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Mehr als Mauern

von Ing. Hans-Hartwig Blomeier, Patricio Garza Girón, Christian E. Rieck

Lateinamerikas Rolle im Dreieck mit Europa und den ­USA

Eine Hinwendung Deutschlands und Europas zu Lateinamerika könnte die transatlantischen Beziehungen um neue Partner und neue Themen ergänzen, ohne den Kontakt zu Washington abreißen zu lassen. In der Region gibt es jedoch unterschiedliche Sichtweisen auf Europa. Mexiko ist in Lateinamerika aufgrund der engen Verflechtungen mit den ­USA und den mit Europa gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen ein Sonderfall. Gerade als Gegengewicht zu Chinas Einfluss ist eine verstärkte europäische und US-amerikanische Zusammenarbeit wünschenswert.

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Die transatlantischen Beziehungen sind seit dem Amtsantritt Donald Trumps in eine Phase der Verstörung und Entfremdung eingetreten. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in ihrer Rede vor dem deutschen diplomatischen Korps am 6. Juli 2018 über die schwierige Zeit, die die transatlantischen Beziehungen durchleben. In ihrer Rede setzte sie sich dafür ein, die Verbindungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten zu stärken: „Wir profitieren von den Stärken beider. Deshalb brauchen wir die transatlantischen Beziehungen.“ Am 20. März 2018 hatte bereits der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die transatlantischen Beziehungen ein Eckpfeiler für die Sicherheit und den Wohlstand der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union seien. Er betonte auch, dass die Europäische Union (EU) sich den Vereinigten Staaten gegenüber weiter annähern müsse, um diese Beziehungen zu stärken.

Die Erklärungen von Merkel und Tusk machen deutlich, dass das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten durch die von der Regierung Donald Trump betriebene Politik in eine Spirale der Unruhe und der Ungewissheit abgeglitten ist. Viele Beobachter erleben sie als eine einmalige, so nie dagewesene Entfremdung. Die Besorgnis über diesen Zustand überrascht nicht, waren doch die Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Europa von fundamentaler Bedeutung. Es scheint geboten, die transatlantischen Beziehungen zu überdenken.

Eine Hinwendung Deutschlands und Europas zu Lateinamerika könnte in diesem Zusammenhang die transatlantischen Beziehungen um neue Partner und neue Themen ergänzen, ohne den Kontakt zu Washington abreißen zu lassen: Es ginge um eine „erweiterte transatlantische Partnerschaft“. Lateinamerika wäre eine natürliche Option für die Suche nach neuen Partnerschaften. Hierbei ist jedoch eine Differenzierung erforderlich, da es in der Region unterschiedliche Sichtweisen auf Europa gibt. In diesem Kontext ist Mexiko in Lateinamerika aufgrund der engen Verflechtungen mit den USA einerseits und der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen, die das Land mit Europa teilt, andererseits ein Sonderfall. Wegen der Präsenz Chinas als Handelspartner in der Region wäre eine solche Erweiterung der Partnerstruktur darüber hinaus nicht einfach.

Trump und Lateinamerika

Der zuweilen ruppige Ton und die strategische Orientierungslosigkeit im Weißen Haus erschweren die Zusammenarbeit zwischen Lateinamerika und den USA erheblich. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geteilte demokratische Wertebasis wie auch die gemeinsamen wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und regionalpolitischen Interessen von dieser Verschiebung in Stil und Substanz wenig berührt werden.

Konservative, marktorientierte Regierungen wie in Chile oder Argentinien, aber auch linke Präsidenten wie in Mexiko bemühen sich denn auch weiterhin um eine engere Zusammenarbeit mit den USA, die in der Region jenseits bilateraler politischer Verstimmungen weiter stark politisch, sicherheitspolitisch und ökonomisch engagiert bleibt. Diese Strukturen sind robust, da sie auf beiden Seiten von einer Vielzahl von Akteuren in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft getragen werden. Die Verengung der Medienberichterstattung auf den Präsidenten, die auch in Lateinamerika stattfindet, blendet die Intensität dieser hemisphärischen Verflechtung allzu oft aus.

