Ausgabe: 1/2022
Die Intervention der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ hatte für den Irak und die Region weitreichende Konsequenzen. Das Land versank in den Jahren nach 2003 in einem Bürgerkrieg, mehr als hunderttausend irakische Zivilistinnen und Zivilisten wurden getötet und der Iran konnte seinen Einfluss auf das Nachbarland ausdehnen. Nicht zuletzt trug die Invasion zum Aufstieg der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) bei. Auch die USA zahlten einen hohen Preis: mehr als eine Billion US-Dollar und 4.000 tote US-amerikanische Soldatinnen und Soldaten. Dazu kam das Image einer brutalen Besatzungsmacht. Der Einsatz im Irak verstärkte – ähnlich wie das Engagement in Afghanistan – die Ablehnung westlicher Interventionen.
In Syrien hingegen intervenierte keine westliche Koalition – trotz des Drängens großer Teile der syrischen Bevölkerung und internationaler Menschenrechtsorganisationen, überschrittener roter Linien und humanitärer Dringlichkeit. Bis heute starben im Zuge des Konflikts mehr als eine halbe Million Menschen, sieben Millionen Syrerinnen und Syrer sind Binnenvertriebene – die größte Zahl weltweit –, fast sieben weitere Millionen sind außer Landes geflohen, in die Nachbarländer und nach Europa. Das Machtvakuum im Land nutzten Terrororganisationen, die dort bis heute präsent sind. Auch der IS konnte zeitweise eine Herrschaft errichten. Seit Jahren ist das Land Schauplatz internationaler Stellvertreterkriege – ein Ende des Konflikts nicht in Sicht. Syrien ist im Ergebnis ein Beispiel für die Konsequenzen westlichen Nichthandelns.
Dieser Artikel stellt die wesentlichen Ereignisse der beiden Konflikte dar und arbeitet die Hintergründe und Folgen der Intervention im Irak beziehungsweise der Zurückhaltung in Syrien heraus. Welche Herausforderungen sind dadurch für die Länder sowie die Region und Europa entstanden? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in beiden Fällen erkennen? Mit Blick auf die beiden Staaten heute lässt sich feststellen, dass sich die Frage nach einer Intervention nicht pauschal beantworten lässt: Die Intervention im Irak stürzte das Land in jahrelanges Chaos und destabilisiert es bis heute – das Nichthandeln in Syrien hatte aber ebenso verheerende Folgen.
Irak: Die Notwendigkeit von Kompromissen
Erleichtert tritt Mohammed al-Halbusi Anfang Januar 2022 vor die Kamera. Der junge Vorsitzende von Iraks stimmenstärkster sunnitischer Partei Taqadum bedankt sich für seine Wiederwahl als Parlamentssprecher – das drittwichtigste Amt im Staat. Für das Wohl aller Irakerinnen und Iraker müssten alle politischen Parteien zusammenstehen, fordert er. Tumulte zwischen schiitischen Abgeordneten von Muqtada al-Sadrs Sai’roun-Bewegung und seinen Rivalen um Nuri al-Maliki waren der Abstimmung vorausgegangen. Iraks Ex-Premierminister und seine Verbündeten, darunter Milizenführer und Gründer der Fatah-Partei (politischer Arm pro-iranischer Kräfte) Hadi al-Amiri, hatten den Plenarsaal vor der Abstimmung verlassen. Al-Halbusi reichten die Stimmen al-Sadrs sowie der sunnitischen und kurdischen Parteien. Seit der irakischen Parlamentswahl vom Oktober 2021 hat sich der Konflikt im schiitischen Lager verschärft. Al-Sadr hatte die Wahl gewonnen, die Fatah hingegen stark an Stimmen verloren. Ihr Vorsitzender spricht von Wahlmanipulation. Bei gewaltsamen Protesten im November starben mehrere ihrer Anhänger. Trotz der Spaltung im schiitischen Lager setzen Iraks konfessionell und ethnisch diverse politische Eliten weiterhin auf eine Einigung. Der Wiederwahl al-Halbusis dürften in den nächsten Wochen und Monaten Kompromisskandidaten für die Ämter des Präsidenten und des Premiers folgen. In Anbetracht der blutigen Konflikte in den vergangenen Jahren vor allem zwischen Sunniten und Schiiten sind diese Übereinkünfte keine Selbstverständlichkeit.
Fast zwanzig Jahre nach der US-geführten Invasion (Operation Iraqi Freedom) ist der Irak noch immer weit davon entfernt, eine funktionierende Demokratie zu sein. Die Konflikte, die das Regime Saddam Husseins schürte und zugleich gewaltsam unterdrückte, traten nach dem Ende von dessen Herrschaft zutage und sind nicht überwunden. Die Intervention der USA im Jahr 2003 führte allerdings zu einem grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Wandel: das Aufkeimen einer Zivilgesellschaft und die Annahme einer demokratischen Verfassung mit darin festgeschriebener Gewaltenteilung, die die politischen Rivalen zu Kompromissen zwingt. Dlawer Ala’Aldeen, Leiter des irakischen Middle East Research Institute, meint, diese Veränderungen wären andernfalls kaum möglich gewesen. Die USA legten damit das instabile Fundament für ein state building, das auch zehn Jahre nach Ende der Operation Iraqi Freedom noch Bestand hat. Nach den Protesten 2019 und den gewalttätigen Auseinandersetzungen infolge der Wahl 2021 sind die Irakerinnen und Iraker sowie ihre politische Führung umso mehr gefordert, ihren Staat weiterzuentwickeln.
