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Auslandsinformationen

Krieg gegen Symptome

von Nils Wörmer, Lucas Lamberty

Warum der sogenannte Islamische Staat (IS) noch lange nicht besiegt ist

Der sogenannte Islamische Staat (IS) steht auf den Schlachtfeldern Syriens und Iraks militärisch unter Druck. Doch die Offensiven zur Rückeroberung der Hochburgen des IS gestalten sich schwierig, dem IS ist es gelungen, in weiteren Staaten der Region Fuß zu fassen, und die Gefahr terroristischer Anschläge in Europa ist unverändert hoch. Die internationale Gemeinschaft bekämpft die Symptome des IS, die Ursachen für den rasanten Aufstieg des Terrorstaates aber bestehen fort.

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Zwei Jahre nach seinem rasanten Eroberungszug und der Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 steht der sogenannte Islamische Staat (IS) auf den Schlachtfeldern Syriens und Iraks militärisch unter Druck. Doch die Offensiven zur Rückeroberung Rakkas und Mossuls, der Hochburgen des IS, gehen nur schleppend voran. Darüber hinaus ist die Gefahr terroristischer Anschläge in Europa – wie beispielsweise Nizza und Ansbach gezeigt haben – unverändert hoch und dem IS ist es gelungen, unter anderem in Libyen, Ägypten und Afghanistan Fuß zu fassen. Deutschland beteiligt sich seit September 2014 im Rahmen einer US-geführten internationalen Koalition an der Seite von 65 weiteren Staaten am Kampf gegen den IS und hat sich zu sicherheitspolitischen Schritten gezwungen gesehen, die noch vor wenigen Jahren als undenkbar galten. So beliefert Deutschland mit den irakischen Kurden erstmals eine unmittelbare Kriegspartei mit Waffen und Ausrüstung, betreibt mit der Bundeswehr eine Ausbildungsmission auf irakischem Boden und setzt Kampfflugzeuge – wenn auch nur zur Aufklärung – im syrischen und irakischen Luftraum ein. Um der Terrorgefahr in Deutschland zu begegnen, wurden zudem die Kapazitäten und Befugnisse der deutschen Nachrichtendienste und Polizei gestärkt.

Faktisch konzentriert sich der Kampf der internationalen Koalition vor allem auf die Symptome des vielschichtigen Problemfalls IS. Bei der Bekämpfung der Ursachen hingegen, die zum Aufstieg der auf einen al-Qaida-Ableger im Irak zurückgehenden Organisation geführt haben – allen voran der Staatszerfall im Irak, der Bürgerkrieg in Syrien sowie die sektiererischen Konflikte in beiden Ländern –, haben die Gegner des IS kaum Erfolge vorzuweisen. Wie unter einem Brennglas wird diese Tatsache mit Blick auf die Schwierigkeiten bei der Planung und Vorbereitung der Befreiung von Rakka und Mossul deutlich. Die Verbündeten am Boden sind zerstritten und – wenn überhaupt – nur bedingt geeignet, um vom IS zurückeroberte Gebiete zu halten, zu verwalten und zu regieren. Für die sunnitischen Araber in den vom IS kontrollierten Gebieten Syriens und Iraks fehlt es weiterhin an einer politischen Alternative. Die Bilanz im Kampf gegen den IS fällt nach zwei Jahren also durchwachsen aus. Es stellt sich die Frage, ob die bisherigen Anstrengungen der internationalen Koalition ausreichend sind, wie widerstandsfähig der IS in Syrien und Irak noch ist und über welches Potenzial die Organisation außerhalb ihrer Kerngebiete verfügt.

 

1. Die militärische Dimension: mühsame Symptombekämpfung

 

Das Vorgehen der Koalition

Die Strategiebildung der Koalition war von Beginn an von der Prämisse geleitet, den Einsatz eigener Bodentruppen so gering wie möglich zu halten. So umfasst die im September 2014 von der US-Regierung vorgestellte Strategie gegen den IS im Kern drei Komponenten. Erstens zielen Luftschläge der Koalition darauf ab, die personellen und materiellen Kapazitäten des IS zu dezimieren. Zweitens sollen lokale Verbündete in die Lage versetzt werden, im Bodeneinsatz IS-Kräfte zu zerschlagen und das Kalifat territorial zurückzudrängen. Drittens sollen im Rahmen eines politischen Ansatzes die strukturellen Ursachen in Syrien und Irak, die den Aufstieg des IS ermöglicht haben, beseitigt werden, um diesem langfristig seinen Nährboden zu entziehen.

Seit September 2014 hat die US-geführte Koalition mehr als 14.000 Luftangriffe auf Ziele in Syrien und Irak geflogen, um die Infrastruktur des IS zu zerstören und die Vorstöße ihrer lokalen Verbündeten zu unterstützen. Neben den Angriffen aus der Luft operieren mittlerweile Spezialkräfte der USA, Großbritanniens, Frankreichs und einiger anderer Staaten insbesondere im Nordirak gegen den IS. Diese zeitlich begrenzten Bodenoperationen innerhalb des IS-kontrollierten Gebietes dienen unter anderem der Aufklärung von Zielen, der Ausschaltung von gegnerischem Schlüsselpersonal und der Befreiung von Geiseln. Die deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen gegen den IS erfolgte als Reaktion auf die Terroranschläge von Paris am 13. November 2015 und umfasst den Einsatz einer Fregatte zum Schutz des französischen Flugzeugträgers Charles de Gaulle, eines Tankflugzeuges und von sechs Kampfjets des Typs Tornado zur Luftaufklärung. Der deutsche Beitrag blieb dabei hinter den Erwartungen der Bündnispartner zurück, löste aber trotzdem eine Debatte aus, die verdeutlichte, wo die Grenzen deutscher Leistungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft im Kampf gegen den IS derzeit verlaufen.