Es bleiben für beide Seiten dringliche und relevante strukturelle Herausforderungen, die ihre Brisanz dadurch gewinnen, dass sie tiefgreifende regionale Implikationen haben:

  • Lateinamerika, insbesondere Mexiko und Zentralamerika, bilden mit den USA ein regionales Migrationssystem. Dabei wandern Hunderttausende von den wirtschaftlich schwächeren, physisch gefährlicheren oder den politisch instabileren Staaten in die wohlhabenderen, sichereren und stabileren Staaten der Region: nach Argentinien, Chile, Panama, Mexiko und natürlich in die USA – vor der Bolivarischen Revolution auch nach Venezuela. Vor allem die Auswanderung in die USA ist dabei auch kulturell verankert, da die Vereinigten Staaten noch immer als Land der Chancen gelten. Diese „aspirationalen“ Migrationsströme in und aus Lateinamerika, in denen Menschen für sich und ihre Familie eine bessere Zukunft suchen, sind durch keinen noch so ausgeprägten Wandel im präsidentiellen Diskurs zu bremsen. Die Migrantenkarawane, die sich im Sommer 2018 in Richtung USA in Bewegung setzte, gibt davon beredt Zeugnis.
  • Das Ausufern der Organisierten (Drogen-)Kriminalität konnte bisher nicht in den Griff bekommen werden. Diese transnational vernetzten und finanziell sehr gut ausgestatteten Akteure nutzen als Operationsbasis die schwache Staatlichkeit in der Region, die auch an den territorialen oder gesellschaftlichen Peripherien der Schwellenländer auftritt – städtische Slums, wirtschaftlich abgehängte Provinzen, dichte Regenwälder ohne staatliche Präsenz. Das Einsickern dieser Gewaltakteure auch in die stärker entwickelten Schwellenländer in der Region ließ sich bisher kaum verhindern – nicht zuletzt, weil staatliche Stellen in der ganzen Region (und nicht nur in den fragilen Staaten) von den Drogenkartellen korrumpiert werden. Die Organisierte (Drogen-)Kriminalität ist zu einem endemischen, also systemischen Problem geworden, vor allem in Mexiko, Kolumbien und Brasilien als auch in den zentralamerikanischen Staaten wie Honduras, wo heute mehr Menschen sterben als während der Bürgerkriege in den 1980er Jahren. Das zeigt, wie komplex dieses Problem ist – und auch, dass es auf der gemeinsamen Agenda Lateinamerikas wie der USA bleiben wird.
  • Die Fortführung des kolumbianischen Friedensprozesses bleibt im Interesse der Region wie auch der USA. Die strukturelle Verbindung der Vereinigten Staaten mit Kolumbien äußert sich vor allem in einer engen Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, geht aber weit darüber hinaus und beinhaltet auch eine wirtschaftliche und wissenschaftliche Partnerschaft. Solche Kooperationsstrukturen sind langlebig und überdauern politische Konjunkturen.
  • Ein letztes Beispiel ist die durch das Regime Maduro verursachte humanitäre Katastrophe in Venezuela. Längst ist sie zu einem regionalen Problem erster Ordnung geworden: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Implosion im Kontext eines politisch autoritären Regimes hat eine der größten Flüchtlingskrisen in der Geschichte Lateinamerikas verursacht. Der diktatorisch regierende Nicolás Maduro wurde am 24. Januar 2019 von Parlamentspräsident Juan Guaidó herausgefordert, der sich zum neuen Staatschef erklärte. Obwohl die venezolanischen Streitkräfte Maduro ihre Loyalität zusicherten, haben die USA sowie die meisten lateinamerikanischen Staaten mit den Ausnahmen Mexiko, Kuba, Bolivien und Uruguay Guaidó umgehend als legitimen Übergangspräsidenten anerkannt. Das zeigt, dass die Vereinigten Staaten auch unter Trump für die Opposition in Venezuela noch immer ein wichtiger Verbündeter sind.

Unabhängig von ihrer Subregion, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung oder politischen Ausrichtung wird es für die lateinamerikanischen Länder in den nächsten Jahren vor allem darum gehen, Trumps Aufmerksamkeit zu erregen und die USA (wieder) für die Region zu interessieren. Das weist schon darauf hin, dass im Weißen Haus bereits lange vor Trump ein ausgeprägtes Desinteresse gegenüber der Region existierte – und erklärt, jedenfalls teilweise, wieso die lateinamerikanische Verstörung über das Phänomen Trump jenseits von Mexiko und Kuba relativ gering ausfällt.

