Ausgabe: 1/2017
1. Einleitung
„They’re bringing drugs. They’re bringing crime. They’re rapists. And some, I assume, are good people.“ Mit diesen Worten warnte der neue US-amerikanische Präsident Donald Trump schon während des Wahlkampfes vor vermeintlich ungebremster illegaler Einwanderung aus Mexiko. Diese Warnung ist dabei insofern verwunderlich, als sich die illegale Migration in die USA auf einem historischen Tiefstand befindet und bereits seit mehr als zehn Jahren mehr Mexikaner von den USA nach Mexiko ziehen als umgekehrt.
Die Lösung, die Donald Trump vorschlägt, mutet nicht minder bizarr an: „I would build a great wall, and nobody builds walls better than me, believe me (…) I will build a great, great wall on our southern border. And I will have Mexico pay for that wall.“ Lange Strecken der 3.000 Kilometer langen US-mexikanischen Grenze sind bereits von Grenzbefestigungen gesäumt, die seit den 1990er Jahren Schritt für Schritt errichtet worden sind – doch Migrationsexperten beurteilen deren Wirkung kritisch. Führende mexikanische Politiker sind sich außerdem einig, dass Mexiko sich nicht am Mauerbau des Nachbarn beteiligen wird.
Trumps Zitate sind Ausdruck eines grundlegenden Trends: Der Migrationsdiskurs in den USA wird zunehmend losgelöst von Fakten geführt. Der folgende Beitrag analysiert diesen Diskurs und gibt Antwort auf drei Fragen: Erstens, wie hat sich die Migrationsdynamik zwischen den USA und Mexiko in den letzten Jahren verändert? Was sagt die Statistik? Zweitens, warum werden grundlegende Migrationsfakten von der politischen Debatte in den USA ignoriert? Welche Gründe erklären dieses Phänomen? Drittens, wie sinnvoll sind Lösungsansätze, die in der politischen Debatte aktuell in den USA (und zunehmend in Deutschland) diskutiert werden? Wie effektiv reduzieren Mauern und Grenzschutz unerwünschte Migration, verglichen mit Ursachenbekämpfung? Ziel des Artikels ist es, die amerikanische Debatte zu durchleuchten, um Parallelen zu Europa und Lehren für Deutschland aufzuzeigen.
2. Neue Migrationsdynamik – weniger Mexikaner, mehr Mittelamerikaner
Das althergebrachte Narrativ von mexikanischen Einwanderern, die illegal in die USA kommen und deren Anzahl stetig steigt, ist mittlerweile überholt.
Mexikanische Migration im Abwärtstrend
Die illegale Migration aus Mexiko ist heute auf einem historischen Tiefstand angelangt. Wurden 2005 noch mehr als eine Million undokumentierte Mexikaner an der Grenze festgenommen, waren es zehn Jahre später weniger als 200.000. Gleichzeitig kehren immer mehr Mexikaner nach Jahren in den USA in ihre Heimat zurück. Mexikos Wanderungssaldo für die USA, d.h. die Differenz zwischen Ein- und Auswanderung, ist seit einigen Jahren sogar negativ. Zwischen 2009 und 2014 verließen eine Million Mexikaner die USA, während nur rund 870.000 einwanderten. Bereits seit 2013 sind China und Indien die Hauptherkunftsländer neuer Einwanderer in die USA, während Mexiko nur noch den dritten Platz belegt. Nach Informationen des Census Bureaus wanderten im Jahr 2013 rund 125.000 Mexikaner in die USA ein, verglichen mit 147.000 Chinesen und 129.000 Indern.
Die Gründe für die geringere Zuwanderung aus Mexiko sind vielfältig. Die Rezession von 2008 in den USA bei gleichzeitig zunehmenden Arbeitsmöglichkeiten in Mexiko spielt für Rückkehrer ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach Wiedervereinigung mit der Familie. Rückläufige Geburtenzahlen und eine alternden Gesellschaft in Mexiko reduzieren zusätzlich die Zahl potenzieller neuer Auswanderer. Die Ausweitung des US-Grenzschutzes und die Zunahme von Abschiebungen wirken zusätzlich dämpfend auf die Migrationsmotivation.