 

Der deutsche Beitrag bleibt hinter den Erwartungen der Bündnispartner zurück.

Die Unterstützung der Verbündeten beinhaltet die Bereitstellung von Waffen, Ausrüstung und Munition sowie Ausbildung und Beratung. In Syrien konzentriert sich die Militärhilfe der USA auf die Syrian Democratic Forces (SDF), die sich insbesondere aus den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zusammensetzen und im Nordosten des Landes aus den mehrheitlich kurdischen Gebieten heraus operieren. Die USA haben die SDF seit Oktober 2015 mit Waffen und 50 Militärberatern unterstützt und im April 2016 250 Angehörige von Spezialeinheiten für die direkte Beteiligung an Bodenoperationen entsendet. Im Irak hat die Koalition in den vergangenen zwei Jahren mit 3.700 US-Soldaten und etwa 2.000 Soldaten weiterer Staaten insgesamt mehr als 30.000 Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte und kurdischen Peschmerga ausgebildet und diese mit Waffen und Ausrüstung beliefert. Der deutsche Beitrag ist auf die Ausbildung der Peschmerga begrenzt, wozu die Bundeswehr eine etwa 130 Soldaten umfassende Ausbildungsmission im kurdischen Erbil betreibt. Im Gegensatz zu einigen Nato-Partnern wie den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien bildet Deutschland im Irak keine Angehörigen der regulären irakischen Armee und Polizei aus und beteiligt sich auch nicht an der Beratung der lokalen Verbündeten in der Planung und Durchführung ihrer Operationen.

Eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den IS kommt den regionalen Mächten Saudi-Arabien, Iran und Türkei zu. Die Türkei ist der US-geführten Koalition im Oktober 2014 beigetreten und hat durch die Schließung und verstärkte Sicherung ihrer Grenze zu Syrien im Frühjahr 2015 wesentlich dazu beigetragen, die vom IS kontrollierten Gebiete abzuriegeln. Ankara hatte die Grenze zu Syrien lange Zeit durchlässig gelassen, um den IS als Werkzeug gegen die syrischen Kurden und das Assad-Regime indirekt zu unterstützen. Durch die Grenzschließung wurde die Terrororganisation, die über keinen Seezugang verfügt, ihrer Möglichkeiten beraubt, Nachschub an Personal und Material einzuführen beziehungsweise Güter zum Verkauf auszuführen. Der Iran ist Teil einer von Russland ins Leben gerufenen Koalition gegen den IS und unterstützt seit August 2014 massiv die schiitischen Milizen im Irak und das Assad-Regime in Syrien. Saudi-Arabien kommt insbesondere bei der ideologischen Auseinandersetzung mit dem IS, der Austrocknung von Geldquellen in den Golfstaaten und als regionaler Rivale des Iran in den Konflikten in Syrien und Irak eine zentrale Bedeutung zu. Die von Riad im Dezember 2015 gegründete Islamic Military Alliance to Fight Terrorism hingegen ist als militärischer Akteur bis dato kaum in Erscheinung getreten und scheint den Saudis eher als Gegengewicht zum Hegemoniestreben Irans in der Region zu dienen.

 

Die militärische Situation des IS

Seit Ausrufung des Kalifats hat der IS erhebliche personelle und materielle Verluste hinnehmen müssen und zuletzt auch deutlich an Territorium eingebüßt, ohne dabei jedoch seine Handlungsfähigkeit zu verlieren. Dies ist auf die hybride Natur des IS, dessen partiellen Rückhalt in der lokalen Bevölkerung und flexible Führungsstrukturen zurückzuführen. Die Kampfführung der Organisation basiert sowohl auf konventionellen Militärtaktiken als auch auf Elementen der Guerillakriegsführung, die sich aus den Erfahrungen ehemaliger Offiziere des irakischen Baath-Regimes und alter Kader der IS-Vorläuferorganisation al-Qaida im Irak (AQI) speist. Seine Wandlungsfähigkeit erlaubt es dem IS, sich den Angriffen seiner Gegner immer wieder zu entziehen und auch deren Kontrolle über zurückeroberte Gebiete zu unterminieren. Die Organisation bleibt ein ernst zu nehmender militärischer Gegner, den zu besiegen noch erhebliche Kraftanstrengungen erfordern wird.

Der IS hat zwar seit seiner größten Ausdehnung im Frühjahr 2015 etwa ein Drittel seines Territoriums verloren, kontrolliert aber weiterhin große Gebiete in Syrien und Irak einschließlich der Millionenstadt Mossul. Bei den bisherigen territorialen Verlusten handelt es sich vor allem um Gebiete, in denen sunnitische Araber die Minderheit bilden und die kurdischen und schiitisch-arabischen Verbündeten der Koalition über Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Dieser Faktor wird beim Kampf um das sunnitisch-arabische Kerngebiet des IS nicht zur Geltung kommen, weswegen gerade mit Blick auf die Rückeroberung des Territoriums um Mossul und Rakka mit langwierigen Kämpfen zu rechnen ist. Die verlustreichen „Befreiungen“ der vergleichsweise kleinen Städte Ramadi und Falludschah waren diesbezüglich ein erster Vorgeschmack. Hinzu kommt, dass der IS in diesen Gebieten nach Rückeroberung durch Verbündete der Koalition leichter in der Lage sein wird, den Kampf mit terroristischen Mitteln fortzusetzen.