Der Weg in den Krieg
Die Entscheidung der USA, 2003 in den Irak einzumarschieren, ist bis heute stark umstritten. Kritiker warnten vor unabsehbaren Folgen nach einem Sturz der Diktatur Saddam Husseins. Zudem begründete die US-Regierung die Invasion vor allem mit einer wachsenden Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen des Iraks und einer Verbindung mit dem Terrornetzwerk al-Qaida, das die Terroranschläge vom 11. September 2001 verübt hatte. Die US-Regierung konnte aber weder glaubhaft nachweisen, dass der Irak die besagte Terrorgruppe unterstützte, noch fand sie bei dem Regime Chemiewaffen.
Die Bundesregierung lehnte eine deutsche Beteiligung an Militäraktionen gegen den Irak damals kategorisch ab. Der frühere Kanzler Gerhard Schröder bezeichnete die angeblichen Beweise für Iraks Massenvernichtungswaffen als „dubios“, eine Invasion sei auf dieser Grundlage illegitim.
Im UN-Sicherheitsrat waren außerdem die Vetomächte Russland und Frankreich gegen ein Eingreifen. Folglich verweigerten sie dort den Vereinigten Staaten eine Resolution als Grundlage für eine Invasion. Die USA entschieden daraufhin, ohne UN-Mandat zu intervenieren. Am 19. März 2003 marschierten sie zusammen mit Großbritannien, Australien und Polen in den Irak ein – knapp einen Monat später erreichte diese „Koalition der Willigen“ Bagdad. Nach dem militärischen Sturz des Saddam-Regimes mussten die US-Amerikaner das Land von Grund auf neu aufbauen. Nicht nur die Infrastruktur war durch Invasion und Saddam-Diktatur beschädigt worden, nach 30 Jahren Herrschaft der irakischen Baath-Partei war die Gesellschaft völlig gespalten.
Irrtümer und eine verfehlte Nachkriegsplanung
Die Planungen der USA im Vorfeld der Invasion konzentrierten sich überwiegend auf militärische Aspekte. Die Frage, wie das Land nach dem Sturz des Saddam-Regimes in eine Demokratie überführt werden sollte, war für die US-Regierung zweitrangig. Sie stellte anfangs unzureichende Mittel für den Wiederaufbau und die Verwaltung bereit. Außerdem unterschätzte die US-Administration die gesellschaftlichen Konflikte zwischen den sunnitischen, schiitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen. Vor allem die Fehlentscheidungen in den ersten Monaten der Besatzung befeuerten die Spannungen.
Fehlende Wiederaufbaukapazitäten
Die US-Regierung ging von einer zeitlich und materiell begrenzten Militärkampagne aus. Irakische Sicherheitskräfte sollten nach Abschluss der Kampfhandlungen für Recht und Ordnung sorgen, sodass das Gros der US-Kampftruppen rasch wieder hätte abziehen können – lediglich 30.000 bis 40.000 Truppen sollten im Land verbleiben. Die US-Amerikaner erwarteten außerdem einen reibungslosen Übergang in der Verwaltung. Nach dem Austausch einiger Führungskräfte, die zum inneren Kreis der Baath-Partei gehörten, sollte der irakische Beamtenapparat seine Arbeit fast nahtlos fortsetzen.
Tatsächlich hatten Korruption und Nepotismus die Verwaltung unbrauchbar gemacht. Zudem verursachte die Entscheidung der USA im Mai 2003, alle Baath-Funktionäre aus öffentlichen Ämtern (85.000 Beamte) zu entfernen und die Sicherheitskräfte (720.000 Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten) aufzulösen, den Kollaps der staatlichen Institutionen. Das Machtvakuum führte zu landesweitem Chaos und Plünderungen. Ein schneller Wiederaufbau scheiterte, während ein Großteil der Aufbauhilfen von mehr als 20 Milliarden US-Dollar (bis 2006) durch Korruption versickerte.
Ein schwieriger Übergang zur Demokratie
Die angespannte Sicherheitslage beeinträchtigte auch den Aufbau neuer politischer Strukturen. Die Instabilität führte zur Aufschiebung der ersten demokratischen Wahlen im Irak – ein zentrales Ziel der USA und nach dem Fall der Diktatur auch ein Hauptanliegen der irakischen Bevölkerung. Außerdem verließen sich die USA beim politischen Übergang sehr auf Exilirakerinnen und -iraker. Diese waren häufig nicht mehr mit der Situation im Land vertraut, vor allem aber waren sie dort weitgehend unbekannt. Die USA gaben ihnen zahlreiche Ministerien in der neu gebildeten Übergangsregierung, der es folglich an Vertrauen und Legitimität fehlte. Viele Irakerinnen und Iraker begannen, an den Absichten der Vereinigten Staaten zu zweifeln.
Schließlich entsteht eine Demokratie nicht in wenigen Monaten. Die Saddam-Diktatur hatte die für eine Demokratie unerlässliche Zivilgesellschaft unterdrückt – es gab keine Vereine, Gewerkschaften und Parteienvielfalt. Iraks Bevölkerung war mehr als drei Jahrzehnte vom politischen Prozess ausgeschlossen. Gesellschaftliche Interessengegensätze friedlich zu verhandeln und zu lösen, war unter der Baath-Herrschaft unmöglich. Nicht zuletzt waren wichtige politische Führungspersönlichkeiten aus Angst vor dem Saddam-Regime ins Ausland geflohen.