Trotz der geringeren Migrationsströme (migrant flows) der letzten Jahre ist die mexikanische Diaspora (migrant stock) in den USA weiterhin groß. Sie liegt seit einigen Jahren konstant bei knapp zwölf Millionen und macht damit fast ein Drittel aller in den USA lebenden Einwanderer aus. Etwa die Hälfte der mexikanischen Einwanderer, also rund sechs Millionen Menschen, lebt irregulär in den USA.
Diese beeindruckenden Statistiken sind das Ergebnis jahrzehntelanger stetiger legaler und illegaler Einwanderung. Über das sogenannte Bracero-Programm kamen seit 1942 viele Mexikaner auf legalem Wege mit temporären Arbeitsvisa in die USA. Nach Beendigung des Programms Mitte der 1960er Jahre hielten viele mexikanische Gastarbeiter ihre engen Beziehungen zu US-amerikanischen Arbeitgebern aufrecht und kamen weiterhin zum Arbeiten in die USA, nur eben auf dem illegalen Weg. Legale Migration aus Mexiko nahm ebenfalls zu, da die Neufassung des US-Migrationsgesetzes von 1965 großzügige Regelungen zur Familienzusammenführung einführte. Lebten in den 1970er Jahren noch weniger als eine Million Mexikaner in den USA, verdoppelte sich diese Zahl bis 1980 auf 2,3 Millionen und stieg danach exponentiell, bis sie im Jahr 2010 schließlich 11,7 Millionen erreichte – ein Wert, auf dem sie seither mit leichten Schwankungen verharrt.
Mittelamerikanische Migration im Aufwärtstrend
Während immer weniger Mexikaner in die USA ziehen, steigt jedoch die Zahl mittelamerikanischer Migranten stetig. Hundertausende Menschen aus El Salvador, Guatemala und Honduras, dem „Nördlichen Dreieck“ Mittelamerikas, machen sich jährlich Richtung USA auf und durchwandern Mexiko als Transitmigranten.
Wie Abbildung 1 verdeutlicht, hat insbesondere die illegale Migration aus Mittelamerika zugenommen. Versuchten im Jahr 2006 etwa 110.000 mittelamerikanische Migranten illegal die Grenze zu den USA zu überqueren, hatte sich diese Zahl bis 2016 mehr als verdoppelt. In Kombination mit dem starken Rückgang illegaler Migration aus Mexiko bedeutet dies, dass der Anteil von Mittelamerikanern an illegalen Grenzübertritten in diesem Zeitraum rasant angestiegen ist, von zehn auf 54 Prozent. Dass mittlerweile mehr Mittelamerikaner als Mexikaner die Grenze zu überqueren versuchen, ist umso beindruckender, wenn man in Betracht zieht, dass die drei Länder zusammen nur etwa 30 Millionen Einwohner zählen – und damit nur ein Viertel der Bevölkerung Mexikos.
Migration aus dem Nördlichen Dreieck gen Norden hat ebenfalls lange Tradition. Bereits seit den 1970er Jahren zog es viele Mittelamerikaner aus ihren Heimatländern in Richtung USA, teils aufgrund von Bürgerkriegen und politischen Unruhen in ihrer Heimat, teils um in den USA zu arbeiten oder um anderen dort lebenden Familienmitgliedern nachzufolgen. Die mittelamerikanische Diaspora in den USA wuchs so von weniger als 200.000 im Jahr 1980 auf fast drei Millionen im Jahr 2015 an (vgl. Abb. 2).