Chancen für Europa

Auf die eben beschriebenen Herausforderungen in der Region reagieren auch Deutschland und Europa. So ist die EU vielseitig im kolumbianischen Friedensprozess engagiert, Deutschland zum Beispiel bei der Stärkung lokaler Verwaltungsstrukturen. In Venezuela hat nach den USA auch die EU Guaidó ihre Unterstützung zugesagt. Das zeigt das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in den grundlegenden Fragen der Zusammenarbeit in Lateinamerika. Gemeinsame Werte und geteilte Interessen bleiben eine Basis, die vom politischen Tagesgeschäft kaum belastet werden – selbst wenn die Krise der transatlantischen Beziehung auf beiden Seiten des Atlantiks immer wieder beschworen wird.

Auf die konkrete Projektarbeit der Europäer, etwa in der Entwicklungszusammenarbeit, scheint sich der neue Politikstil Trumps daher bislang kaum ausgewirkt zu haben. Den größten Einfluss auf die Zusammenarbeit der transatlantischen Partner in den Staaten Lateinamerikas hat eben nicht Amerikas Präsident, sondern der jeweilige nationale politische Kontext. Dieser kann sich auch in Richtung Protektionismus und illiberale Demokratie verschieben, wie in Bolsonaros Brasilien, was eine wertegebundene internationale Zusammenarbeit erschwert.

In der jüngsten Entfremdung zwischen Washington und Berlin und dem Desinteresse Trumps gegenüber Lateinamerika liegt aus deutscher und europäischer Sicht auch die Notwendigkeit und Chance, die eigene internationale Rolle neu zu definieren sowie alte und neue Partnerschaften zu vertiefen, um die transatlantischen Beziehungen im gegenseitigen Interesse um neue Akteure zu ergänzen.

Eine Reihe lateinamerikanischer Staaten bieten sich hier als Partner an – einerseits, weil die Region mit dem Westen im Kern Grundwerte und Strukturprinzipien teilt: freiheitliche Demokratie, Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit, freie Marktwirtschaft und das Bekenntnis zu einem effektiven Multilateralismus. Andererseits teilen auch die USA und Europa in der Region noch immer wichtige Ziele und Interessen – so etwa die Erhaltung der dortigen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung sowie die weitere Stabilisierung und Entwicklung der Region durch die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und Staatenfragilität.

Das andere transatlantische Verhältnis

Lateinamerika erschien erst in den 1980er Jahren deutlicher auf dem europäischen Radar. Die Einbeziehung der iberischen Länder – Spanien und Portugal – in die Lösung der Konflikte in Zentralamerika zum Ende jenes Jahrzehnts gab diesen Beziehungen einen neuen Auftrieb. Im folgenden Jahrzehnt suchte Europa eine größere Annäherung an Lateinamerika, welches eine Welle bisher nicht gekannter Demokratisierung und wirtschaftlicher Öffnung erlebte. Da aber die europäische Außenpolitik in der Region auch immer wieder Rückschlage zu verkraften hatte, begannen die Beziehungen ab Mitte der 2000er Jahre abzukühlen: Die lateinamerikanische Region zeigte Anzeichen einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung (im Zuge des Commodity Booms), die zur Bildung linkspopulistischer Regierungen führten, welche sich vom Liberalismus des Washington-Konsens abwandten.

Einer einheitlichen europäischen Haltung gegenüber Lateinamerika stehen dort sehr verschiedene Wahrnehmungen der EU entgegen.

Wie werden in Lateinamerika die Beziehungen zu Europa bewertet? Es ist nicht einfach, eine gemeinsame Position Lateinamerikas gegenüber Europa zu identifizieren. Andrés Malamud erwähnt, dass die berühmte Frage Henry Kissingers über Europa voll und ganz auf Lateinamerika anwendbar ist: „Welche Nummer wähle ich, wenn ich mit Lateinamerika telefonieren will?“ Der Hauptgrund dafür ist, dass das Integrationsniveau und die damit verbundenen Strukturen in Lateinamerika gänzlich andere sind als in Europa: In Lateinamerika existieren sehr unterschiedliche Ansichten über und Ansätze der regionalen Integration, was die Annahme kohärenter Positionen in der Region erschwert.