Eine Reihe von Mitgliedern des Führungsrates des IS – darunter die Stellvertreter Abu Bakr al Baghdadis für Syrien und Irak, Ali al-Anbari und Muslim al-Turkmani – ist in den vergangenen zwei Jahren getötet worden. Allerdings verfügt die Organisation auf allen Hierarchieebenen über funktionierende Nachfolgeregelungen und besteht nach Vorbild des ehemaligen Baath-Regimes aus sich gegenseitig ausbalancierenden Führungsstrukturen. Auf den unteren Befehlsebenen wird den Kommandeuren weitgehende Autonomie zugestanden, wodurch diese im Falle ihres Todes leichter ersetzt werden können. Selbst nach Eliminierung der Hälfte seiner Führungskader – wie von den USA kolportiert – ist der IS so handlungsfähig geblieben.

Sicherheitskreise schätzen die Stärke der Kerneinheiten des IS – nach Verlusten von etwa 25.000 Kämpfern allein infolge der Luftangriffe der vergangenen zwei Jahre – auf 20.000 bis 40.000 Kämpfer. Die Zahl der Neuankömmlinge bei den Foreign Fighters ist 2015 infolge des Verlustes von Nachschubrouten und der abschreckenden Wirkung der permanenten Luftschläge von durchschnittlich 2.000 auf 200 pro Monat abgesunken. Der IS ist seinen Gegnern zahlenmäßig deutlich unterlegen, allerdings relativieren schlechte Ausbildung, interne Konflikte und unzureichende Koordination die Stärke der mehr als 200.000 Kämpfer der lokalen Verbündeten der Koalition.

Der Vormarsch des IS in Syrien und Irak konnte 2014 und 2015 mit militärischen Mitteln zum Stehen gebracht und teilweise revidiert werden. Sollte es gelingen, das gesamte Territorium des IS zurückzuerobern, so wäre eine erneute Metamorphose der Organisation zurück zu einer Untergrundbewegung ein denkbares Szenario. Wie schnell die vollständige Rückeroberung der IS-kontrollierten Gebiete vonstattengehen und ob die Rückbildung vom „Staat“ zur Terrororganisation gelingen kann, hängt in erheblichem Umfang von den lokalen Verbündeten der Koalition und den weiteren politischen Entwicklungen in Syrien und Irak ab.

 

2. Die politische Dimension: Bürgerkriege und Staatszerfall als tiefer liegende Ursachen

 

Die Rakka-Offensive im Kontext des syrischen Bürgerkrieges

Mehr als fünf Jahre nach Beginn des arabischen Frühlings herrscht in Syrien weiter Bürgerkrieg und eine baldige politische oder militärische Entscheidung ist nicht in Sicht. Das von Russland, Iran und der libanesischen Hisbollah unterstützte Assad-Regime und die Rebellenbewegung, die sich hauptsächlich aus von der Türkei, Saudi-Arabien und Katar unterstützten islamistischen Gruppierungen zusammensetzt, stehen sich in einer militärischen Pattsituation gegenüber. Auch wenn die USA und Russland mittlerweile gemeinsam auf eine politische Lösung drängen, haben die Friedensverhandlungen in Genf bislang nicht zum Erfolg geführt. In diesem konfliktreichen Umfeld und der daraus resultierenden humanitären Katastrophe ist es schwierig, dem IS, der trotz seiner Schreckensherrschaft eine gewisse Stabilität in Nordostsyrien herbeigeführt hat, seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu entziehen. Verschärft wird die Situation durch die Tatsache, dass die aktuelle Offensive auf die mehrheitlich von sunnitischen Arabern bewohnten Gebiete um Rakka von der kurdischen YPG angeführt wird. Diese dominieren zahlenmäßig die SDF, in deren Rängen es immer wieder zu Konflikten zwischen Arabern und Kurden gekommen ist. Eine Rückeroberung der Gebiete durch die Armee des Assad-Regimes, die zeitgleich mit den SDF eine Offensive in der Provinz Rakka gestartet hat, wird ebenfalls auf großes Misstrauen stoßen. Ohne den Rückhalt der lokalen Bevölkerung laufen die Vorstöße Gefahr, diese weiter in die Arme des IS zu treiben.

 

Staatszerfall im Irak und die Offensive auf Mossul

Noch komplizierter stellt sich die Situation in Mossul dar, dem ideologischen Zentrum und der eigentlichen Hochburg des IS. In Mossul manifestieren sich die zwei Hauptprobleme des Staatszerfalls im Irak: die schwache Zentralregierung als Resultat ethnisch-konfessioneller Machtkämpfe und die Marginalisierung der sunnitischen Araber. Der Rückeroberung der zweitgrößten irakischen Stadt kommt dadurch eine außerordentliche innenpolitische Brisanz zu.

