drei Parteien des konservativen Lagers gegründet wurde, galt lange Zeit als Bastion eines starren Konservatismus in Chile. Im Gegensatz zur chilenischen Christdemokratie positionierte sich RN 1988 beim Referendum zugunsten einer Weiterführung der De-facto-Regierung von Augusto Pinochet. Unter dem Vorsitz von Sebastián Piñera und während seiner Amtszeiten als Staatspräsident (2010 bis 2014, 2018 bis 2022) erlebte die Partei eine Phase der Modernisierung. Renovación Nacional erkannte wie Amarillos por Chile und Demócratas die Gefahr der Einführung von sozialistischen Elementen im Rahmen des 2022 vorgelegten Verfassungsentwurfs. Dies führte zu einer Annäherung zwischen der traditionsreichen Partei und den neugegründeten Parteien der neuen politischen Mitte und zu gemeinsamen Abstimmungen im Parlament.
Im Rahmen eines Dialogprogamms in Deutschland, das von der Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert wurde und an dem auch die Parteiführungen von Amarillos por Chile und Demócratas teilnahmen, setzte der RN-Parteivorsitzende Rodrigo Galilea ein deutliches Zeichen für die politische Positionierung in der Mitte des Spektrums. Galilea betonte in einem Interview in Berlin mit der Tageszeitung La Tercera, dass die Reise nach Deutschland ein „Davor“ und ein „Danach“ in den Beziehungen zwischen den Parteien Renovación Nacional, Demócratas und Amarillos por Chile darstelle. Aus seiner Sicht setzen die Parteien ein Zeichen für Mäßigung in der Politik und folgen den Prinzipien des christlichen Humanismus. Die Reise sei ein Schritt hin zu einer engeren und tieferen Abstimmung zwischen den Parteien der Mitte. Obwohl Renovación Nacional sich vermutlich nicht an einer möglichen Fusion der Parteien Amarillos por Chile und Demócratas beteiligen wird, hat die Partei bereits eine Wende in Richtung politische Mitte vollzogen, sodass ein Wahlbündnis in näherer Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.
Aussichten der neuen politischen Mitte in Chile
Der anerkannte chilenische Sozialwissenschaftler Sergio Micco hat festgestellt, dass die Chilenen grundsätzlich politisch zur Mitte tendieren. Laut der Umfrage Estudio de Opinión Política CEP 90 vom letzten Quartal 2023 sehen sich 22 Prozent der Chilenen im linken politischen Spektrum verortet. 15 Prozent tendieren zu rechten Positionen, während sich eine deutliche Mehrheit von 37 Prozent für die politische Mitte entscheidet. Das Ergebnis dieser Studie stimmt überein mit einer ähnlichen Umfrage von 2006. Damals identifizierten sich 23 Prozent der Chilenen mit linken, 15 Prozent mit rechten Positionen und 37 Prozent mit der politischen Mitte. Tendenziell scheinen in Chile extreme Positionen dann an Bedeutung zu gewinnen, wenn die Gesellschaft keinen Ausweg aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen findet. Chilenen bevorzugen aber in der Regel moderate Positionen der politischen Mitte.
Chile erlebte nach den sozialen Unruhen im Oktober 2019 eine extreme Krise. Das Ergebnis war eine Polarisierung der Gesellschaft, die sich in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl 2021 zwischen dem rechtspopulistischen Kandidaten José Antonio Kast und dem Anführer der linken Studentenbewegung Gabriel Boric widerspiegelte.