Heute ist die Region weiterhin fragil und von einer Vielzahl von Problemen geplagt. Die Menschen leiden unter extrem hoher Gewalt und Mordraten von zwischen 30 und 75 Morden pro 100.000 Einwohner (in Deutschland liegt die Rate bei unter einem Mord). Armut und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitet und ein Viertel aller Jugendlichen sind sogenannte „Ninis“, die weder Arbeit haben noch eine Schule besuchen. Massive Korruption verstärkt eine wachsende soziale Ungleichheit und ohnehin schwache staatliche Institutionen werden durch den überwältigenden Einfluss von Gangs noch weiter ausgehöhlt.
Schlagzeilen machte mittelamerikanische Migration in den USA vor allem im Jahr 2014, als mehr als 68.000 unbegleitete minderjährige Migranten, also allein reisende Kinder ohne ihre Eltern oder einen Sorgeberechtigten, an der Grenze aufgegriffen wurden. Drei Viertel dieser Kinder stammten aus El Salvador, Guatemala und Honduras. Im Vergleich zum Vorjahr 2013 war ihre Zahl sprunghaft von etwa 20.000 auf 50.000 gestiegen, während die mexikanischer Kinder weitgehend stabil geblieben war (vgl. Abb. 3).
Präsident Obama bezeichnete die Situation an der Südgrenze der USA als einen „humanitären Notfall“. Trotz dieser Einschätzung und einer Reihe von Aufklärungskampagnen und Anti-Schmuggel-Initiativen beschränkte sich die Reaktion der USA und Mexikos auf diese Krise primär auf den Aufbau von mehr Grenzschutz. Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto lancierte im Sommer 2014 den sogenannten Plan Frontera Sur (Plan Südliche Grenze), ein ausgedehntes Grenzschutzprogramm an der Südgrenze Mexikos zu Guatemala, infolgedessen die Zahl der Festnahmen und Abschiebungen mittelamerikanischer Migranten aus Mexiko in die Höhe schossen. Mexikos Migrationsagentur INM (Instituto Nacional de Migración) schob im Jahr 2015 mehr als 175.000 Migranten ins Nördliche Dreieck ab – zwei Drittel mehr als noch im Vorjahr.
In Folge dieser Maßnahmen sank im Jahr 2015 die Zahl mittelamerikanischer Kinder, die die US-Grenze erreichten – allerdings nur kurzfristig. Im Jahr 2016 stieg sie wieder auf 47.000 an, nur geringfügig weniger als im Krisenjahr 2014. Für viele Beobachter war diese Entwicklung keine Überraschung, denn die Ursachen der Kindermigration aus Mittelamerika – Gewalt, Armut, Familienbande in den USA und ein ausgeklügeltes Angebot von Schmugglern – sind nach wie vor unverändert. Es ist daher wahrscheinlich, dass mittelamerikanische Kinder und Erwachsene trotz Abschreckungsmaßnahmen und steigender Investitionen in den Grenzschutz auch in den kommenden Jahren versuchen werden, ihre Heimatländer in Richtung Norden zu verlassen.
3. „Gefühlte Wahrheit“ und politisches Kalkül: Warum der politische Diskurs in den USA grundlegende Migrationsfakten ignoriert
Plakativ gesagt ist illegale Migration von Mexiko in die USA ein alter Hut. Die hier beschriebene Datenlage – sinkende mexikanische und zeitgleich wachsende mittelamerikanische Migration – ist klar. Sie wird von der momentanen öffentlichen und politischen Debatte in den USA jedoch weitgehend ignoriert. Donald Trumps Behauptung, eine Mauer gegen illegale Migration aus Mexiko bauen zu müssen, verkennt die Tatsache, dass illegale Migration an der Südgrenze der USA im Jahr 2015 auf einem 40-Jahres-Tief angelangt ist.