Der Wettstreit der wichtigsten innenpolitischen Akteure – der schiitischen Milizen, der Zentralregierung in Bagdad und der irakischen Kurden – sowie der Regionalmächte Iran und Türkei um Einfluss im Land hat die irakische Anti-IS-Koalition deutlich geschwächt. Mitte April 2016 kam es zu Gefechten zwischen Peschmerga und der vom Iran unterstützten schiitischen Miliz al-Haschd asch-Schabi südlich von Kirkuk. Die irakischen Kurden lehnen eine Beteiligung der Milizen an der Offensive auf Mossul ab. Der Dauerkonflikt zwischen Bagdad und Erbil um umstrittene Territorien, Transferzahlungen und kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen geht so weit, dass beide Seiten zwar Stellungen rund um Mossul bezogen haben, es jedoch keine ständige Kommunikation zwischen ihren Streitkräften gibt, was einen koordinierten Angriff deutlich erschwert. Um den Einfluss des Iran im Irak auszubalancieren, hat die Türkei gegen den Willen der Regierung in Bagdad mehr als 1.200 Soldaten im Nordirak stationiert, welche die etwa 6.000 Kämpfer der sunnitisch-arabischen Miliz al-Haschd al-Watani bei der Rückeroberung Mossuls unterstützen sollen. Hinzu kommen Konflikte zwischen Einheiten unterschiedlicher kurdischer Parteien entlang der Front nordwestlich von Mossul.

 

Die Koalition konnte die Rahmenbedingungen, die den Aufstieg des IS ermöglicht haben, nicht beseitigen.

Die fortgesetzte Marginalisierung der sunnitischen Araber in Staat und Gesellschaft im Irak erschwert weiterhin die Zurückdrängung des IS. Dessen Vormarsch wurde 2014 von vielen Sunniten als Befreiung gegenüber der sektiererischen und brutalen Politik des schiitischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki empfunden. Die Einsetzung des gemäßigteren Schiiten Haidar al-Abadi als Ministerpräsident im September 2014 hat daran wenig geändert. Das hat vor allem mit der verfehlten Reformagenda Abadis, der kaum Maßnahmen zur besseren Integration der sunnitischen Araber durchsetzen konnte, und der gewichtigen Rolle der schiitischen Milizen im Kampf gegen den IS zu tun. Letzere werden als verlängerter Arm des Iran wahrgenommen, haben offenbar mehrfach Kriegsverbrechen an sunnitischen Arabern in vom IS zurückeroberten Gebieten begangen und sind trotzdem in den irakischen Sicherheitsapparat eingebunden. Dies hat dazu geführt, dass der IS von vielen sunnitischen Arabern weiterhin als geringeres Übel wahrgenommen wird. Insbesondere in Mossul unterstützt eine Mehrheit der Bevölkerung die Terrororganisation nach wie vor.

Der Koalition ist es folglich nicht gelungen, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beseitigen, die den Aufstieg und die Persistenz des IS in Syrien und Irak erst ermöglicht haben. Ohne die Rückgewinnung der lokalen Bevölkerung kann die Organisation nicht dauerhaft beseitigt werden. Der IS hingegen hat derweil unter Ausnutzung von Bürgerkriegen und schwacher Staatlichkeit die Expansion seiner Strukturen in weitere Staaten vorangetrieben.

 

Die Provinzen des IS in Libyen, Ägypten und Afghanistan

Die Organisation hat 2014 und 2015 auf den Staatsgebieten Algeriens, Libyens, Ägyptens, Nigerias, Saudi-Arabiens, Jemens, Afghanistans, Pakistans und Russlands insgesamt 20 neue Provinzen (Wilayat) ausgerufen. Bei der Mehrzahl der Gruppierungen, die sich dem IS in den vergangenen beiden Jahren angeschlossen haben, handelt es sich um ortsansässige dschihadistische Organisationen wie die nigerianische Boko Haram oder die zentralasiatische Islamische Bewegung Usbekistans. In den meisten Fällen haben die Führer oder einzelne Kommandeure solcher lokaler Gruppen al-Baghdadi die Treue geschworen, wurden bis dato jedoch kaum in die Führungsstrukturen der Kernorganisation eingebunden. Auch wenn die Filialen bislang nur eine geringfügige territoriale Kontrolle ausüben, so ist die nominelle Existenz von Provinzen außerhalb Syriens und Iraks wegen des Anspruchs, ein weltweites Kalifat zu errichten, von immenser ideologischer und propagandistischer Bedeutung für den IS. Gleichzeitig stellen sie eine zunehmende Gefahr für Europa dar. Einige der Filialen, die in diesen Provinzen operieren, bieten dem IS Rückzugsräume, die auch für die Vorbereitung von Anschlägen auf europäische Ziele genutzt werden können. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage, ihrer militärischen Stärke und ihrer politischen Relevanz kommt insbesondere den Filialen in Ägypten, Afghanistan und Libyen eine wesentliche Bedeutung für europäische Sicherheitsinteressen zu.