Im Gegensatz dazu hat die EU ein eigenes Integrationsprofil und eine spezifische Rolle als Akteur in den internationalen Beziehungen entwickelt, das auf regionale Integration und multilaterale (liberale) Kooperation setzt. Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Schaffung des Hohen Vertreters der EU sowie des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) im Jahr 2010 stärkte die Position der EU als internationaler Akteur ebenfalls. Das hat die Kohärenz und die Sichtbarkeit der EU verbessert und es erleichtert, eine europäische Haltung zu Lateinamerika zu finden. Die lateinamerikanischen Integrationsverbünde können diese Kohärenzleistung bisher nicht erbringen. Umso wichtiger ist es, zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungen Lateinamerikas in Bezug auf die Beziehungen zu Europa zu unterscheiden, wenn man Gemeinsamkeiten herausfinden und Möglichkeiten aufzeigen will, wo sich Chancen für eine Intensivierung dieser Beziehungen ergeben können.

Partnerpotenziale in Lateinamerika

Eine Analyse der von der EU Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre mit verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aufgenommenen Verhandlungen über Assoziierungsabkommen (AA) hilft, diese Unterschiede aufzuzeigen. Generell können drei Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten über Europa unterschieden werden:

Erstens die Mitglieder der Alianza Bolivariana de las Américas (ALBA), 2004 gegründet von Hugo Chávez, inzwischen aber wirtschaftlich und politisch erheblich geschwächt: Venezuela, Bolivien, Kuba sowie, mit Abstrichen, Nicaragua. Eine transatlantische Kooperation mit diesen Ländern ist weder politisch opportun noch – bis auf punktuelle Projekte – wirtschaftlich interessant. Die Beziehungen zu diesen Ländern waren in den letzten Jahrzehnten schwierig, insbesondere zu Venezuela seit Chávez. Die geringe Affinität zu Europa behindert eine zukünftige Annäherung. Der ausgeprägte Antiamerikanismus dieser staatssozialistisch eingestellten Allianz ist eine weitere Belastung für das Verhältnis zu Europa. Solange zur ritualisierten Legitimation des eigenen Machtanspruchs der „Imperialismus des Hegemons“ beschworen wird, kann es aus europäischer Perspektive keine nachhaltige Partnerschaft mit diesen Staaten geben.

Eine zweite Kategorie sind die Staaten, die dem freien Welthandel und einer Kooperation mit Europa deutlich offener gegenüberstehen, zwar noch keine bilateralen Handelsabkommen mit Europa haben, diese aber im Kollektiv (Mercosur) oder als Einzelstaaten anstreben: Argentinien, Uruguay, Paraguay sowie v. a. Brasilien. Die Verhandlungen mit diesem Länderblock ziehen sich bisher ergebnislos in die Länge. Der mangelnde Konsens innerhalb des Mercosur und die protektionistischen Tendenzen auf beiden Seiten haben bis dato einen erfolgreichen Abschluss verhindert. Die Vereinigten Staaten werden bei den Mitte-Rechts-Regierungen in dieser Staatengruppe grundsätzlich als Vorbild und Vormacht gesehen, während die Linksregierungen die Rolle der USA zwar anerkennen, aber kritischer sehen. Die Betrachtung der USA ist bei allen hier betrachteten Staaten jedoch im Kern interessengetrieben und entsprechend pragmatisch.

Brasilien hat wegen seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts in der Region eine Sonderstellung inne. Obwohl es kein Freihandelsabkommen mit Brasilien gibt, ist das Land der wichtigste Handelspartner der EU in der Region und der elftwichtigste der Welt. Im Jahr 2017 machte der Handel mit Brasilien 1,7 Prozent des gesamten EU-Handels aus. Die EU ist der wichtigste Investor in Brasilien. Die Investitionen in diesem Land beliefen sich im Jahr 2015 auf 48,5 Prozent der gesamten EU-Investitionen in Lateinamerika. Durch die Unterzeichnung eines strategischen Assoziierungsabkommens im Jahr 2007 hat die EU Brasilien zwar als einen ihrer strategischen Partner in der Region anerkannt. Jedoch hat das Abkommen, das in einigen Bereichen auch hilfreich war, um die politische Zusammenarbeit zu fördern, nicht den Umfang der von Europa angestrebten Assoziierungsabkommen.