Obwohl Chile gegenwärtig eine schwierige wirtschaftliche Lage mit geringen Wachstumsraten erlebt und die soziale Situation durch eine exponentiell steigende organisierte Kriminalität angespannt ist, nimmt die Bevölkerung diese Lage nicht als eine Bedrohung für den Fortbestand des Rechtsstaates wahr. Anders als nach den sozialen Unruhen des Jahres 2019 und rund um den Verfassungsentwurf von 2022 ist die demokratische Rechtsordnung in Chile nicht in Gefahr, obwohl die amtierende Regierung in Schlüsselbereichen wie der Sicherheits-, Migrations- und Außenpolitik sowie hinsichtlich einer Renten- und Gesundheitsreform keine nennenswerten Fortschritte vorweisen kann. In diesen Bereichen unterscheiden sich die Positionen und Vorschläge des amtierenden Regierungsbündnisses und der Parteien der neuen politischen Mitte. Außenpolitisch verfolgt beispielsweise die Regierungskoalition eine ambivalente und unklare Haltung gegenüber Israel. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde zwar verurteilt, das Recht Israels auf Verteidigung jedoch immer wieder relativiert. Im Gegensatz dazu haben sich die Parteien der neuen politischen Mitte klar positioniert und dem israelischen Volk Beistand bekundet. Im Bereich der Sicherheits- und Migrationspolitik haben sich die Parteien der neuen politischen Mitte für restriktivere Maßnahmen in Bezug auf illegale Einwanderung und eine Verschärfung des Strafgesetzes und des Justizvollzugs bei schweren Straftaten ausgesprochen. Die vom Regierungsbündnis seit Amtsantritt angekündigte Renten- und Gesundheitsreform ist bisher ausgeblieben. Reformvorschläge der Parteien der neuen politischen Mitte fanden bisher kaum Beachtung. Aufgrund der Passivität der amtierenden Regierung in Schlüsselfragen, die die chilenische Gesellschaft stark betreffen, besteht die Möglichkeit, dass die neuen Parteien der politischen Mitte eine Stärkung erleben und dass traditionsreiche Parteien des Mitte-rechts-Spektrums, wie beispielsweise Renovación Nacional, die Positionierung in der Mitte des Parteispektrums weiter vorantreiben.
Dauerhafter Erfolg?
Abschließend kann hervorgehoben werden, dass in Chile eine Bereitschaft in der Bevölkerung besteht, die politische Mitte als stärkste Kraft zu bevorzugen. Trotz der weiterhin bestehenden Fragmentierung der Gesellschaft deuten Umfragen klar darauf hin, dass der Wähler in Chile grundsätzlich zur politischen Mitte tendiert. Die staatlichen Institutionen und das zwar geschwächte, aber immer noch vorhandene Parteiensystem fördern die Bildung und Entfaltung von strukturierten politischen Parteien. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Chile grundsätzlich von anderen Ländern der Region, in denen sich die Parteienlandschaft völlig aufgelöst hat. Die chilenische Bevölkerung hat historisch im Sinne moderater politischer Ansichten der Mitte gewählt und gemäßigte Positionen unterstützt. Neue Parteien der Mitte, wie etwa Amarillos por Chile und Demócratas, haben daher gute Chancen, sich in der parteipolitischen Arena erfolgreich zu positionieren, sofern sie klare politische Konzepte, Parteiprogramme und Vorschläge erarbeiten und vorstellen.
Damit können sie das jüngst entstandene Vakuum der fehlenden politischen Mitte ausfüllen. Chile bietet dafür einen Nährboden, denn im Zuge der sozialen Unruhen von 2019 und des darauffolgenden verfassunggebenden Prozesses wurden radikale Optionen von links und rechts in letzter Instanz abgelehnt. Ebenso musste sich Präsident Gabriel Boric, der im Wahlkampf 2021 radikale Positionen vertrat, als gewählter Staatspräsident in Allianz mit der Kommunistischen Partei Chiles politisch mäßigen. Es bleibt abzuwarten, ob die Bildung und Entwicklung neuer politischer Parteien der Mitte dauerhaft von Erfolg gekrönt sein werden. Entscheidend wird der Wille der Führungen der neuen Parteien der Mitte sein, Kompromisse zu schließen und mit Blick auf einen möglichen Zusammenschluss oder eine enge Kooperation in Form eines politischen Bündnisses aufeinander zuzugehen. Dies erfordert wiederum die Bereitschaft, persönliche Ambitionen zurückzustellen, um das Ziel, die politische Mitte in Chile wieder zu stärken, zu erreichen. Denn ohne Koalitionen oder Bündnisse untereinander haben die neuen Parteien der politischen Mitte in Chile keine guten Aussichten auf eine dauerhafte und erfolgreiche Etablierung im politischen System.
Olaf Jacob ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chile.
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