So liegt das Wilayat Sinai in Ägypten, das 2014 aus der Organisation Ansar Bayt al-Maqdis(ABM) hervorging, in unmittelbarer Nähe zu den Hochburgen palästinensischer Islamisten im Gazastreifen, dem erklärten IS-Ziel Israel und dem maritimen Nadelöhr Suezkanal. Die Gruppe umfasst nur wenige hundert Dschihadisten, profitiert aktuell aber von der Rückkehr ägyptischer Kämpfer aus Syrien und Irak. Eine latente Gefahr besteht zudem darin, dass der IS erfolgreich unter der großen Zahl frustrierter Islamisten rekrutiert, die der ägyptische Staat durch das repressive Vorgehen seines Militärs gegen die Muslimbruderschaft seit 2013 produziert hat. Bis zum Anschluss an den IS richteten sich die Angriffe dieser Gruppe gegen Einrichtungen der ägyptischen Sicherheitskräfte, seitdem verübt ABM vornehmlich Anschläge auf touristische Ziele, wie den gegen ein russisches Passagierflugzeug im Oktober 2015.

Das Wilayat Khorasan im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet wurde im Januar 2015 proklamiert, nachdem bereits im Herbst 2014 einige afghanische und pakistanische Taliban-Kommandeure der mittleren Führungsebene ihren Übertritt zum IS erklärt hatten. Die Schätzungen über die gegenwärtige personelle Stärke des IS in Afghanistan variieren deutlich, was auch auf die territorialen Verluste der vergangenen Monate zurückzuführen ist. Nachdem der IS im Begriff war, in mehreren afghanischen Provinzen Fuß zu fassen, ist es den afghanischen Sicherheitskräften mit US-Unterstützung mittlerweile gelungen, das Wilayat Khorasan auf ein kleines Gebiet in der ostafghanischen Provinz Nangarhar zurückzudrängen. Dennoch bleibt der IS eine ernst zu nehmende Gefahr in Afghanistan, wie unlängst ein Anschlag mit fast 100 Toten in Kabul im Juli 2016 gezeigt hat. Sollte sich der IS langfristig in Afghanistan festsetzen, so würde dies die durchwachsene Bilanz der westlichen Intervention zusätzlich trüben.

Der IS-Ableger in Libyen stellt die bedeutendste Filiale der Organisation dar und unterhält die engsten strukturellen Verbindungen zur Führung in Syrien und Irak. Angesichts dessen und wegen der geografischen Nähe geht von dieser Filiale – abgesehen von der Kernorganisation – potenziell die größte Terrorgefahr für Europa aus. Der IS hat gezielt das staatliche Vakuum in Libyen nach der militärischen Intervention 2011 ausgenutzt und bereits ab 2013 damit begonnen, sich im Land zu etablieren. Zum Aufbau des Ablegers verlegten die IS-Strategen zunächst irakische Kommandeure und 800 kampferfahrene Libyer aus Syrien und Irak nach Libyen. Danach wurde der Fluss westlicher Kämpfer in die neue Provinz umgeleitet und es wurden gezielt Dschihadisten aus dem Maghreb und der Sahel-Zone rekrutiert. Dies hat es dem IS in Libyen erlaubt, von weniger als 1.000 Kämpfern Ende 2014 auf mittlerweile bis zu 11.000 Kämpfer anzuwachsen. Die territoriale Kontrolle des IS beschränkte sich bis August 2016 auf einen etwa 200 Kilometer langen Küstenstreifen um die nordlibysche Stadt Sirte. Mittlerweile ist es der libyschen Armee mit Unterstützung von US-Luftschlägen gelungen, die Gebiete zurückzuerobern. Allerdings kommt dies noch keinem Sieg über den IS in Libyen gleich, da die Terrororganisation Zellen in Bengasi, Tripoli und anderen Landesteilen unterhält und damit weiterhin eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle darstellt.

 

3. Die polizeilich-nachrichtendienstliche Dimension: Der lange Arm des IS

 

Möglichkeiten und Fähigkeiten des IS in Europa

Die Kontrolle großer Gebiete in Syrien und Irak und die fortschreitende Filialbildung bescheren dem IS Rückzugsräume für die weitgehend ungestörte Rekrutierung und Ausbildung von Terroristen und die Vorbereitung komplexer Anschläge in Europa. Seinem globalen Herrschaftsanspruch folgend hat der IS die Expansion seiner terroristischen Aktivitäten nach Europa bereits 2012 ins Auge gefasst und seit Ende 2013 konkret vorbereitet. Strategisches Ziel ist es, durch Anschläge gegen westliche Ziele Zwietracht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa zu säen, die Flüchtlingsdebatte zu instrumentalisieren, hierdurch die Staaten der EU zu entzweien und in letzter Konsequenz die Übermacht des islamischen Kalifats zu demonstrieren.