Wegen seiner politischen Turbulenzen ist Brasilien ein Paradebeispiel für enttäuschte Hoffnungen mit Blick auf eine engere Partnerschaft mit Lateinamerika. Der jüngste Wahlerfolg Jair Bolsonaros, der sich aus der vorangegangenen innenpolitischen Krise und dem Glaubwürdigkeitsverlust des Partido dos Trabalhadores (PT, Partei der Arbeiter) speist, hat Brasiliens Position in der Region jedenfalls weiter geschwächt und wieder die Skepsis genährt, inwieweit Brasilien tatsächlich die Rolle des zentralen Partners der EU in der Region einnehmen kann und will. Was die Wahl Bolsonaros mittel- und langfristig für das Verhältnis zwischen Brasília und Washington bedeutet, lässt sich derzeit noch nicht absehen – wenngleich sich Bolsonaro im Wahlkampf als „brasilianischer Trump“ titulieren ließ und offensiv um die Aufmerksamkeit des Weißen Hauses buhlte.

Die Länder der Pazifik-Allianz, die sich für liberale Wirtschaftsbeziehungen interessieren, stellen geeignete Partnerländer für die EU dar.

Die dritte und interessanteste Gruppe aus transatlantischer Sicht bilden die Mitglieder der Pazifik-Allianz: Mexiko, Chile, Kolumbien, Peru und bald vielleicht auch Ecuador. Diese Länder haben sich eindeutig dem Multilateralismus und dem freien Welthandel verschrieben. Sie haben ein Abkommen mit der EU geschlossen und ihre Verbindungen zu den europäischen Ländern ausgebaut. Aus der Sicht dieser Länder bedeuten die Beziehungen zu Europa nicht nur wirtschaftlichen Gewinn, sondern auch die Fortführung des politischen Dialogs mit einer Region, die Werte und Visionen für die Zukunft teilt. Diese Staaten pflegen nicht zuletzt wegen dieser kosmopolitischen Grundeinstellung ebenfalls ein pragmatisches, oft auch freundschaftliches Verhältnis zu den USA.

Innerhalb dieser Ländergruppe kann Europa wichtige Partner finden. Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru schlossen sich 2011 zusammen, um die regionale Integrationsinitiative Pazifik-Allianz (Alianza del Pacífico, AP) zu gründen. Zu den Zielen dieser Allianz gehören die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration sowie der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen. Ihr liberaler Ansatz hat in Europa wirtschaftliche Interessen geweckt: Gegenwärtig haben 55 Länder einen Beobachterstatus in der Pazifik-Allianz, von denen 28 (also fast 51 Prozent) europäische Länder sind. Am 17. Juli 2018 traf die Hohe Vertreterin der EU, Federica Mogherini, mit Vertretern der vier Länder der Allianz sowie mit den Außenministern der 28 EU-Länder zusammen. Bei dem Treffen wurde auf die zwischen der Pazifik-Allianz und der EU bestehenden Gemeinsamkeiten und die Bedeutung der Förderung eines auf Regeln basierenden multilateralen Systems verwiesen.

China in Lateinamerika

Wegen der dynamischen und konsequenten Öffnung dieser Länder vor allem in Richtung China müsste Europa hier offensiv definieren, welche Vorteile und Kooperationsgewinne für alle Beteiligten in einer „erweiterten transatlantischen Partnerschaft“ liegen. Der Schwerpunkt der Pazifik-Allianz liegt nämlich – wie schon der Name verdeutlicht – nicht im Atlantik, sondern im Pazifik. Dabei handelt es sich insbesondere um die größeren asiatischen Märkte wie China, Japan oder Südkorea.