Was erklärt diese Ignoranz grundlegender Migrationsfakten im politischen Diskurs in den USA? Vier Faktoren tragen zu dieser Entwicklung bei:
Erstens ist die lokale Wahrnehmung von Migration, die „gefühlte“ Migration, unabhängig von Statistiken und der tatsächlichen Zahl von Migranten. Menschen erleben Immigration nicht auf Bundesebene, sondern lokal, an konkreten Beispielen, wie der ethnischen Zusammensetzung der Schule ihrer Kinder oder am täglichen Straßenbild in ihren Gemeinden oder Städten. So kann die subjektiv wahrgenommene Migrationssituation eines Landes grundverschieden sein, je nachdem ob jemand in der Stadt oder auf dem Land lebt oder ob die Nachbarschaft ethnisch divers wie in New York City oder homogen wie in Salt Lake City ist.
Zweitens ist weniger die Anzahl von Migranten, sondern eher die Geschwindigkeit, mit der Migranten die Demografie eines Ortes verändern, entscheidend bei der Wahrnehmung von Migration. Immer mehr Einwanderer in den USA lassen sich nicht mehr nur in den traditionellen Einwandererstaaten Kalifornien, Texas und New Mexiko nieder, sondern auch in Regionen, in denen Einheimische bisher nur wenig Erfahrung mit Einwanderern gemacht haben. So stieg beispielsweise der Anteil von Migranten zwischen 2000 und 2012 in South Carolina um 87 Prozent, in Alabama um 83 Prozent und in Tennessee um 77 Prozent. Je schneller sich die Demografie eines Ortes durch Migration ändert, umso eher reagieren Menschen mit Skepsis auf Migration. Parallelen gibt es auch in Europa. Die Brexitabstimmung vor einigen Monaten zeigte, dass Wähler in Gegenden, in denen viele Migranten lebten, eher für den Verbleib in der EU (und die damit einhergehende Freizügigkeit von EU-Migranten) stimmten, wohingegen Wähler in Gegenden, in denen sich die Bevölkerung in den letzten Jahren besonders schnell durch Migration verändert hatte, eher gegen den EU-Verbleib aussprachen. Angst vor Migration ist also eher da verbreitet, wo die Zahl von Migranten sprunghaft ansteigt; langsamer Wandel hingegen löst weniger Besorgnis aus.
Ein dritter Grund, warum US-Wähler sich trotz historisch niedriger illegaler Einwanderung weiterhin stark um dieses Thema sorgen, ist der Gegensatz zwischen flows und stocks. Wie oben erläutert, leben über elf Millionen Menschen illegal in den USA, knapp sechs Millionen davon Mexikaner. Auch wenn heute immer weniger Mexikaner versuchen, illegal ins Land zu kommen (flows), so sind die Gesamtzahlen der bereits illegal im Land lebenden Mexikaner (stocks) doch so hoch, dass sie das althergebrachte Narrativ undokumentierter Mexikaner weiter perpetuieren.
Viertens und letztens hat die Wahl von Donald Trump gezeigt, dass es politisch opportun sein kann, Fakten zu ignorieren. Trump und seine Berater waren erfolgreich darin, das Thema illegale Migration künstlich „hochzukochen“, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Auch hier sind die Parallelen zu Europa unübersehbar. Parolen gegen Migration und ausländerfeindliche Rhetorik sind ein grundlegendes Werkzeug vieler (wenn auch nicht aller) populistischer Parteien Europas. Populismus propagiert ein vereinfachtes Weltbild, in dem korrupte Eliten einerseits und das ehrliche Volk andererseits einander feindlich gegenüberstehen und komplexe Probleme durch einfache common sense-Lösungen aus der Welt geschafft werden können. In diesem Weltbild stellen Migranten ideale Sündenböcke dar, da sie sowohl als nicht dem Volk angehörig dargestellt als auch vermeintlich einfach aus dem Land geschafft werden können – sei es durch Einreisesperren, Abschiebungen oder eben durch Mauern.
4. Die Zukunft: Lösungsansätze zwischen Mauerbau und Ursachenbekämpfung
Migrationsdebatten in den USA, Deutschland und anderen belie bten Zielländern kreisen regelmäßig um eine Kernfrage: Welche Lösungs- und Politikansätze sind sinnvoll und effektiv darin, unerwünschte oder illegale Migrationsströme zu unterbinden?
