Ausgabe: 1/2017
Im März dieses Jahres nähert sich bereits der dritte Jahrestag der Annexion der Krim durch Russland. Als vor drei Jahren „grüne Männchen“ ohne Hoheitsabzeichen den Internationalen Flughafen Simferopol und Regierungsgebäude auf der Krim besetzten, wurde die europäische Nachkriegsordnung ins Wanken gebracht. Die Annexion der Krim durch russische Spezialeinheiten, deren Einsatz vom russischen Präsidenten Wladimir Putin erst geleugnet und ein Jahr später öffentlich zugegeben wurde, verletzt geltendes Völkerrecht und unterminiert die territoriale Unverletzlichkeit der Ukraine. Die Annexion steht zudem im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien, die 1975 in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgelegt wurden. Hierzu gehört, dass die Grenzen im Europa der Nachkriegsordnung unverletzlich sind und die territoriale Integrität aller Staaten geachtet werden muss.
In Russland dagegen wird die Annexion als „Rückkehr in die Heimat“ oder auch als „Anschluss“ gefeiert. Untermauert wird dies durch fragwürdige historische Ansprüche und eine sakrale Überhöhung, welche die Annexion in den Augen der russischen Bevölkerung legitimieren sollen. In der präsidentiellen Machtvertikale gehört die Krim seit Juli 2016 zum Südlichen Föderalen Bezirk der Russischen Föderation mit Hauptstadt in Rostow am Don. Der hervorgehobene Status, den die Halbinsel bis 2014 als autonomes Gebiet innerhalb der Ukraine innehatte, wurde ihr spätestens mit dieser Einordnung genommen. Westliche Sanktionen unterbinden seit der Annexion offizielle politische und wirtschaftliche Beziehungen mit der Krim, die Halbinsel ist somit weitgehend isoliert. Auch die Wasserversorgung vom ukrainischen Festland wurde eingestellt.
Noch im Januar 2015 wurde zwischen der Ukraine und Russland ein Grenzregime etabliert, das einer Staatsgrenze zu Zeiten des Kalten Krieges sehr nahe kommt. Viele Krimtataren, Vertreter ukrainischer NGOs oder Journalisten, die in den letzten Jahren die Krim verlassen mussten, trauen sich nicht mehr, Verwandte und Freunde auf der Krim zu besuchen. Die Menschenrechtslage auf der Krim, willkürliche Verhaftungen und politische Repressionen wie das Verbot des Medschlis, der Selbstverwaltung der Krimtataren, rechtfertigen diese Vorsicht. Die ukrainische Bevölkerung in den grenznahen Gebieten sieht sich mit erheblichen Einschränkungen konfrontiert, allein der Wegfall von Arbeitsplätzen auf der Krim hat die Region vor große Herausforderungen gestellt.
Dass Grenzen auch unkontrollierbar und „durchlässig“ werden können, zeigt sich entlang der russisch-ukrainischen Grenze im Donbas. Seit dem Beginn des Konflikts in der Ostukraine im Frühjahr 2014 sind mehr als 400 Kilometer der ukrainischen Grenze mit Russland nicht mehr unter Kontrolle der Regierung in Kiew. Waffen, schweres militärisches Gerät, russische Soldaten und Freiwillige dringen somit aus Russland ungehindert in den besetzten Teil des Donbas ein. Da die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nur Zugang zu zwei Grenzübergängen hat, können illegale Übertritte und Waffenlieferungen kaum dokumentiert oder gar verhindert werden.
Seit dem Sommer 2014 kommt es somit zu einer zunehmenden Verschmelzung der besetzten Gebiete mit Russland und zu ihrer weitreichenden Abkoppelung von der Ukraine. Gehälter von Beamten und Militärs werden dort von Moskau bezahlt, der russische Rubel hat die Griwna als Zahlungsmittel verdrängt, die Separatistenführer in den Verwaltungen der selbsternannten „Volksrepubliken“ werden politisch aus dem Kreml gelenkt. Bildungs- und Gesundheitssystem entwickeln sich auseinander. Die Krankenhäuser in den besetzten Gebieten stehen den Bewohnern in den grenznahen ukrainischen Gebieten nicht mehr zur Verfügung, was bis heute zu massiven Engpässen führt. Bildungsabschlüsse in den Separatistengebieten, in denen mit russischem Lehrwerk unterrichtet wird, sind mit den ukrainischen nicht mehr kompatibel.