Eine gespaltene Gesellschaft
Der Irak ist ethnisch und religiös sehr heterogen, die politischen und kulturellen Gegensätze, beispielsweise zwischen Kurden, Schiiten, Sunniten und Christen, sind stark ausgeprägt. Saddam Husseins Gewaltherrschaft verschärfte die Polarisierung der irakischen Gesellschaft noch. Saddam Hussein gehörte der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an und privilegierte deren Angehörige bei der Verteilung öffentlicher Güter und Ressourcen; Schiiten und Kurden ließ er hingegen oft von öffentlichen Ämtern ausschließen und brutal verfolgen. In den 1980er- und 1990er-Jahren ermordete das Saddam-Regime Hunderttausende, darunter vor allem Angehörige dieser beiden Gruppen. Die über Jahrzehnte geschürten ethno-konfessionellen Konflikte traten nach dem Sturz der Baath-Herrschaft 2003 offen zutage. Die einzelnen Bevölkerungsteile drängten auf die Durchsetzung ihrer exklusiven Interessen: Iraks Kurden strebten eine Abspaltung des mehrheitlich von ihnen bewohnten Nordiraks an, die schiitische Mehrheit forderte eine vollständige „Entbaathisierung“ von Staat und Gesellschaft. Als die USA den von Baathisten durchsetzten irakischen Staatsapparat 2003 auflösten, zogen sie unweigerlich den Zorn vieler Sunniten auf sich. Iraks sunnitische Aufständische nahmen aber nicht nur US-Ziele ins Visier, vor allem richtete sich ihre Gewalt gegen Schiiten und Kurden. Viele Sunniten sahen ihren Einfluss bedroht. Ein Bürgerkrieg war unter diesen Umständen fast unvermeidbar, sagt Dlawer Ala’Aldeen, denn „es gab zu diesem Zeitpunkt keine Institutionen, die zwischen den verfeindeten Gruppen hätten vermitteln können“. Zudem habe die starke ethno-konfessionelle Polarisierung und Militarisierung der Gesellschaft einer Konfrontation Vorschub geleistet.
Ein Bürgerkrieg und neue Akteure
Vor allem sunnitische Terrororganisationen, wie al-Qaida und später der IS, nutzten das durch die US-Intervention entstandene Machtvakuum und fassten erstmals Fuß im Irak. Neben den US-Truppen wurde auch die internationale Gemeinschaft Ziel von gewalttätigen Übergriffen. Im August 2003 töteten Dschihadisten bei einem Anschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad den Hohen Menschenrechtskommissar und Irak-Beauftragten der UN, Sergio Vieira de Mello. Der Frust vieler Irakerinnen und Iraker gegenüber der US-amerikanischen Besatzung verschaffte extremistischen Gruppen weiteren Zulauf. Ihnen gegenüber standen schiitische Milizen, die häufig Verbindungen in den Iran hatten. Iraks Schiiten fanden während der Diktatur Saddam Husseins Zuflucht im Iran und kehrten nach deren Fall zurück. Mit ihnen stieg der iranische Einfluss im Land.
Im irakischen Bürgerkrieg bekämpften sich vor allem sunnitische und schiitische Milizen. Sie lieferten sich blutige Straßenkämpfe, Selbstmordanschläge erschütterten das Land. Die Milizionäre begannen zudem mit ethnischen Säuberungen. Dies war auch eine Rache für vorherige demografische Eingriffe der Baath-Partei, die in den 1980er- und 1990er-Jahren vor allem in schiitisch und kurdisch dominierten Gebieten Gefolgsleute angesiedelt hatte und vermeintlich oppositionelle Bevölkerungsgruppen vertreiben ließ. Aufgrund der vielen Todesopfer – 2006 waren es fast 30.000 – verglichen US-amerikanische Experten die Irakintervention mit dem Vietnamkrieg. Die USA verstärkten ihre Truppen massiv und banden erstmals lokale Kräfte in ihre Sicherheitsstrategie ein – nicht zuletzt Angehörige sunnitischer Milieus –, dadurch konnten sie den Konflikt eindämmen. Im März 2008 flauten die Kämpfe ab. Die relative Ruhe hielt vorerst.
Im Dezember 2008 unterzeichneten US-Präsident George W. Bush und Iraks Premierminister Nuri al-Maliki ein Status of Forces Agreement, das den Abzug eines Großteils der US-Truppen bis Ende 2011 regelte. Eine Fortsetzung des Einsatzes war politisch nicht mehr durchzusetzen: Beide Seiten waren kriegsmüde, vor allem die irakische Bevölkerung forderte einen umfassenden Abzug.
Bis zum Ende der Operation Iraqi Freedom im Dezember 2011 starben mehr als 120.000 irakische Zivilistinnen und Zivilisten. Infolge der massenhaften Vertreibungen durch irakische Milizen wurden etwa 1,3 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen. Mehr als zwei Millionen Menschen flohen aus dem Irak – knapp 40.000 beantragten Asyl in Deutschland.
Aufstieg der Terrormiliz und die Anti-IS-Koalition im Irak
Die Politik al-Malikis verschärfte die ethno-konfessionellen Spannungen erneut. Seine diskriminierende Politik gegenüber den Sunniten machen viele Experten für den rasanten Siegeszug der Terrororganisation IS ab 2014 mitverantwortlich. Der Premier führte eine Kampagne gegen prominente sunnitische Politiker. Im Dezember 2011 ließ er Iraks Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi, den stellvertretenden Premierminister Saleh al-Mutlak und Finanzminister Rafi al-Issawi verhaften. Viele Sunniten wendeten sich daraufhin von der Regierung ab. Der Irak versank erneut in einem ethno-konfessionellen Krieg.