Der IS greift auf zwei Dschihad-Konzepte zurück, die einer grundlegend unterschiedlichen Logik folgen. Die erste Kategorie bilden sogenannte Lone Wolf- oder Einzeltäterangriffe, die von Personen durchgeführt werden, die sich eigenständig durch IS-Propaganda – häufig im Internet – radikalisiert haben und über keinerlei direkte Anbindung an den IS verfügen. In der Regel haben diese Täter nie für den IS in Syrien oder Irak gekämpft und auch keinerlei terroristische Ausbildung erhalten. Die Grundlage ihrer indirekten Rekrutierung legte IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani am 22. September 2014 durch einen Aufruf an alle europäischen Muslime, ihre nicht-muslimischen Mitbürger zu töten, den er zu Beginn des Fastenmonats Ramadan im Juni 2016 erneuerte. In der Folge kam es seit 2014 zu einer Welle von Angriffen durch Einzeltäter in Europa, vor allem in Frankreich. Die Angriffe von Angehörigen dieser Personengruppe zeichneten sich oftmals durch ihren begrenzten Umfang, schlechte Vorbereitung und unzureichende Bewaffnung aus und verursachten größtenteils geringe Opferzahlen. Die Anschläge auf einen Nachtklub in Orlando am 12. Juni 2016, bei dem fast 50 Menschen starben, sowie in Nizza am 14. Juli, bei dem 85 Menschen getötet wurden, haben jedoch gezeigt, dass auch Einzeltäter zunehmend in der Lage sind, Angriffe mit hohen Opferzahlen durchzuführen. Durch solche Attentate, die zu verhindern nahezu unmöglich ist, gelingt es dem IS, ohne langfristige und aufwendige Planung ein ständiges Klima der Angst aufrechtzuerhalten und seine kontinuierliche Präsenz in Europa zu demonstrieren.

Eine noch größere Gefahr bildet der gelenkte, zellenbasierte Dschihad. Hierzu wählt der IS gezielt Personen mit Kampferfahrung und – wenn möglich – einschlägigen Orts- und Sprachkenntnissen in europäischen Ländern aus, trainiert diese und sendet sie nach Europa. Dies umfasst sowohl europäische Foreign Fighters, die in ihre Herkunftsländer zurückkehren, als auch Kämpfer aus den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa geschleust werden. Einem solchen Muster folgten beispielsweis die verheerenden Anschläge in Paris am 13. November 2015 und in Brüssel am 22. März 2016. Von den mehr als 5.000 europäischen Staatsbürgern, die in Syrien und Irak für den IS gekämpft haben, sind mittlerweile etwa 1.200 nach Europa zurückgekehrt. Sicherheitskreise gehen davon aus, dass sich hierunter mindestens 400 Personen befinden, die der IS gezielt ausgewählt und entsendet hat, um Anschläge in Europa vorzubereiten.

 

Gerade die europäischen ''Foreign Fighters'' bergen ein großes Gefahrenpotenzial.

Die europäischen Rückkehrer bergen ein besonderes Gefahrenpotenzial, da sie sich durch den Schutz ihrer bestehenden sozialen Netzwerke in Europa der staatlichen Überwachung leicht entziehen können, als Multiplikatoren wirken und dann einem Virus gleich ihr Umfeld befallen, indem sie dort rekrutieren und Zellen bilden. Die Bakraoui-Brüder etwa, die sich als Selbstmordattentäter beim Anschlag in Brüssel in die Luft sprengten, hatten niemals für den IS gekämpft, stammten aber aus dem Umfeld von Rückkehrern wie Abdelhamid Abaaoud, der als Drahtzieher der Anschläge in Paris gilt. Bei der Zellenbildung greifen die europäischen Kämpfer auf die Netzwerke des IS zurück, die bislang zur Rekrutierung für Syrien und Irak dienten und nun für die Anschlagsplanung in Europa eingesetzt werden. Die als Flüchtlinge nach Europa geschleusten Dschihadisten werden entweder in bestehende Zellen integriert – wie im Falle der zwei irakischen Attentäter in Paris – oder bilden eigene Angriffsstrukturen. Anfang Juni 2016 wurde etwa eine IS-Zelle in Düsseldorf zerschlagen, die aus vier syrischen Flüchtlingen bestand.

Die Terrorzellen bilden ein europaweites Netzwerk und agieren weitgehend autonom von der IS-Führung in Rakka. Der IS setzt eine Auftragstaktik ein, wobei Ziel und Zeitrahmen eines Anschlags definiert, die Ausführungsmodalitäten aber komplett der Zelle überlassen werden. Das Netzwerk besteht sowohl aus Angriffszellen als auch aus Unterstützungszellen, die in die Gesamtoperation nicht eingeweiht und allein für Bombenbau, Waffenbeschaffung und andere unterstützende Tätigkeiten zuständig sind. Wird eine IS-Zelle zerschlagen, hat dies nur geringfügige Auswirkungen auf die Operationsfähigkeit des Gesamtnetzwerks in Europa. Durch die grenzüberschreitende Arbeit nutzt der IS geschickt Schwachstellen in der polizei- und nachrichtendienstlichen Arbeit der EU-Mitgliedstaaten aus, deren Informationsaustausch den offenen Grenzen des Schengen-Raums bislang nur unzureichend gerecht wurde. Die Anschläge des IS in Europa werden dabei zunehmend anspruchsvoller und gleichzeitig unberechenbarer.

 

Bedrohungslage und Anti-Terrormaßnahmen in Deutschland

Deutschland galt lange als Transit- und Rückzugsland für islamistische Terroristen, doch spätestens mit den Anschlägen in Würzburg und Ansbach ist der IS-Terror auch in Deutschland angekommen. Der IS hat zudem zu Anschlägen auf Ziele wie etwa das Bundeskanzleramt und den Flughafen Köln-Bonn aufgerufen und versucht darüber hinaus, deutsche IS-Kämpfer in Syrien und Irak gezielt zum Aufbau von Zellen zurückzusenden. Mehr als 800 Personen aus Deutschland sind laut BKA dem IS beigetreten und nach Syrien und Irak ausgereist, davon sind bislang ungefähr 260 zurückgekehrt.