Die ukrainische Armee und die von Moskau unterstützten Separatisten stehen sich entlang der im Sprachgebrauch der OSZE als „Kontaktlinie“ bezeichneten Front teilweise nur wenige hundert Meter entfernt gegenüber. Nach den hohen Opferzahlen der Kesselschlacht um Ilowajsk im Sommer 2014 oder der Kämpfe um den Donezker Flughafen im Frühjahr 2015 ist der Konflikt in der Ostukraine zwar weniger häufig in den deutschen Medien, doch der Stellungskrieg setzt sich mit hohen Verlusten auf beiden Seiten nach wie vor fort. Die humanitäre Situation der Menschen entlang der Kontaktlinie oder im Niemandsland, der „grauen Zone“ zwischen den Stellungen, ist unerträglich.
Von einer fast vollständigen Isolation der besetzten Gebiete wie bei der Krim lässt sich allerdings nicht sprechen. Bis März 2017 blieben einige wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Obwohl die kürzlich verhängte Wirtschaftsblockade einen Handel mit den besetzten Gebieten untersagt, überqueren die Menschen weiterhin die Kontaktlinie. Der Grenzverkehr über die fünf Grenzübergänge ist ausgesprochen rege. Pro Tag sind es etwa 20.000 Personen, im Jahr 2016 haben acht Millionen Menschen die Kontaktlinie überquert. Überwiegend sind dies Menschen, die sich in der Ukraine ihre monatliche Rente auszahlen lassen.
Obwohl an beiden neuen „Grenzen“ Kontrollpunkte mit Grenzbeamten und Soldaten stehen, unterscheiden sich die Grenzregime mit der Krim und entlang der Kontaktlinie in einigen Punkten voneinander. Das Grenzregime mit der Krim hat sich zu einer De-facto-Staatsgrenze entwickelt, völkerrechtswidrig, aber für die Menschen tägliche Realität, während die Kontaktlinie mehr festgefahrene Frontlinie als Grenze ist. Gelegentlicher Beschuss der Kontrollpunkte und Minen am Wegesrand führen dies deutlich vor Augen. Gemeinsam ist den beiden neuen „Grenzen“ aber, dass sie durch Verletzung des Völkerrechts entstanden sind und gravierende Auswirkungen auf die betroffenen Menschen, aber auch die gesamte ukrainische Gesellschaft haben. Sie trennen ukrainische Bürger, kappen wirtschaftliche Verbindungen, befördern Korruption und können jederzeit zum Brennpunkt neuer Auseinandersetzungen werden.
Im Osten Europas sind also seit 2014 zwei neue „Grenzen“ entstanden, die de facto das Territorium der Ukraine durchschneiden. Im Folgenden sollen dabei dennoch nicht die übergeordneten außen- oder geopolitischen Fragen diskutiert werden, die der Völkerrechtsbruch hervorgerufen hat. Der Artikel zielt darauf ab, die bisher wenig bekannten Realitäten vor Ort zu thematisieren, auf den Alltag der betroffenen Menschen aufmerksam zu machen und die konkreten Auswirkungen dieser neuen „Grenzregime“ zu analysieren. Dabei wird in einem ersten Schritt – zuerst für die Krim, dann für die besetzten Gebiete – herausgearbeitet, wie die „Grenzregime“ entstanden sind, wie die Situation an den Übergängen aussieht und wie diese genutzt werden. In einem zweiten Schritt werden die Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit, die wirtschaftlichen Beziehungen, die Korruption und die Sicherheitslage untersucht.
Von der Verwaltungsgrenze zur De-facto-Staatsgrenze
Die neue Trennlinie zur Krim ist, anders als in der Ostukraine, nicht durch Kämpfe entstanden, sondern verläuft entlang der administrativen Grenze zwischen der ukrainischen Autonomen Republik Krim und dem angrenzenden Gebiet Cherson. Vor der russischen Annexion war die Verwaltungsgrenze in etwa mit den Landesgrenzen deutscher Bundesländer vergleichbar, nun gleicht sie mit vielen Attributen einer De-facto-Staatsgrenze. Nach dem international nicht anerkannten Referendum auf der Krim am 16. März 2014 und der Annexion durch Russland zwei Tage später erklärte Moskau die administrative Linie zur internationalen Grenze. Russische Grenztruppen, die dem Geheimdienst FSB unterstehen, sind seitdem entlang der administrativen Linie stationiert. Parallel dazu verlor die ukrainische Regierung zunehmend auch die Kontrolle über Teile des Donbas. Um auf die angespannte Situation zu reagieren, verabschiedete das ukrainische Parlament Werchowna Rada Mitte April 2014 ein Gesetz über die Rechte und Freiheiten von Bürgern in den zeitweise besetzten Gebieten, das ukrainischen Staatsangehörigen freien und ungehinderten Zugang auf Grundlage eines gültigen Ausweisdokuments gewährt.