Das Interesse der Länder dieser Allianz an Asien wird von anderen lateinamerikanischen Ländern geteilt. Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen – einerseits den wirtschaftlichen Aufschwung, den Asien derzeit erlebt, und andererseits die Zunahme des Einflusses Chinas in Lateinamerika. China hat durch den im Jahr 2001 erfolgten Beitritt zur WTO Zugang zum lateinamerikanischen Markt erhalten. Durch den Rückzug der Vereinigten Staaten als Führungsmacht der Globalisierung – zunächst als Ergebnis der Wirtschaftskrise von 2008 und jetzt durch die Regierung Trump – ist China zu einem wichtigen globalen Wirtschaftsplayer geworden. In Lateinamerika ist das Land für Brasilien, Chile und Peru inzwischen der wichtigste Handelspartner. Die chinesischen Investitionen in der Region sind in den letzten Jahren ebenfalls stark gestiegen. Seit 2005 haben die Entwicklungsbank Chinas und die chinesische Bank Exim mehr als 150 Milliarden US-Dollar in Länder Lateinamerikas und der Karibik investiert. Die Hauptempfänger dieser Investitionen waren Venezuela, Brasilien, Argentinien und Ecuador. Insgesamt kann Chinas Engagement in Lateinamerika als wirtschaftlich und nicht ideologisch motiviert beschrieben werden.

Der chinesische Einfluss in der Region könnte eine erneute europäische Annäherung an Lateinamerika behindern. Die chinesischen Banken bieten Finanzierungen für eine Reihe von Ländern an, die – wie Ecuador, Venezuela oder Argentinien – auf anderen globalen Kapitalmärkten keinen einfachen Zugang zu Krediten haben. Diese Banken stellen auch den Regierungen, die diese Kredite erwerben, keine politischen Bedingungen. Allerdings verlangen sie dafür im Allgemeinen den Erwerb von Ausrüstung oder Handelsverträge für den Verkauf von Erdöl. Obwohl chinesische Finanziers durchaus auf der Grundlage bestimmter Umweltstandards arbeiten, entsprechen diese nicht dem Niveau ihrer westlichen Pendants. So entstand in weiten Teilen Lateinamerikas die Wahrnehmung, dass China bessere Bedingungen für den Abschluss internationaler Abkommen bietet als die Staaten des Westens. Deswegen sollte bei einem erneuerten europäischen Ansatz für die Region berücksichtigt werden, dass es auch andere Akteure gibt, die hier bereits eine wichtige Rolle spielen. Die lateinamerikanischen Staaten werden ihre durch China gestützen wirtschaftlichen Interessen nicht aufgeben.

Mexikos Sonderrolle

Mexiko spielt in diesen Überlegungen eine gewichtige Sonderrolle – wegen seiner geografischen Nähe zu den USA sowie der zahlreichen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Verflechtungen beider Länder. Mexiko ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Region und die EU ist nach den USA und China sein drittwichtigster Handelspartner. Mit Mexiko verbindet Deutschland darüber hinaus eine ambitionierte Entwicklungsagenda auf der globalen Ebene wie auch in Drittstaaten, vor allem in Lateinamerika.

Seit dem Inkrafttreten des ersten umfassenden Abkommens im Jahr 2000 ist der Handel zwischen Mexiko und der EU um 330 Prozent von 18,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 1999 auf 61,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2016 gestiegen. 2017 entfielen 5,7 Prozent der Exporte und 11,6 Prozent der Importe Mexikos auf die EU. Im Rahmen des politischen Dialogs wurden zwischen Mexiko und der EU sieben Gipfeltreffen auf der Ebene der Staatschefs sowie 23 gemischte parlamentarische Ausschüsse abgehalten. Mexiko und die EU haben 2017 die Aufnahme des Prozesses zur Modernisierung des Abkommens vereinbart. Auch wenn die Absicht zur Neuverhandlung schon seit geraumer Zeit bestand, so hat die Amtsübernahme Trumps bei beiden Parteien das Interesse an einer beschleunigten Verhandlungsführung geweckt. Im April 2018 konnte ein ambitioniertes Freihandelsabkommen geschlossen werden. Die Geschwindigkeit und Effizienz, mit der die Verhandlungen geführt wurden, sprechen für sich: Mexiko ist für Europa ein wichtiger und in diesem neuen Kontext sogar ein prioritärer Partner.

Mexiko nimmt eine Sonderrolle innerhalb Lateinamerikas ein – nicht zuletzt wegen seiner engen Beziehungen zu den USA.