Als Reaktion auf die Terrorgefahr hat die Bundesregierung die Anti-Terror-Gesetzgebung 2015 verschärft, Personal und finanzielle Mittel von Verfassungsschutz, BKA, Bundespolizei und Bundesnachrichtendienst aufgestockt und sich im Rahmen der EU für eine bessere Erfassung von Terrorgefahren und den Austausch von Informationen eingesetzt. Das neue Anti-Terror-Paket der Bundesregierung, das Ende Juni 2016 im Bundestag verabschiedet wurde, sieht beispielsweise eine stärkere Zusammenarbeit des BND und des Verfassungsschutzes mit ausländischen Geheimdiensten, den Einsatz von verdeckten Ermittlern der Bundespolizei in der Gefahrenabwehr und die Vorlage eines Ausweises beim Kauf von Prepaidkarten für das Handy vor. Diese Maßnahmen werden durch den Neun-Punkte-Plan zur Terrorabwehr weiter ergänzt, den Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Attentat in Ansbach vorgestellt hat. Dieser sieht unter anderem Einsätze der Bundeswehr bei großen Terroranschlägen, eine schnellere Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern sowie einen besseren europäischen und internationalen Austausch von Informationen vor. Unlängst präsentierte Innenminister Thomas de Maizière Pläne für eine weitere Aufstockung der Kapazitäten für Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz. Beschlossen ist bislang die Einrichtung von 4.600 zusätzlichen Stellen bei den Sicherheitsbehörden des Bundes, wobei 3.250 auf die Bundespolizei entfallen.

 

Die Maßnahmen der Merkel-Regierung sind ein erster wichtiger Schritt im Anti-Terror-Kampf in Deutschland.

Diese Maßnahmen sind ein erster wichtiger Schritt im Anti-Terror-Kampf in Deutschland und sollten weiter forciert werden. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen von 1.100 Personen aus, die zum islamistisch-terroristischen Kreis gehören, wobei etwa 500 als unmittelbare Gefährder eingestuft werden, denen jederzeit ein Anschlag in Deutschland zugetraut wird. Gemessen an dieser Zahl liegt der Personaleinsatz der Sicherheitsbehörden zur Überwachung weiter unter dem europäischen Durchschnitt. Die Sicherheitsbehörden kennen den Aufenthaltsort von nur etwa 40 bis 60 Prozent der 800 nach Syrien und Irak ausgereisten und teilweise zurückgekehrten Dschihadisten. Laut Bundesregierung fehlt von 76 Islamisten jede Spur, sie werden mit Haftbefehl gesucht. Aber selbst wenn der Aufenthaltsort der Gefährder bekannt ist, gibt es aufgrund von Personalengpässen keine lückenlose Überwachung, sodass mittlerweile eine Priorisierung anhand des Gefährdungspotenzials vorgenommen werden muss. Etwa 80 Prozent der Hinweise, die zur Zerschlagung von islamistischen Strukturen oder sogar zur Vereitelung unmittelbar bevorstehender Anschläge führten, wurden von ausländischen Nachrichtendiensten an die deutschen Sicherheitsbehörden weitergegeben. Der personellen und materiellen Aufstockung der deutschen Sicherheitskräfte kommt somit weiterhin eine hohe Priorität zu. Dies ist umso drängender, da viele der etwa eine Million Flüchtlinge in Deutschland zunächst nur unzureichend erfasst und überprüft worden sind. Zudem sollte Deutschland seine Bemühung mit Blick auf die Entwicklung einer umfassenden Präventionsstrategie verstärken, um Radikalisierungstendenzen langfristig entgegenzuwirken.

Auch im Hinblick auf die Rechtslage besteht Handlungsbedarf. So dauert etwa die Bearbeitung eines G 10-Antrags (Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) durch die G 10-Kommission des deutschen Bundestages in der Regel mehrere Wochen. Da der Antrag geräte- und nicht personenbezogen gestellt wird, können Gefährder in diesem Zeitraum leicht ihre Telefone austauschen. Im April 2016 hat zudem das Bundesverfassungsgericht wichtige Befugnisse des BKA zur Terrorabwehr als verfassungswidrig erklärt. Viele der Bestimmungen zur Überwachung werden von Karlsruhe als zu weitreichend angesehen und greifen nach Ansicht der Richter verfassungswidrig in die Grundrechte der Bürger ein. Bis Juni 2018 muss der Gesetzgeber das Gesetz nun verbessern, in der Zwischenzeit gelten zahlreiche Vorgaben des Verfassungsgerichts, damit das Gesetz weiter angewendet werden kann.

 

Handlungsbedarf besteht u.a. in den Bereichen Personal, Prävention und Informationsaustausch auf EU-Ebene.

Schließlich fehlt es an einem effektiven Informationsaustausch auf europäischer Ebene, insbesondere unter den Polizeibehörden. Als Reaktion auf die Terroranschläge wurde bei Europol ein Anti-Terror-Zentrum eingerichtet, in dem 40 bis 50 Spezialisten die Informationen der europäischen Sicherheitsbehörden sammeln. Der Informationsaustausch scheitert aber weiterhin an der fehlenden Kooperationsbereitschaft vieler Polizeibehörden der EU-Mitgliedstaaten, wobei 90 Prozent der an Europol gelieferten Informationen aus fünf Staaten kommen, darunter Deutschland. Auch unterschiedliche technische Standards in den Mitgliedstaaten und abweichende Definitionen von „islamistischen Gefährdern“ führen dazu, dass der Datenaustausch beeinträchtigt wird. Nach wie vor sind die verschiedenen Informationstöpfe – etwa Informationen über Visa, Flugbewegungen, Flüchtlingsströme sowie das „Schengener Informationssystem“ – nur unzureichend verknüpft, eine einheitliche europäische Datenbank über Terrorverdächtige fehlt.