Zwei oftmals politisch entgegengesetzte Lager und Philiosophien beantworten diese Frage unterschiedlich. Verfechter ausgedehnter Grenzschutzmaßnahmen inklusive Mauerbau stehen oftmals im Streit mit Verfechtern von Investitionen in Herkunftsländer und der Bekämpfung von Migrations- und Fluchtursachen. Welcher Ansatz dominiert in den USA und was wissen wir über die Effektivität dieser beiden Ansätze?
Mauerbau und Grenzschutz in den USA
Grenzschutz hat in den USA seit den 1990er Jahren und verstärkt seit 9/11 Konjunktur. Der jährliche Etat der Border Patrol verneunfachte sich zwischen 1994 und 2015 von 400 Millionen 1994 auf 3,7 Milliarden US-Dollar (vgl. Abb. 4). Die Anzahl der Grenzschutzbeamten stieg im selben Zeitraum ebenfalls rasant, von etwa 4.000 auf mehr als 20.000. Die Gesamtausgaben der USA fürenforcement, also die Durchsetzung von Migrationsgesetzen inklusive Grenzschutzmaßnahmen, wurden für das Jahr 2012 sogar auf etwa 18 Milliarden beziffert.
Diese riesigen Investitionen sind das Ergebnis jahrzehntelanger Politiken, unterstützt von Republikanern wie Demokraten, die Grenzschutz als primäre Antwort auf illegale Einwanderungswellen ansahen. Seit Mitte der 1990er Jahre haben die USA mehrere Mauern und Zäune entlang der Grenze errichtet. Teils verlaufen diese durch einwohnerreiche Städte, teils durch menschenleeres Gelände. Die Bauweise ist uneinheitlich – teils stehen Betonmauern, teils Gitterzäune. Gemeinsam ist allen Grenzbefestigungen lediglich, dass sie nicht die gesamte Grenze abdecken, sondern irgendwo entlang der Grenze enden.
Wie sinnvoll sind Mauern und Grenzschutz?
Mauerbau ist eine extreme Form von Grenzschutz, aber Länder haben eine Vielzahl von Möglichkeiten, ihre Grenze zu schützen. Typische Grenzschutzmaßnahmen umfassen Personenkontrollen bei der Einreise und/oder im Umland der Landesgrenze, die von Grenzbeamten oder mithilfe elektronischer Geräte an Flughäfen, Häfen oder anderen Grenzübergängen durchgeführt werden. Zunehmend kommen dabei technische Mittel wie Kameras, Bodensensoren, Bewegungsmelder oder Drohnen zum Einsatz.
Mauern und Grenzschutzmaßnahmen wirken auf zwei Ebenen: Sie können zum einen existierende Migrationsströme blockieren und zum anderen abschreckend auf potenzielle zukünftige Migranten wirken, so dass sie – zumindest kurzfristig – zu einem Rückgang von Migrationszahlen beitragen können. Beispiele für diese Dynamik gibt es zuhauf. In den USA gingen parallel zu den steigenden Grenzschutzinvestitionen in den 1990er Jahren die Festnahmen undokumentierter Einwanderer an der Grenze zurück (vgl. Abb. 4). Und während in Europa in den letzten Jahren immer mehr Länder Grenzkontrollen einführten und Mauern entlang der Balkanroute bauten, sanken die Zahlen neu ankommender Flüchtlinge und Migranten in Deutschland.