Die Bedeutung Mexikos für Europa liegt nicht nur in seinem eigenen wirtschaftlichen und politischen Gewicht, sondern auch in seinen besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Kein anderes Land in Lateinamerika hat solch einen Zugang zum US-Markt und zur Politik der Vereinigten Staaten. Die Unterzeichnung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) im Jahr 1994 verstärkte die Beziehungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, aber auch zu Kanada. Im Jahr 2016 machte der Handel mit Mexiko 13,66 Prozent des gesamten US-amerikanischen Handels aus, während auf Europa 22,32 Prozent entfielen. Die Importe der Vereinigten Staaten aus Mexiko betrugen in demselben Jahr 290 Milliarden US-Dollar, verglichen mit den Importen aus dem gesamten europäischen Kontinent in Höhe von 452 Milliarden US-Dollar. Das heißt, dass die Importe der Vereinigten Staaten aus Mexiko in diesem Jahr 64,15 Prozent des Gesamtimportvolumens des europäischen Kontinents betrugen.

Mit dem Amtsantritt Trumps begann aber auch die Neuverhandlung von NAFTA. Obwohl die Verhandlungen sowohl für Mexiko als auch für Kanada kompliziert waren, erzielten die drei Parteien eine neue Vereinbarung, die als USA-Mexiko-Kanada-Abkommen (USMCA) bezeichnet wird. Der wichtigste Aspekt des neuen Abkommens ist die Beibehaltung seines trilateralen Charakters. Dieser war mehrfach von Kanada in Frage gestellt worden, weil das Land nicht bereit war, die von den Vereinigten Staaten auferlegten Bedingungen zu akzeptieren. Auch das neu verhandelte Nordamerikanische Freihandelsabkommen hat also trotz des aufgeheizten Diskurses Mexikos Rolle als „verlängerte Werkbank der USA“ nicht nachhaltig beschädigt.

Mexikos Beziehungen zu den Vereinigten Staaten übersteigen den rein wirtschaftlichen Bereich. Dabei kommt der Gemeinschaft der in den Vereinigten Staaten lebenden Mexikaner eine Schlüsselrolle zu. Derzeit halten sich in den Vereinigten Staaten zwölf Millionen Mexikaner und ungefähr 26 Millionen Mexikaner, die auf dem Territorium der USA geboren wurden, auf. Das mexikanische Netzwerk von insgesamt 50 Konsulaten in den USA ist das größte der Welt. Aufgrund der Bedeutung dieser Beziehungen hat es Mexiko verstanden, seinen Einfluss auf das politische System in den USA geltend zu machen, um bei verschiedenen Anlässen seine gegenüber dem Nachbarn aus dem Norden bestehenden Ziele voranzutreiben. Die politische Lobbyarbeit während der NAFTA-Verhandlungen zu Beginn der 1990er Jahre und die Neuverhandlung von NAFTA sind Beispiele für den Einfluss Mexikos auf die US-Politik. Allerdings bekam gerade Mexiko aber auch die verbalen Attacken durch Präsident Trump in besonderer Intensität zu spüren, der kaum eine Gelegenheit ausließ, um im Kontext seines Wahlversprechens, eine Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko zu bauen, vor keiner noch so groben Pauschalbeleidigung der Mexikaner zurückschreckte. Das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ablehnung zwischen USA und Mexiko wurde so noch weiter verstärkt, was auch in Mexiko die Überlegungen beflügelt, Alternativen zu entwickeln.

Aus diesen Gründen kann und sollte Mexiko als ein interessanter und wichtiger Partner für die Einbeziehung der lateinamerikanischen Komponente in die transatlantischen Beziehungen verstanden werden. Mexiko und Europa teilen nicht nur wirtschaftliche und politische, sondern auch strategische Interessen, da eine größere Annäherung auch ein größeres Gegengewicht zu der auf beiden Seiten bestehenden Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten bilden könnte. Aber Mexiko ist nicht der einzige Akteur mit einem besonderen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Auch für Kanada sind die eigenen Beziehungen zum südlichen Nachbarn von entscheidender Bedeutung und auch hier hat sich unter Trump Ernüchterung breit gemacht. Schlösse man Kanada in ein Dreieck Mexiko-EU-Kanada ein, könnte hier in den nächsten Jahren eine für Europa interessante Verbindung von Stakeholdern der liberalen Weltordnung geschaffen werden.