Der 2011 beginnende syrische Bürgerkrieg befeuerte die Gewalt im Irak. Als der IS 2014 große Gebiete Syriens kontrollierte, marschierte er im Irak ein und besetzte etwa ein Drittel des Territoriums. Große Teile der IS-Führungsstruktur hatten sich aus den alten Sicherheitskadern des Saddam-Regimes rekrutiert. Alter Hass und ein durch Korruption dysfunktionaler Sicherheitsapparat begünstigten den rapiden Vormarsch: Iraks Sicherheitskräfte brachen großteils zusammen. Als Reaktion schlossen sich christliche, sunnitische und vor allem schiitische Milizen zu den Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Units, PMU) zusammen. Ihnen gelang es gemeinsam mit den Resten der irakischen Armee und der Unterstützung einer US-geführten internationalen Allianz, der auch Deutschland angehört, den IS zurückzudrängen.
Die Beteiligung Deutschlands an der Operation Inherent Resolve gegen die Terrormiliz war ein Tabubruch. Zuvor hatte sich die Bundeswehr lediglich zwei Mal seit ihrer Gründung an Kampfhandlungen im Ausland beteiligt. Der vom IS verübte Genozid an den Jesiden im August 2014 und die Anschläge von Paris im November 2015 führten zu einem Paradigmenwechsel: Entgegen der öffentlichen Meinung, die ein militärisches Engagement ablehnte, lieferte die Regierung von Angela Merkel Waffen an Iraks Kurden und stellte der irakischen Armee Ausbilder zur Verfügung.
Im Dezember 2017 verkündete der irakische Premierminister Haidar al-Abadi den Sieg über den IS. Die Terrororganisation kontrolliert seither keine Gebiete mehr im Irak, IS-Angehörige verüben aber bis heute Anschläge. Während der IS-Herrschaft starben etwa 70.000 irakische Zivilistinnen und Zivilisten – etwa 2.600 durch Truppen der Anti-IS-Koalition. Etwa 3,3 Millionen Menschen wurden vertrieben. Im Zeitraum 2014 bis 2017 stellten etwa 150.000 Irakerinnen und Iraker Asylanträge in Deutschland.
Der Einsatz der Anti-IS-Koalition dauert bis heute an. Nach der Tötung des iranischen Top-Generals Qassem Soleimani sowie seines irakischen Vertrauten und pro-iranischen Milizenführers Abu Mahdi al-Muhandis im Januar 2020 hatte das irakische Parlament einen vollständigen Abzug aller ausländischen Truppen aus dem Irak gefordert. Das Votum war für Iraks Regierung allerdings rechtlich nicht bindend. Die USA zogen Ende 2021 lediglich ihre Kampftruppen ab. Es verbleiben allerdings weiterhin etwa 2.500 US-Soldatinnen und Soldaten im Land, die die irakischen Streitkräfte in den Bereichen Ausbildung und militärische Aufklärung unterstützen. Die von der NATO im Februar 2021 angekündigte Ausweitung ihrer Trainingsmission im Irak von derzeit 500 Soldatinnen und Soldaten auf bis zu 4.000 verzögert sich indessen. Viele NATO-Mitgliedstaaten möchten keine Truppen stellen, weshalb das NATO-Kontingent vermutlich kleiner ausfallen wird.
Eine große Rolle spiele die NATO-Mission für die meisten Iraker und Irakerinnen nicht, sagt Farhad Alaaldin, Vorsitzender des Iraq Advisory Councils, sie sei quasi unsichtbar. Nur selten trete die NATO in der Öffentlichkeit auf. „Viele Iraker wissen weder, wer zur Anti-IS-Koalition gehört, noch was die NATO mit dem Kampf gegen den IS zu tun hat“, meint er. Einige betrachteten das NATO-Engagement als Hintertür für die US-Amerikaner, um gegebenenfalls ihre Truppen wieder aufzustocken. Nur wenigen sei bewusst, dass der Einsatz unabhängig vom Engagement der USA geregelt ist. Für viele andere seien NATO- und US-Streitkräfte schlichtweg dasselbe: „ausländische Truppen“.
Gesellschaftlicher Kompromiss und Aufbruch?
Die Bedrohung durch den IS führte zu einem irakischen Burgfrieden, der bis heute weitgehend hält. Iraks politische Führer suchen nach Kompromissen, um ein Wiederaufflammen der Gewalt zu verhindern. Die erneute Unterstützung vor allem schiitischer und kurdischer Kräfte für den sunnitischen Parteivorsitzenden al-Halbusi bei der Wahl zum Parlamentssprecher im Januar 2022 belegt den Willen zu einer politischen Einigung. Die Ernennung von Kompromisskandidaten für die Ämter des Premierministers und des Präsidenten illustriert gleichzeitig das fragile Kräftegleichgewicht, das weiterhin die nach 2003 erstarkten Politiker und Milizen dominieren.
Viele Irakerinnen und Iraker stimmten bei der Parlamentswahl im Oktober 2021 für neue Parteien und unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten, die häufig aus der Protestbewegung von 2019 kommen. Dies ist ein Signal, dass sich immer größere Teile der irakischen Bevölkerung Veränderungen wünschen. Der Einzug dieser neuen Parteien ins Parlament könnte den Grundstein für einen Paradigmenwechsel legen und den Fokus von einer Identitätspolitik, die auf Konfession und Ethnie basiert, hin zu einer programmbasierten Politik verschieben.