Mehr als 20.000 Menschen, die Hälfte davon Krimtataren, verließen laut OSZE die Krim innerhalb des ersten Jahres nach der Annexion. Andere sprechen von 40.000 bis 50.000 Binnenflüchtlingen von der Krim. Während man anfangs noch leicht auf Schleichwegen von und auf die Krim kam, muss nun jeder Reisende durch die drei offiziellen Übergänge. Zäune entstanden entlang der administrativen Linie. Russland wird vorgeworfen, auch Minenfelder angelegt zu haben. Seit Anfang 2015 finden auch von ukrainischer Seite Regelungen Anwendung, die ansonsten für die ukrainischen Staatsgrenzen gelten. Ukrainische Grenzbeamte kontrollieren Personen und PKWs. Der ukrainische Zoll prüft, ob nur die maximal 50 Kilogramm an erlaubten Lebensmitteln und persönlichen Gegenständen mitgeführt werden. Brot und Kartoffeln sind erlaubt, Süßigkeiten nicht. Der eigene Laptop darf mitgenommen werden, das Haustier dagegen nicht.
Die Zug- und Busverbindungen mit der Krim wurden bereits Ende Dezember 2014 komplett eingestellt. Wenige Tage vor Silvester führte der unangekündigte Stopp des Personenverkehrs zu einem Chaos an der administrativen Grenze mit kilometerlangen Staus kurz vor den Feiertagen. Seither gibt es keinen direkten öffentlichen Personenverkehr von und auf die Krim. Züge stoppen in der Stadt Cherson mehr als 100 Kilometer von der administrativen Grenze oder in der Kleinstadt Nowooleksiiwka fast 30 Kilometer vom nächsten Übergangspunkt. Weiter geht es nur mit dem Bus oder Taxi bis zum ukrainischen Kontrollpunkt. Zwischen dem ukrainischen und dem russischen Checkpoint liegen nochmals zwei Kilometer „neutrale Zone“. Offiziell lassen sich die drei Übergänge entlang der administrativen Grenze nur zu Fuß oder im Privatauto überqueren. Inoffiziell bringen Fahrer zahlungsbereite Reisende durch die neutrale Zone. Wer es sich leisten kann, nimmt gleich den Minibus von Kiew nach Sewastopol auf der Krim. Die Grenzbeamten drücken gegen Bezahlung, so wird berichtet, beide Augen zu. Der offizielle Stopp des Personenverkehrs trifft daher vor allem die Älteren und sozial Schwachen.
Im Juni 2015 wurden die Regelungen nochmals verschärft. Viele Eltern mit Kindern bekamen dies direkt an den ukrainischen Kontrollpunkten bei der Reise von und auf die Krim zu spüren. Sie wurden nicht mehr durchgelassen, weil ihr Kind keinen ukrainischen Reisepass besaß, oder die Grenzbeamten stoppten sie, weil ein Elternteil zu Hause geblieben war. Was die Eltern nicht wussten: Sie hätten eine notariell beglaubigte Zustimmung ihres Partners benötigt. Was einfach klingt, ist für Menschen auf der besetzten Krim mit großem Aufwand verbunden. Denn nur auf von der Ukraine kontrolliertem Gebiet können sie einen anerkannten Notar aufsuchen. Eine tatsächliche bürokratische Odyssee steht allen glücklichen Eltern eines Neugeborenen bevor, denn um eine ukrainische Geburtsurkunde zu erhalten, müssen sie mit dem Neugeborenen von der Krim ins angrenzende Chersoner Gebiet fahren. Nehmen sie die Wartezeiten nicht auf sich, könnte ihr Kind später keinen ukrainischen Pass beantragen.