Für Deutschland und Europa liegt hier also eine außergewöhnliche Chance, über Mexiko einen neuen Kommunikationskanal zur Trump-Administration zu eröffnen. Wie sich der jüngste Regierungswechsel in Mexiko diesbezüglich auswirken wird, hängt entscheidend von der persönlichen Chemie zwischen Andrés Manuel López Obrador und Donald Trump ab – und auch davon, inwieweit beide Präsidenten zulassen, dass die vielbeschworene Mauer zwischen den beiden Staaten die bilateralen Beziehungen definiert. Sie gehört auf beiden Seiten des Rio Grande schon jetzt zum identitätspolitischen Kernbestand.

Potenziale für weitere Zusammenarbeit

Eine Annäherung Europas an Lateinamerika wird sowohl auf Chancen als auch auf Hindernisse treffen. Die Region ist in mindestens drei verschiedene Gruppen geteilt, was den Dialog zwischen den beiden Regionen erschwert. Das Scheitern der EU-Verhandlungen mit einem so wichtigen Akteur in Lateinamerika wie Brasilien hat in den 2000er Jahren zu Enttäuschung und Distanzierung geführt. Die EU hat sich dafür entschieden, jenen Ländern den Vorrang einzuräumen, bei denen man auf offenere Türen gestoßen ist und wo – wie im Fall von Mexiko, Chile, Kolumbien, Peru oder Ecuador – die Verhandlungen über Assoziierungsabkommen von Erfolg gekrönt waren. Derzeit gibt es Integrationsprojekte wie die Pazifik-Allianz, die ein neues europäisches Interesse an der Region rechtfertigen. Der wachsende Einfluss Chinas hat jedoch dazu geführt, dass sich Lateinamerika verstärkt Asien zuwendet und das Interesse, sich westliche Partner zu suchen, relativiert wird.

Für die zukünftige Zusammenarbeit und den Umgang Deutschlands und Europas mit amerikanischen Positionen in Lateinamerika bedeutet dies zweierlei:

Erstens werden große regionale Herausforderungen wie die Krise in Venezuela oder der kolumbianische Friedensprozess auf der gemeinsamen Agenda der erweiterten transatlantischen Partnerschaft bleiben und – trotz gelegentlicher Verstimmungen – wegen ihrer Dringlichkeit und Bedeutung auch weiter gemeinsam bearbeitet werden.

Zweitens bietet das strategische Desinteresse der USA an Lateinamerika für Deutschland und Europa große Gestaltungspotenziale mit alten „neuen“ Partnern. Gemeinsam mit in Washington gut vernetzten Akteuren in Mexiko oder Kolumbien, aber auch mit den politischen Pragmatikern der Pazifik-Allianz oder dem argentinischen Präsidenten Macri eröffnen sich Kooperationsräume für die erweiterte transatlantische Partnerschaft – nicht zuletzt in für Deutschland interessanten Politikfeldern wie der Wissenschafts- und Technologiekooperation, der Energiewende oder der Nachhaltigkeitspolitik, wie auch in der wirtschaftlichen Integration.

In der Gruppe von Ländern, die der EU am nächsten stehen, zeichnet sich Mexiko nicht nur durch sein wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Region, sondern auch durch seine besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aus. In diesem Sinne teilen Mexiko und Europa wirtschaftliche, politische und strategische Interessen, die als Grundlage für die Festigung der Beziehungen dienen können. Die geringe Bedeutung, die die neue mexikanische Regierung offensichtlich der Außenpolitik beimisst, das damit verbundene rückläufige internationale Engagement und die sichtbar werdenden nationalistischen Tendenzen werfen allerdings die Frage auf, inwieweit diese Erwartungen einer stärkeren Zusammenarbeit auch erfüllt werden. Ebenso können auch die Beziehungen Kanadas zu den Vereinigten Staaten und in jüngster Zeit auch zu Mexiko von Europa genutzt werden, um ein Dreieck zu bilden, das ein Gegengewicht zu der von den USA unter Trump in den verschieden-en Bereichen verfolgten Politik der Abwendung vom Multilateralismus bilden kann.

 
 

Hans-Hartwig Blomeier ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.

Patricio Garza Girón ist Projektmanager im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.

Christian E. Rieck ist Senior Analyst für Regionalmächte und Regionalintegration am Global Governance Institute in Brüssel sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam.

 
 

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