Diese Beispiele suggerieren, dass Mauern illegale Migration erfolgreich unterbinden können – aber dem ist nicht unbedingt so. Eine klare Einschätzung, wie effektiv Mauern und Grenzschutz tatsächlich sind, wird durch drei Faktoren erschwert: Erstens ist die Wirkung von Mauern nicht eindeutig messbar. Selbst wenn nach Mauerbau und Grenzschutzinvestitionen illegale Migrationszahlen sinken (wie im Beispiel der USA in den 1990er Jahren), können andere Faktoren ebenfalls dazu beigetragen haben, wie etwa eine wirtschaftliche Rezession (wie in den USA 2008/09) oder veränderte Lebensbedingungen in Herkunftsländern (wie in Mexiko in den letzten Jahrzehnten). Auch die Einrichtung legaler Migrationswege z. B. durch temporäre Arbeits- oder Studentenvisa können illegale Migrationszahlen eines Landes beeinflussen, genauso wie sich verändernde Grenzschutzregime anderer Länder derselben Region. Zweitens ist ein grundlegendes Dilemma von Grenzschutz, dass mehr Grenzbeamte mehr Festnahmen durchführen können, selbst wenn die Anzahl versuchter Grenzübertritte relativ konstant bleibt. Daher können Investitionen in mehr Grenzpersonal paradoxerweise sogar zum Eindruck von mehr statt weniger illegaler Migration führen, da mehr Festnahmen verzeichnet werden. Drittens muss illegale Einwanderung nicht an illegale Einreise gekoppelt sein. Wie die zahlreichen sogenannten visa overstays in den USA zeigen, können Migranten legal ins Land einreisen, etwa über ein Touristen- oder befristetes Arbeitsvisum, und nach dessen Ablauf weiter im Land bleiben. Grenzschutz und Mauerbau haben keinerlei Effekt auf diese Form der illegalen Einwanderung.
Mauern und verstärkte Grenzschutzmaßnahmen bringen zudem eine Reihe von Problemen und unbeabsichtigten Nebeneffekten mit sich. Erstens können Mauern umgangen werden, v.a. wenn sie wie im Falle der USA nur einen Teil der Grenze abdecken. Mehr oder weniger kreative Lösungen reichen von Tunneln, Leitern und Seilen bis hin zu Rampen, Katapulten und Drohnen (z.B. beim Drogenschmuggel).
Zweitens macht mehr Grenzschutz Migration gefährlicher. Selbst wenn Mauern Migrationsflüsse kurzfristig zu blockieren vermögen, mittel- und langfristig verlagern sie diese eher anstatt sie zu reduzieren (displaced not decreased). Grenzschutz verschiebt Migrationsrouten oft in unwirtlicheres Terrain – im Falle der USA in die Wüste. Hier stieg die Anzahl der Todesfälle von jährlich weniger als 100 Anfang der 1990er Jahre auf fast 500 im Jahr 2005.
Eine ähnliche Dynamik ist in den letzten Jahren auch im Mittelmeer zu beobachten. Obwohl im Jahr 2016 wesentlich weniger Migranten versuchten, das Mittelmeer zu überqueren, als zum Höhepunkt der Migrationsströme im Vorjahr (etwa 360.000 im Jahr 2016, verglichen mit mehr als einer Million im Jahr 2015), stieg die Zahl der Todesopfer im selben Zeitraum von knapp 3.800 auf über 5.000. Daten von UNHCR zeigen, dass die etwa zehn Kilometer lange Seeroute von der Türkei nach Griechenland, die Hauptroute im Jahr 2015, wesentlich weniger Todesopfer forderte als die wesentlich längere und gefährlichere Route von Libyen nach Italien, die im Folgejahr verstärkt frequentiert wurde.
Mehr Grenzschutz kann außerdem dazu führen, dass Schlepper ihre Preise erhöhen und ihr Geschäftsmodell anpassen. Schätzungen zufolge stieg der durchschnittliche Preis für Schlepperdienste von Mexiko in die USA von etwa 500 US-Dollar in den 1980er Jahren auf fast 2.500 US-Dollar Mitte der 2000er Jahre. Außerdem bieten Schlepper in Mittelamerika ihren Kunden immer öfter drei Grenzüberquerungsversuche zum Preis von einem an. Wird ein Migrant gefasst und ins Heimatland abgeschoben, hat er noch zwei weitere Versuche ohne zusätzliche finanzielle Kosten – ein Geschäftsmodell, das das sogenannte Drehtür-Problem (von Migration, Rückführung und erneuter Migration) noch verstärkt.