 

Fazit: Krieg den Ursachen!

Aus dem Aufstieg und dem Fortbestehen des sogenannten Islamischen Staates resultiert eine terroristische Bedrohung für Europa und die USA, die eine höhere Komplexität aufweist, als dies seit Ende der 1990er Jahre angesichts der operativen Fähigkeiten von al-Qaida der Fall war. Die Gefahr, die durch die Territorialität des IS von syrischem und irakischem Boden für das Staatsgebiet der Bundesrepublik und ihre Bürger ausgeht, ist konkret. Sie unterscheidet sich fundamental von der Bedrohung, die von afghanischem Boden nach 2001 für Deutschland ausging, weil dort kein Kalifat existierte. Die IS-Terroristen von heute verfügen in Syrien und Irak über nahezu perfekte Rekrutierungsmöglichkeiten, Rückzugsräume und Ausbildungsbedingungen. Darüber hinaus konnten sie die Flüchtlingskrise, in deren Verlauf zwischen August 2015 und Januar 2016 mehrere 100.000 Personen zunächst unkontrolliert nach Europa und Deutschland gelangt sind, für die Schleusung von potenziellen Attentätern ausnutzen. Hinzu kommt, dass der IS Deutschland als eines seiner bevorzugten Ziele auserkoren hat, was die deutsche Terrorabwehr vor zusätzliche Herausforderungen stellt.

Die westliche Staatengemeinschaft bekämpft die Symptome dieses Phänomens in zweierlei Hinsicht. Sie versucht im Rahmen der Koalition, mit bislang überschaubarem militärischem Einsatz die physischen Auswüchse des IS in Syrien und Irak zu beseitigen und die von dort entsendeten Attentäter mit Kapazitäten bei Polizei und Nachrichtendiensten in Europa abzufangen. Um das Risiko von Anschlägen durch den IS in Europa langfristig zu minimieren, muss die Strategie bei der Radikalisierung, Ausbildung und frühen Vorbereitungsphase von Angriffen ansetzen. Da diese Schritte in Teilen in Syrien und Irak stattfinden und die Strahlkraft des Kalifats durch seine bloße Existenz weltweit Unterstützer generiert, kommt der zeitnahen physischen Zerschlagung des IS dort eine immense Bedeutung zu.

Befürworter der gegenwärtigen Strategie rechtfertigen den begrenzten militärischen Einsatz und das langsame Vorgehen gegen den IS in Syrien und Irak mit (noch) fehlenden politischen Lösungen für ein zügig herbeigeführtes Post-IS-Szenario. Dem kann entgegengehalten werden, dass Bemühungen für eine Beendigung des Bürgerkrieges in Syrien und eine Stabilisierung des Irak seit dem Siegeszug des IS im Sommer 2014 eher zögerlich und situativ erfolgten. Die westliche Syrienpolitik hat nach Jahren halbherziger Initiativen erst durch die russische Intervention im September 2015 wieder an Konturschärfe gewonnen, ohne hierbei bis dato greifbare Erfolge vorzuweisen. Da der IS aber in erster Linie eine irakische Organisation ist, liegt der Schlüssel zum Sieg über das Kalifat eben dort. Gerade mit Blick auf den Irak wird dem neuartigen Phänomen IS jedoch nicht mit neuen militärischen und politischen Ansätzen, sondern mit einer rückwärtsorientierten Politik, die ganz im Zeichen des Vermächtnisses des letzten Irakkrieges steht, begegnet. So orientiert sich die Politik der USA im Irak nicht an den politischen und militärischen Realitäten im Land, sondern folgt in erster Linie dem Mantra Präsident Obamas, alle US-Truppen nach Hause zu bringen. Der Blick Washingtons auf die Lage im Irak ist hierbei extrem von den negativen Erfahrungen mit dem umfassenden Militäreinsatz nach 2003 und dem gescheiterten State Building getrübt. Großbritannien verbindet mit dem Irak wegen der „Kriegslüge“ der eigenen Regierung, der schweren militärischen Verluste und hohen wirtschaftlichen Kosten ein Trauma. Die Irakpolitik Deutschlands und Frankreichs bis zum Sommer 2014 war von der ablehnenden Haltung gegenüber der Intervention von 2003 und der daraus resultierenden Nichteinmischung in dem Land geprägt. Die Flüchtlingskrise 2015 und die gegenwärtige Terrorgefahr in Europa haben aber verdeutlicht, dass Deutschland und andere europäische Staaten stärker als die USA von den Folgen von Bürgerkrieg, Staatszerfall und IS-Präsenz in Syrien und Irak betroffen sind. Die militärischen und politischen Bemühungen Europas – gerade auch im Irak – müssen dieser Tatsache zukünftig gerecht werden.

 


 

Nils Wörmer ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für Syrien/Irak.

 

Lucas Lamberty ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung für Syrien/Irak.

 


 

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4. April 2016
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