Die Sicherheitslage bleibt angespannt, allerdings hat sich die Bedrohung verändert. In der Vergangenheit destabilisierte vor allem der IS das Land. Inzwischen sind es meist pro-iranische Milizen, die durch Angriffe auf US-Ziele, zivilgesellschaftliche Akteure und Politiker das staatliche Gewaltmonopol infrage stellen. Mutmaßlich führte eine solche Miliz im November 2021 einen Drohnenangriff auf den irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi aus. Nach dem Anschlag forderte Iraks einflussreicher Parteiführer Muqtada al-Sadr die Iran-nahen Milizen auf, sich der irakischen Regierung unterzuordnen. Al-Sadrs Äußerung ist eine Kampfansage an Irans militante Kräfte im Land. Nachdem ihr politischer Arm, die Fatah-Partei, im vergangenen Oktober eine Wahlniederlage erlitt, droht ihnen weiterer Verlust an politischem Einfluss. Dies sowie der andauernde Stellvertreterkrieg zwischen den USA und dem Iran könnten innenpolitische Konflikte weiter befeuern.
Die gegenwärtige Situation im Irak ist ein Resultat der US-Intervention von 2003 und ihrer Folgen. Der Sturz des Regimes veränderte die politische Landschaft des Landes. Aber war es eine Veränderung zum Besseren? Angesichts der gewaltigen menschlichen Opfer und der vielen ungewollten negativen Konsequenzen – auch für die USA und ihre Verbündeten – tun sich mittlerweile selbst einstmalige Befürworterinnen und Befürworter mit einer Antwort schwer.
Als der Konflikt im Nachbarland Syrien vor etwa zehn Jahren begann, fürchteten viele westliche Staaten, dass ein militärisches Eingreifen zu einem erneuten Fiasko führen könnte. Folglich zögerten sie. Auch ohne Intervention kam es in Syrien zu einem weiteren humanitären und politischen Desaster.
Nicht-Intervention in Syrien: Eingeschränkte Möglichkeiten und mangelnder politischer Wille
Hastig klettert Waad al-Kateab auf die Ruinen eines zusammengestürzten Häuserblocks. Helfer haben eine verletzte Frau aus den Trümmern geborgen, ein fünf Monate altes Baby wird noch vermisst. Ein Hubschrauber des syrischen Regimes hatte eine Fassbombe abgeworfen. Die Explosion erschütterte das ganze Wohnviertel und ließ mehrere Häuser einstürzen. Diese Szene aus dem Dokumentarfilm „For Sama“ ist nur ein Beispiel der mehr als 10.000 Luftangriffe, die die syrische Luftwaffe bis Ende 2014 allein auf die Stadt Aleppo flog. Viele Syrerinnen und Syrer hätten sich in diesem Zeitraum Flugverbotszonen oder die Lieferung von Luftabwehrraketen zur Ausschaltung der syrischen „Tötungskapazitäten aus der Luft“ durch den Westen gewünscht, berichtet die syrische Politikanalystin Rime Allaf. Doch der Westen lieferte nicht. Eine solche Intervention hätte den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung erschwert und möglicherweise Fluchtbewegungen in die Nachbarländer und nach Europa vermindert. Spätestens seit der russischen Intervention aufseiten des Assad-Regimes im September 2015 war dies jedoch nicht mehr möglich; doch auch in den Jahren zuvor standen einer westlichen Intervention erhebliche Hindernisse im Weg.
Als die Lage in Syrien 2011 mit zunehmender Ausbreitung von Protesten gegen Präsident Baschar al-Assad, auf die das Regime gewaltsam reagierte, zu einem Bürgerkrieg eskalierte, gingen viele Analysten von einer schnellen Niederlage des Diktators aus. Die zahlreichen Krisen in der Region, beispielsweise die Instabilität in Ägypten, Bahrain und Tunesien sowie das Chaos in Libyen, begünstigten das Überleben des syrischen Regimes. Vor allem aber die tatkräftige Unterstützung Russlands und Irans sowie die Unentschlossenheit des Westens sicherten sein Fortbestehen. Im Gegensatz zum Nichtintervenieren Europas gegen das Assad-Regime griffen andere Länder in den Konflikt ein: Der Iran und verbündete Milizen, die Türkei sowie einige arabische Golfstaaten, Israel und Jordanien, die USA sowie Russland versuchten ihre partikularen Interessen in Syrien durchzusetzen. Das Regime selbst war – auch mit Blick auf die US-geführte Militärkampagne gegen den IS, die später folgen sollte – selten direktes Ziel westlichen Eingreifens. Dabei hätte es Spielräume für westliches Handeln gegen das Assad-Regime und zum Schutz der Zivilbevölkerung gegeben. Die Rücksichtnahme auf innenpolitische Dynamiken und fehlender politischer Wille verhinderten dies allerdings.
Mächtige Freunde und die Blockade des UN-Sicherheitsrats
Staatliche Massenhinrichtungen, Inhaftierung und Folter politischer Dissidenten, die Fassbombenangriffe und Belagerungen ganzer Städte sowie das damit einhergehende Aushungern der Zivilbevölkerung, welche millionenstark aus dem Land floh: Syrien wirkt wie ein Lehrbuchbeispiel für die Notwendigkeit einer humanitären Intervention im Rahmen des Prinzips der internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P). Doch es kam zu keiner multilateralen Intervention – nicht zuletzt aufgrund einer Blockierung des UN-Sicherheitsrats infolge divergierender Positionen der USA und Russlands. Anders als im Irak handelten die USA und die europäischen Staaten auch nicht auf eigene Faust gegen Assad.