Mit einem von den De-facto-Behörden auf der Krim ausgestellten russischen Pass lassen die ukrainischen Grenzbeamten niemanden passieren. Für die Fahrt nach Cherson oder Kiew ist also ein ukrainischer Reisepass unabdingbar. International wird der russische Pass von der Krim ebenso nicht anerkannt. So könnte ein Bewohner der Krim zwar von Sewastopol nach Moskau fliegen, doch die internationalen Destinationen für den Weiterflug lassen sich an einer Hand abzählen. Nur Afghanistan, Kuba, Kirgistan und Nicaragua erkennen die Krimannexion an. Auch dadurch ist zu erklären, dass allein im ersten Jahr der Annexion mehr als 40.000-Mal Menschen von der Krim auf die ukrainischen Pass- oder Verwaltungsdienste im Chersoner Gebiet oder in Kiew zurückgegriffen haben.
Grenzübertritt im umkämpften Niemandsland
Während die neue De-facto-Staatsgrenze mit der Krim die ursprüngliche administrative Grenze widerspiegelt, entspricht die Kontaktlinie in der Ostukraine dem Frontverlauf. Kurz nach dem Ausbruch des Kriegs 2014 war die Situation unübersichtlich. Züge fuhren nicht mehr zuverlässig und es gab lange Schlangen für Reisebusse. Viele Privatautos nahmen Flüchtende mit durch das Wirrwarr der Checkpoints über die offiziellen Fluchtkorridore der ukrainischen Armee oder auf Schleichwegen. Manchmal wurden Dokumente kontrolliert, manchmal wurde einfach durchgewunken. Pro-ukrainische Aktivisten fürchteten Kontrollen durch Separatisten. Wer die „falsche“ Nummer angerufen oder die „falsche“ App auf dem Handy hatte, wurde schnell verdächtigt. Selbst die Twitter-App galt schon als gefährlich.
Die ukrainische Regierung war über den unkontrollierten Personenverkehr mit den besetzten Gebieten zunehmend besorgt. Im Januar 2015 erließ der Sicherheitsdienst der Ukraine, welcher die sogenannte Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee koordiniert, eine vorläufige Anweisung über den Personen- und Güterverkehr im Donezker und Luhansker Gebiet. Übertritte sind nun nur noch an offiziellen Kontrollpunkten und mit einem Passierschein möglich. Anfangs führte das neue System zu langen Verzögerungen mit kilometerlangen Schlangen. Menschen warteten über Nacht und bei Minusgraden, um passieren zu dürfen. Die OSZE-Beobachtermission beanstandete, dass ukrainische Soldaten Reisende selbst mit gültigem Passierschein abgewiesen hatten.
Mittlerweile funktioniert das System allerdings relativ gut. Passierscheine können elektronisch beantragt werden. Es gibt aktuell vier Kontrollpunkte entlang der Kontaktlinie mit dem besetzten Donezker Gebiet und lediglich einen Kontrollpunkt mit Luhansk, der nur von Fußgängern genutzt werden kann. Anders als mit der Krim wurde der öffentliche Personenverkehr mit den besetzten Gebieten erst 2016 gestoppt. Gütertransport war bis März 2017 in begrenztem Maße erlaubt, ehe die verhängte Wirtschaftsblockade jeglichen Handel untersagte. Die Zahl der Menschen, welche die Kontaktlinie überqueren, steigt dennoch kontinuierlich. Waren es 2015 noch vier Millionen, verdoppelte sich die Zahl der Übertritte 2016 auf über acht Millionen.
Die Überquerung de
r Kontaktlinie ist beschwerlich und zeitaufwendig. Reisende auf dem Weg in die besetzten Gebiete müssen am ukrainischen Kontrollpunkt den Bus verlassen, um zu Fuß durch die Ausweis- und Zollkontrolle zu gehen. Anschließend müssen sie einen zweiten Bus besteigen, der sie durch das Niemandsland der „grauen Zone“ und über die Nulllinie, an der sich die Konfliktparteien oft in Sichtweite gegenüberstehen, bis zum Kontrollpunkt der Separatisten bringt. Dort werden die Reisenden erneut zum Verlassen des Busses aufgefordert, um die Kontrolle der Separatisten zu durchqueren. Danach müssen sie einen dritten Bus nehmen, der sie ans Ziel ihrer Reise bringt. Doch auch hier bieten Privatleute die komfortable, direkte Fahrt von Kiew nach Donezk an und unterwandern damit das offizielle Verbot des öffentlichen oder kommerziellen Personenverkehrs mit den besetzten Gebieten.