Gemeinsam mit China blockierte Russland seit Beginn des Konflikts fast jede UN-Resolution zu Syrien. Seit Oktober 2011 legte die russische Regierung 16 Mal Veto ein und ist bis heute ein „standhafter diplomatischer Schutzschild für das Assad-Regime“. Moskaus Blockadehaltung geht unter anderem auf die westliche Militärintervention in Libyen zurück. Präsident Wladimir Putin bezeichnete die Libyen-Resolution des UN-Sicherheitsrats als einen „mittelalterlichen Aufruf zu einem Kreuzzug“. Der erfolgte Regimewechsel sei nicht von humanitären Erwägungen, sondern westlichen Machtinteressen geleitet gewesen. Gleiches unterstellt ein misstrauisches Russland dem Westen auch in Syrien – westliche Staatschefs hatten mehrfach die Absetzung Assads gefordert.
Der unsanktionierte Einsatz von Chemiewaffen
Rhetorik und Realität lagen in Syrien weit auseinander. Im Zuge der Eskalation des Konflikts stellte der wiederholte Einsatz chemischer Kampfstoffe durch das syrische Regime in den Vororten von Damaskus im August 2013 einen grausamen Tiefpunkt dar. Bereits im Dezember des Vorjahres hatte US-Präsident Barack Obama eine „rote Linie“ für den Einsatz von Chemiewaffen gezogen und erklärt, deren Überschreitung würde eine Reaktion der USA auslösen. Vieles deutete 2013 auf einen umfassenden westlichen Militärschlag oder eine Intervention hin. Doch Obama wollte nicht ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats agieren. Zudem waren die USA kriegsmüde und eine ausgedehnte Luftkampagne oder einen riskanten Einsatz von Bodentruppen schloss der US-Präsident aus.
Auch die US-amerikanische Öffentlichkeit lehnte ein militärisches Engagement nach fast zehn Jahren Krieg im Irak und in Afghanistan ab. Die Militäreinsätze hatten Billionen US-Dollar verschlungen und das Leben von tausenden Soldatinnen und Soldaten gekostet. Ohne eine direkte Bedrohung von US-Interessen hätte Obama eine Intervention nur schwer rechtfertigen können. Trotz der Giftgasangriffe waren Umfragen zufolge 63 Prozent der US-Amerikaner weiterhin gegen ein Eingreifen. Darüber hinaus beeinflussten die Atomverhandlungen mit dem Iran Europas und Amerikas Entscheidung, nicht in Syrien zu intervenieren. Die US-Regierung wollte die Gespräche über eine Eindämmung des iranischen Nuklearprogramms nicht gefährden. Schließlich fürchteten viele westliche Politiker, dass ein Eingreifen in Syrien ein Machtvakuum wie in Libyen schaffen könnte. Eine weitere „Büchse der Pandora“ in der Region wollten sie nicht öffnen.
Die Reaktion auf Assads Chemiewaffeneinsätze fiel entsprechend verhalten aus. Dies untergrub aber die Glaubwürdigkeit des Westens als „Garantiemacht internationaler Abkommen“ und ermutigte Assad und seine Verbündeten zu einem offensiveren Vorgehen. Immerhin stimmte infolge von gesteigertem diplomatischen Druck die Regierung Russlands im September 2013 im UN-Sicherheitsrat erstmals seit Beginn des Konflikts einer UN-Resolution zu, die die Vernichtung des syrischen Chemiewaffenarsenals vorsah. Der wiederholte Einsatz von Chemiewaffen in den Jahren darauf zeigte der Weltöffentlichkeit jedoch, dass das Regime keineswegs alle Bestände zerstört hatte. Bis Mai 2020 wurden in Syrien fast 350 Angriffe mit chemischen Kampfstoffen gezählt.
Flugverbots- und Schutzzonen: Eine verpasste Chance?
Ein umfangreicher Regimewechsel in Damaskus stand nie ernsthaft auf der westlichen Agenda. Im Zuge der Giftgasangriffe wurde jedoch die Errichtung von Schutz- beziehungsweise Flugverbotszonen diskutiert. Eine dauerhafte Sperrung von Teilen des Luftraums hätte die Konfliktursachen zwar nicht beseitigen, aber immerhin die syrische Luftwaffe fernhalten können. Dies zeigen die Erfahrungen aus Bosnien zwischen 1993 und 1995 sowie dem Irak zwischen 1991 und 2003. Auch hätte man so den Vormarsch von Regimetruppen verzögern können. Folglich hätte es vermutlich weniger Bombardements von Bevölkerungszentren gegeben und die enorme Zerstörung ziviler Infrastruktur, unter der Syrien noch heute leidet, wäre geringer ausgefallen. Außerdem wären militärisch abgesicherte Schutzzonen möglich gewesen, in denen die Zivilbevölkerung hätte Zuflucht finden können.
Für ihre Einrichtung und Sicherung hätte der Westen umfassend mit eigenen Bodentruppen intervenieren müssen, westliche Militärexperten schätzten, dass bis zu 40.000 Soldatinnen und Soldaten nötig gewesen wären. Vor allem in Europa aber fehlte die Bereitschaft. Viele europäische Länder standen zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise. Deutschland hatte erst wenige Jahre zuvor die Wehrpflicht ausgesetzt und den Verteidigungshaushalt drastisch gekürzt. Nicht zuletzt war ein weiteres militärisches Engagement vor dem Hintergrund des andauernden Afghanistaneinsatzes aus europäischer Perspektive nicht vorstellbar.
Die Uneinigkeit des Westens
Assad hatte von Beginn des Bürgerkriegs an Verbündete, die bereit waren, alles dafür zu tun, ihn an der Macht zu halten. Europa und die USA hingegen hatten häufig keine einheitliche Strategie und Vorstellung von Syriens Zukunft, ob mit oder ohne Assad. Folglich fehlte die Bereitschaft, sich umfassender zu engagieren. Vor allem Frankreich, Großbritannien und Deutschland fanden keine gemeinsame Syrienpolitik. Erstgenannte unterstützten Fraktionen der syrischen Opposition militärisch und forderten Anfang 2013, das EU-Waffenembargo gegen Syrien teilweise aufzuheben. Dagegen lehnte Deutschland Waffenlieferungen an Rebellen mit Verweis auf eine mögliche Destabilisierung der Region ab. Erst als die europäischen Partner drohten, die Sanktionen gegen Syrien nicht zu verlängern, kam es zu einer Modifizierung des EU-Waffenembargos. Doch die Bewaffnung einzelner syrischer Oppositionsgruppen, wie den Demokratischen Kräften Syriens (Syrian Democratic Forces, SDF) oder der Freien Syrischen Armee (FSA), blieb begrenzt. So bekamen sie beispielsweise keine Luftabwehrraketen aus dem Westen. Es gab Bedenken, dass die gelieferten Waffensysteme im unübersichtlichen Kampfgeschehen abhandenkommen und in die Hände von extremistischen Gruppen fallen könnten. Man befürchtete nicht zuletzt Angriffe dieser Gruppen auf die zivile Luftfahrt.
Die Uneinigkeit und das Zögern verunsicherten die syrischen Verbündeten westlicher Staaten. Die Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, die US-Truppen 2019 östlich des Euphrats aus Nordsyrien abzuziehen, kam für Amerikas Alliierte – vor allem die von syrischen Kurden dominierten SDF – überraschend. Auch innerhalb der NATO sorgten die Ereignisse in Syrien für Streit. Der französische Präsident Emmanuel Macron bescheinigte dem Bündnis angesichts der mangelnden Koordination zwischen den USA und ihren Verbündeten bei strategischen Entscheidungen den „Hirntod“. Die Verlässlichkeit des Westens, seinen Partnern in Krisensituationen beizustehen, wird seit dem Syrien-Krieg vermehrt infrage gestellt.
Aufstieg der Terrormiliz und die Anti-IS-Koalition in Syrien
Ab 2014 geriet das Assad-Regime zunehmend in die Defensive und musste sich militärisch vorrangig auf strategische Ziele und urbane Zentren fokussieren. Der Rückzug aus ländlichen Gebieten ermöglichte das Vorrücken einiger Rebellengruppen sowie islamistischer Kräfte und später des IS. Anschläge in Europa, die Brutalität des IS und die Ausrufung seines „Kalifats“ in weiten Teilen Syriens und des Iraks sowie die medienwirksam verbreitete Kampagne von Enthauptungen westlicher Geiseln verschaffte der Debatte über eine Intervention in Syrien in Washington und den europäischen Hauptstädten neuen Aufwind. Die Gräueltaten des IS stellten einen weiteren traurigen Tiefpunkt des Syrienkonflikts dar.
Im Gegensatz zum Chemiewaffeneinsatz des syrischen Regimes führte der Vormarsch der Terrororganisation jedoch zu einer internationalen militärischen Reaktion. Das Militärbündnis gegen den IS konnte die europäischen Partner hinter dem gleichen Ziel vereinen. Im Irak handelte die Anti-IS-Koalition auf Einladung der Regierung, in Syrien hingegen zog sie ohne formale Zustimmung „am Regime vorbei“ ins Feld. Vor allem unterstütze die US-geführte Allianz die kurdisch dominierten SDF als „Bodenkomponente“. Zwar konnte der IS in Syrien, wie im Irak, territorial besiegt werden, IS-Terrorzellen sind aber bis heute in beiden Ländern aktiv.
Die Intervention der „Anderen“
Als das Assad-Regime 2015 am Rande der Niederlage stand, intervenierte Russland im September aufseiten seines Verbündeten und schuf militärische Tatsachen. Russlands Intervention zielte darauf, einen Sturz des Regimes zu verhindern und in der Region als neue Ordnungsmacht aufzutreten. Die Chance einer multilateralen Intervention erlosch nach der russischen Intervention, denn ein westliches Eingreifen hätte eine direkte Konfrontation mit Russland riskiert. Die russische Regierung wurde dadurch zu einem entscheidenden Akteur in Syrien, den die UN für zahlreiche Bombardements auf die zivile Infrastruktur verantwortlich machen.
Regionale Verbündete Assads, wie der Iran, hatten sich bereits zuvor in den Konflikt eingeschaltet. Die iranische Regierung lieferte zunächst Waffen und intervenierte ab Mitte 2013 auch mit eigenen Truppen und verbündeten Milizen. Mit der Türkei intervenierte ab 2016 auch ein Gegenspieler Assads wiederholt mit Bodentruppen in Syrien, um kurdische Autonomiebestrebungen zu unterbinden. Je weiter andere Mächte ihren Einfluss in der Region ausbauten, desto mehr wurde der Westen zum Zuschauer.