Wer die Kontaktlinie überqueren will, muss viel Geduld mitbringen. Lange Schlangen sind die Regel, wobei die durchschnittliche Wartezeit mittlerweile bei drei Stunden liegt und nur in Ausnahmefällen mehr als fünf Stunden nötig sind. Internationale Hilfsorganisationen haben an den Kontrollpunkten Toiletten und im Winter beheizte Zelte aufgebaut. Etwa die Hälfte der Menschen nimmt die beschwerliche Fahrt einmal im Monat auf sich, die jüngeren teilweise wöchentlich, und zwar hauptsächlich um Verwandte zu besuchen, Lebensmittel zu kaufen oder Geld abzuheben. Rentner müssen die lange Fahrt auf sich nehmen, wenn sie ihre ukrainische Rente erhalten möchten. Diese können sie nur auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet beantragen und abheben. Dasselbe trifft auf Verwaltungsfragen zu. Etwa jeder zehnte Reisende überquert die Kontaktlinie, um sich um einen neuen Pass oder eine Geburtsurkunde zu kümmern. Denn die in den besetzten Gebieten ausgestellten Dokumente werden ausschließlich von Russland anerkannt. Lediglich jeder Zwanzigste hat vor, die besetzten Gebiete komplett zu verlassen.
Eingeschränkte Bewegungsfreiheit
Die Bewegungsfreiheit eines jeden Bürgers ist nicht nur in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben, sondern ist auch ein grundlegendes Menschenrecht. Die Kontrollen und Übergangsbestimmungen schränken die Freiheit der Bürger jedoch ein, sich frei in der Ukraine zu bewegen und zu reisen. Doch mit Blick auf die Krim bestätigen auch Hilfsorganisationen, dass das ukrainische Grenzregime keine unangemessene Reaktion auf die neue Lage ist. Um die Sicherheit auf ihrem Territorium zu gewährleisten, darf die ukrainische Regierung Kontrollen durchführen, wenn sie angemessen und verhältnismäßig sind. Was von Beobachtern kritisiert wird, sind allerdings die Einschränkungen durch die gestoppten Bus- und Zugverbindungen, lange Wartezeiten, komplizierte Kontrollen und in einigen Fällen das Fehlverhalten der ukrainischen Beamten. Auf der russischen Seite der Grenze dagegen müssen insbesondere Krimtataren, Menschenrechtsaktivisten oder Journalisten befürchten, ohne Angabe von Gründen festgehalten oder verhaftet zu werden. Im März 2015 verschwand der Vater eines inhaftierten Krimtataren spurlos, als er die Grenze in Richtung Krim überquerte.
Die Situation an der Kontaktlinie ist ebenfalls schwierig. Zwar wurde auch das Passierscheinsystem eingeführt, um den Personenverkehr besser kontrollieren zu können, allerdings sorgte die chaotische Einführung anfangs zu massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der ukrainischen Bürger. Auch kritisieren Hilfsorganisationen, dass die vorläufige Regelung des ukrainischen Geheimdienstes nach wie vor in Kraft ist und es immer noch keine gesetzliche Grundlage für das System der Passierscheine gibt.
Positiv hervorzuheben ist, dass der ukrainische Grenzschutz und lokale Behörden mit Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen zusammenarbeiten. Über die Handy-App einer ukrainischen Stiftung können Reisende etwa Probleme bei den Kontrollstellen mit den besetzten Gebieten melden, was dann an die zuständigen Behörden weitergegeben wird. Dennoch werden nicht alle Empfehlungen sofort umgesetzt. Das VN-Hochkommissariat für Flüchtlinge plädiert etwa nach wie vor mit Nachdruck dafür, öffentliche Verkehrsmittel zur Überquerung der Kontrollstellen wieder zu erlauben.
Wirtschaftsblockade und unterbrochene Kohlelieferungen
Die wirtschaftlichen Verbindungen zur Krim und zu den besetzten Gebieten schwinden zunehmend. Nachdem Krimtataren im September 2015 die wichtigsten Verbindungsstraßen auf die Krim blockiert hatten und im November desselben Jahres Energieleitungen zur Krim gesprengt worden waren, erlebten die Bewohner der Krim große Engpässe bei Lebensmitteln und wochenlange Stromausfälle. Die Krimtataren wollten damit auch die ukrainische Regierung dazu bewegen, eine offizielle Wirtschaftsblockade gegen die Krim zu erklären, wozu sich Kiew schließlich im Januar 2016 bereit erklärte. Seitdem ist, bis auf einige Energielieferungen, die Krim wirtschaftlich vom Rest der Ukraine isoliert.
Selbst nach Inkrafttreten der Wirtschaftsblockade gegen die Krim war mit einer ähnlichen Maßnahme gegenüber den besetzten Gebieten nicht zu rechnen. Die Lieferung von Kohle aus den besetzten Gebieten per Güterzug über die Kontaktlinie zeugte von der relativen Durchlässigkeit der Kontaktlinie bis März 2017. Ukrainische Kraftwerke sind auf diesen einen Typ Kohle angewiesen, der alternativ zu hohen Kosten teilweise aus Südafrika importiert wird. 2015 wurden fast 16 Millionen Tonnen Kohle aus den besetzten Gebieten geliefert. Große Betriebe, etwa in der Stahlerzeugung, produzierten weiter in den besetzten Gebieten und durften ihre Waren über die Kontaktlinie bringen, wenn sie weiterhin an Kiew Steuern zahlten.
Jedoch geriet die ukrainische Regierung vonseiten einer Koalition aus Oppositionsparteien und Freiwilligenbataillone zunehmend unter Druck, die ihr vorwarfen, einen „Handel mit Blut“ zu erlauben, von dem die De-facto-Behörden in den besetzten Gebieten profitieren. Die Rufe nach einer Handelsblockade wurden immer lauter und Aktivisten, darunter Angehörige ukrainischer Freiwilligenbataillone, unterbrachen ab Januar 2017 einzelne Bahnverbindungen. Kurz darauf begannen die Separatisten, die verbliebenen ukrainischen Betriebe in den besetzten Gebieten zu „verstaatlichen“. Daraufhin kam es zu Protesten und einem öffentlichen Aufschrei angesichts der Versuche der Regierung, die Blockaden der Freiwilligenbataillone aufzulösen. Zur Überraschung vieler Beobachter verkündete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 15. März 2017 offiziell ein vorübergehendes Handelsembargo gegen die besetzten Gebiete. Das Embargo untersagt jeglichen Handel mit den besetzten Gebieten, ausgenommen humanitärer Hilfe, bis die verstaatlichten Unternehmen wieder der ukrainischen Kontrolle unterstellt werden und es zu keinen Waffenstillstandsverletzungen gemäß Minsker Abkommen mehr kommt.
Neue Korruptionsquellen
Die unklar regulierten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den besetzten Gebieten beförderten Korruption in großem Maßstab. Verschiedene Korruptionsschemata waren um den Handel mit Kohle aus den besetzten Gebieten entstanden. So wird vermutet, dass einige Parlamentarier gut daran verdienten, die Umdeklarierung von Kohle aus den besetzten Gebieten in südafrikanische Kohle zu ermöglichen, wobei die produzierte Energie mit hohen Gewinnen an die Verbraucher weiter verkauft wurde. Auch Importe aus Russland gingen teilweise durch die besetzten Gebiete und gelangten auf dubiosen Wegen über die Kontaktlinie in die Ukraine.
Doch auch Korruption in kleinem Maßstab ist weit verbreitet. Von Geldzahlungen an Grenzbeamte wird an den Kontrollpunkten sowohl zu den besetzten Gebieten als auch zur Krim berichtet. Selbst der Erzbischof der Ukrainischen Orthodoxen Kirche auf der Krim wurde im März 2015 aufgefordert, umgerechnet zehn Euro zu zahlen, worauf ein Strafverfahren gegen die Beamten eröffnet wurde. Angeblich müssen hohe Geldsummen gezahlt werden, um als Soldat an einem der Kontrollpunkte zu den besetzten Gebieten eingesetzt zu werden. Diese „Investition“ zahle sich auf dem Posten am Kontrollpunkt durch die Annahme von Schmiergeldern aus, die für eine schnellere Durchfahrt oder den Transport von Waren fließen. Der Status quo nutzt also auf beiden Seiten einzelnen Personengruppen, da die neuen Grenzregime auch neue illegale Einnahmequellen mit sich gebracht haben.