Assad gewinnt wieder an Stärke
Mithilfe seiner Verbündeten konnte das Assad-Regime ab Ende 2016 strategisch wichtige Regionen von den Rebellen zurückerobern. Gegenwärtig kontrolliert es wieder etwa 65 Prozent des syrischen Territoriums – nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg ist kein Ende seiner Herrschaft in Sicht. Seit Ausbruch der Feindseligkeiten wurden mehr als eine halbe Million Menschen getötet, Hunderttausende wurden verschleppt, Wirtschaft und Infrastruktur liegen am Boden. Mehr als 13,4 Millionen Menschen, etwa 65 Prozent der syrischen Bevölkerung, sind derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Über sechs Millionen Menschen sind Binnenvertriebene, fast sieben Millionen sind ins Ausland geflüchtet. Syriens Nachbarländer Libanon, die Türkei und Jordanien beherbergen knapp 5,6 Millionen Flüchtlinge, bis November 2021 beantragten fast 700.000 Syrerinnen und Syrer Asyl in Deutschland. Ihnen fehlt bis heute eine Rückkehrperspektive, denn unter dem Assad-Regime droht ihnen Verfolgung oder Tod. Die UN bezeichneten die Syrienkrise als die schlimmste von Menschen verursachte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.
Derzeit deutet sich ein Trend zur Normalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen mit dem Assad-Regime an. Vor allem regionale Nachbarn, wie Jordanien, Ägypten und einige Golfstaaten, suchen eine Annäherung an Damaskus. Die USA und Europa lehnen dies weiterhin ab, sanktionieren die Bestrebungen von Syriens Nachbarn allerdings nicht. Der blutige Handschlag mit Assad scheint wieder salonfähig zu werden.
Zurückhaltung als oberstes Gebot?
Syrien ist ein Beispiel für eine neue sicherheitspolitische Realität im Kontext einer zunehmenden „Westlessness“ – das heißt eines relativen Rückzugs der USA und ihrer europäischen Verbündeten als ordnungspolitische Akteure. Der Konflikt zeigt, wie außenpolitische Zurückhaltung gepaart mit einer Blockade der Instrumente und Institutionen internationaler Konfliktlösung zu mehr menschlichem Leid und einem Erstarken autoritärer Regime führen kann. Während Europa und die Nachbarländer Syriens von den Folgen des Krieges durch Fluchtbewegungen und gesellschaftliche Polarisierungstendenzen betroffen sind, könnten Russland und der Iran ihren politischen Einfluss in der Region langfristig ausbauen.
In Syrien fehlte der politische Wille für eine Intervention. Vor allem in demokratischen Gesellschaften, deren innenpolitische Machtverhältnisse und vielfältige Interessenlagen sich regelmäßig verändern, ist ein langfristiges Engagement schwer zu realisieren, solange keine vitalen Interessen bedroht sind. Nicht zuletzt wollten die USA und Europa keine Konfrontation mit Russland oder dem Iran riskieren. Sie übten stattdessen diplomatischen Druck aus und verhängten wirtschaftliche Sanktionen gegen das Assad-Regime; Maßnahmen, die bis heute zu keinem Einlenken in Damaskus führten. Eine glaubhafte militärische Drohkulisse, auch zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung, wurde nicht aufgebaut.
Interventionsnarrative speisen sich auch aus vergangenen Erfahrungen. Während die gescheiterte UN-Operation in Somalia 1993 ausschlaggebend für das Zögern beim Völkermord in Ruanda 1994 war, ermöglichte das Scheitern des Westens beim Massaker von Srebrenica 1995 die Intervention im Kosovo 1999. Die Entscheidung, in Syrien nicht zu handeln, ist auch auf die kostspieligen und umstrittenen Engagements in Afghanistan, Libyen und dem Irak zurückzuführen. Der Irak zeigte, dass eine Intervention in einem Fiasko enden kann, wenn sie auf der Basis unrealistischer Vorstellungen und lückenhafter Kenntnisse geplant wird. Die USA unterschätzten vor allem die gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien – US-amerikanische Fehlentscheidungen verstärkten die Spannungen noch.
Die Fälle Irak und Syrien zeigen, dass militärische Interventionen ebenso wie eine sicherheitspolitische Zurückhaltung mit vielen Herausforderungen verbunden sind und gesellschaftliche Probleme weiter verschärfen oder gar heraufbeschwören können. Beide Ansätze können nicht als Modell westlichen Auslandsengagements dienen. Die Schlussfolgerung für die westliche Außen- und Sicherheitspolitik darf nicht sein, grundsätzlich auf Interventionen zu verzichten, aber retrospektiv lässt sich festhalten, dass ein militärisches Eingreifen realistische Ziele sowie einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen sollte – ein Engagement bei internationalen Krisen, das die Ressourcen der Diplomatie, der Entwicklungszusammenarbeit, der Sicherheitspolitik und der humanitären Hilfe einschließt. Nicht zuletzt muss die Bereitschaft bestehen, sich notfalls langfristig – vor allem in Moderationsfunktionen und im Dialog mit der lokalen Bevölkerung – zu engagieren. Denn auch Nichthandeln kann dramatische Konsequenzen haben: Die Zurückhaltung in Syrien trug letztlich zur humanitären Krise, wie wir sie heute sehen, bei.
Simon Engelkes ist Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
David Labude ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beirut.
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