Eskalation jederzeit möglich
Obwohl entlang der administrativen Grenze mit der autonomen Republik Krim anders als in der Ostukraine keine Kampfhandlungen stattfanden, bedeutet dies nicht, dass nicht jederzeit Spannungen entstehen können. Am 7. August 2016 schlossen russische Grenztruppen überraschend alle Übergangspunkte auf die Krim, das russische Militär zog Einheiten entlang der Grenze zusammen und drang teilweise bis in die neutrale Zone vor. Kiew versetzte seine Truppen in Alarmbereitschaft. Der angebliche Versuch eines Terroranschlags auf der Krim wurde vom russischen Geheimdienst drei Tage später als Erklärung vorgeschoben. Dieser Vorfall zeigt, wie leicht Provokationen entlang der De-facto-Grenze eskalieren können.
Der Konflikt in der Ostukraine ist nach wie vor ungelöst. Fast 10.000 Menschen hat der Konflikt seit April 2014 das Leben gekostet. Seit den Kämpfen um den Donezker Flughafen und den Verkehrsknotenpunkt Debaltzewe im Februar 2015 hat sich die Front kaum bewegt. Ukrainischen Schätzungen zufolge stehen den 69.000 Soldaten der ukrainischen Armee entlang der 500 Kilometer langen Front ungefähr 30.000 Separatisten und 5.500 russische Soldaten gegenüber. OSZE-Beobachter sagen offen, dass die Intensität des Konflikts von den Konfliktparteien kontrolliert werden kann. Nach den heftigsten Kampfhandlungen seit über einem Jahr im August 2016 kam es nach neuen Verhandlungen kurzfristig kaum mehr zu Waffenstillstandsverletzungen. Dass die Situation aber auch jederzeit eskalieren kann, zeigten erneut die blutigen Gefechte um die Orte Awdijiwka und Makiiwka sowie in der Umgebung von Donezk Ende Januar 2017. Die OSZE zählte eine bisher nie dagewesene Zahl von Waffenstillstandsverletzungen. Auch wenn die Kontrollstellen mit den besetzten Gebieten immer stärker einer Grenze ähneln, stehen sich die ukrainischen Soldaten und Separatisten an der Front direkt gegenüber und flammt der Konflikt an einigen Stellen immer wieder auf.
Langer Weg zur Reintegration
In den letzten Monaten mehren sich wieder die Stimmen, die eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine von der Regierung einfordern. Jedoch gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass die Regierung irgendwelche mittel- oder langfristigen Strategien in Bezug auf die Krim oder den besetzten Teil des Donbas verfolgt, auch wenn 2016 ein Ministerium für die besetzten Gebiete seine Arbeit aufnahm.
Da Russland jegliche Verhandlungen über die Krim kategorisch ausschließt, etwa im Rahmen eines „Genf plus“-Formats unter Einbeziehung der USA und der EU, bleibt die Frage weiter offen, wie die territoriale Integrität der Ukraine mit Blick auf die Krim wiederhergestellt werden kann, und liegt eine Rückkehr der Halbinsel bislang in weiter Ferne. Eine Empfehlung lautet, die Krim zunächst außen vor zu lassen und nicht mit dem Donbas im Paket zu vermischen. Bisher sind solche Vorschläge allerdings innenpolitisch nicht durchzusetzen, da das Ziel, die Wiederherstellung der gesamten territorialen Integrität der Ukraine, grundsätzlich außer Frage steht und auch von der überwiegenden Mehrheit der Ukrainer gewünscht wird. Die kürzlich vom ukrainischen Oligarchen Viktor Pinchuk im Wall Street Journal lancierte weitergehende Forderung nach „schmerzhaften Kompromissen“, wonach die „Krim kein Hindernis für eine Übereinkunft werden sollte, um den Krieg im Osten zu beenden“, ist dabei wenig hilfreich und stößt auf heftige Kritik.
Gleichzeitig werden mit Blick auf die besetzten Gebiete verschiedene Szenarien öffentlich diskutiert. In einer im Herbst 2016 publizierten Studie zur Ostukraine skizzierten Experten vier Szenarien, die von einer „kompletten Isolation“ über eine „begrenzte Isolation“ und „teilweise Normalisierung“ bis hin zu einer „begrenzten Reintegration“ reichen. Die Idee, die besetzten Gebiete komplett zu isolieren und „einzumauern“, kam schon 2014 auf. Auch der ehemalige Premierminister der Ukraine, Arsenij Jazenjuk, sprach sich bereits im September 2014 für eine komplette Isolation und den Bau einer Mauer aus. Doch Experten warnen vor einem solchen Schritt, würde er doch die letzten Verbindungen zwischen ukrainischen Bürgern auf beiden Seiten der Kontaktlinie unterbrechen. Auf der anderen Seite scheint eine „begrenzte Reintegration“ für die Regierung in Kiew keine tragfähige Option zu sein. Eine Wiederherstellung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen mit den besetzten Gebieten wäre nur mit Zugeständnissen an die De-facto-Behörden und Russland möglich. Doch dies ist für ukrainische Politiker und die Öffentlichkeit kaum akzeptabel.
Anfang 2017 schien es noch so, als ob Kiew in weiten Teilen den Vorschlägen der Experten folgen würde, die die Erreichung einer „teilweisen Normalisierung“ anhand schrittweiser praktischer Maßnahmen vorschlugen. Ein Aktionsplan des Ministerkabinetts, der im Januar 2017 veröffentlicht wurde, hat erste Eckpfeiler für eine Reintegration der besetzten Gebiete gesetzt. Für die Krim wird ein separater Aktionsplan erarbeitet. Die Reintegration im Donbas sollte demnach nicht auf einer militärischen Rückeroberung beruhen. Die Regierung setzt vielmehr auf konkrete Schritte in der Bildung, im Kulturbereich und in der Wirtschaft. Beispielsweise soll Studierenden aus den besetzten Gebieten freier Zugang zu Studienplätzen an Universitäten in der ganzen Ukraine gewährt werden. Auch eine bessere Ausstattung, Zugänglichkeit und Korruptionsbekämpfung an den Übergängen entlang der Kontaktlinie sind vorgesehen. Die Menschen aus den besetzten Gebieten sollen außerdem medizinische Einrichtungen auf der anderen Seite der Kontaktlinie nutzen dürfen. Ein solches Vorgehen könnte die Bevölkerung in den Separatistengebieten wieder näher an die Ukraine heranführen.
Jedoch hat die ukrainische Regierung mit Blick auf die besetzten Gebiete zuletzt eine politische Kurskorrektur hin zu einer „begrenzten Isolation“ vorgenommen. Die neu verhängte Handelsblockade stellt den ehrgeizigen Aktionsplan für die Reintegration infrage. Während die Übergänge für Personen, die die Kontaktlinie überqueren wollen, offen bleiben, wurden die letzten wirtschaftlichen Verbindungen am 15. März 2017 gekappt. Die Blockade könnte zu einer Energiekrise führen, wenn der Import von Kohle und alternative Energiequellen die gestoppten
Kohlelieferungen aus dem besetzten Teil des Donbas nicht ausreichend ersetzen können. Bereits im Februar 2017 rief die Regierung für den Energiesektor des Landes den Notstand aus und forderte die Bürger auf, Energie zu sparen. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Blockade dürfen nicht unterschätzt werden: Experten erwarten einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von bis zu 1,6 Prozent. Darüber hinaus ist es gut möglich, dass die besetzten Gebiete noch weiter mit Russland verschmelzen, da der Güterverkehr momentan nur über die unkontrollierte russisch-ukrainische Grenze möglich ist.Aber selbst wenn die ukrainische Regierung sich entscheidet, ihren Aktionsplan umzusetzen und schrittweise Maßnahmen zu ergreifen, die den ukrainischen Bürgern in den besetzten Gebieten nutzen, ist der lange Weg zur Reintegration doch mit vielen Hindernissen verbunden. Unter anderem ist die Frage der Finanzierung noch nicht geklärt. Allein die Kosten für den Wiederaufbau der Infrastruktur werden auf mindestens 1,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Und letztendlich muss natürlich der politische Wille auf allen Seiten vorhanden sein: auf der ukrainischen, auf jener der Separatisten und natürlich auf der russischen Seite, ohne die es keinen Anlass für den Konflikt im Osten Europas gegeben hätte.
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Gabriele Baumann ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine.
Moritz Junginger ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine.
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