Ein vierter Nebeneffekt von Grenzschutz ist, dass zirkuläre Migration zu permanenter Migration werden kann. Jahrzehntelang war mexikanische Einwanderung von saisonaler und zirkulärer Arbeitsmigration geprägt gewesen, doch je schwerer es wurde, die Grenze zu überqueren, umso mehr ließen sich Mexikaner und ihre Familien dauerhaft in den USA nieder. Im Jahre 2014 lebten acht von zehn undokumentierten mexikanischen Einwanderern bereits seit mehr als zehn Jahren in den USA.
Wie diese Analyse zeigt, können Mauern und Grenzschutz also durchaus ein effektives Symbol der Abschreckung sein, Migrationsflüsse verlagern und dadurch zu kurzfristig verringerter Migration beitragen – sie lösen aber das Problem illegaler Einwanderung nicht langfristig oder vollständig und bringen erhebliche Probleme und unerwünschte Nebeneffekte mit sich.
Wie sinnvoll ist die Bekämpfung von Migrations- und Fluchtursachen?
Auf der anderen Seite der Debatte steht der Ansatz der Fluchtursachenbekämpfung. In Anbetracht der Tatsache, dass viele Migranten weltweit ihre Heimat nicht aus freien Stücken verlassen, sondern weil wirtschaftliche Not, Krieg oder Bürgerkrieg sie dazu zwingen, scheint die Bekämpfung von Migrations- und Fluchtursachen sowie die Entwicklungshilfe für Herkunftsländer eine logische Strategie zu sein, um Migrationsflüsse zu reduzieren.
In der Tat ist Mexiko ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Land, in dem verbesserte wirtschaftliche Bedingungen zu einem starken Auswanderungsrückgang beigetragen haben. Mexikos Bruttosozialprodukt (BIP) wuchs in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich 2,5 Prozent. Zwischen 2001 und 2011 erhöhte sich der Anteil der Mexikaner in der Mittelschicht um knapp neun Prozentpunkte, d. h. mehr als zehn Millionen Mexikaner stiegen in die Mittelklasse auf. Im selben Zeitraum sank die jährliche illegale Migration aus Mexiko von 1,2 Millionen auf 290.000. Umfragen zeigen, dass Mexikaner zunehmend zufrieden mit ihrem Leben in Mexiko sind; im Jahr 2015 befand ein Drittel der befragten Mexikaner, das Leben in Mexiko sei weder besser noch schlechter als in den USA – ein Anstieg von zehn Prozentpunkten seit 2007.
Stoppt Entwicklung von Herkunftsländern also Migration? Nicht notwendigerweise. Dem Beispiel Mexikos zum Trotz ist die Idee, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes automatisch zu weniger Migration aus diesem Land führt, ein klassischer Migrationsmythos – weit verbreitet, aber falsch. Studien zeigen, dass für arme Länder mit niedrigem BIP (unterhalb von ca. 6.000 bis 8.000 US-Dollar) sogar die Faustregel gilt: Je reicher sie werden, desto mehr Migration hat das zur Folge. Warum ist dies so? Ein Grund für dieses Phänomen ist, dass Menschen mit mehr verfügbarem Einkommen es sich eher leisten können auszuwandern – denn es sind oft nicht die Ärmsten der Armen, die migrieren, sondern diejenigen, die in der Lage sind, sich ein Startkapital und/oder Reise- und eventuelle Schmuggelkosten anzusparen. Außerdem sinkt mit dem Entwicklungsgrad eines Landes seine Kindersterblichkeit, so dass der Pool möglicher zukünftiger Auswanderer steigt.
Darüber hinaus sind Investitionen in die Entwicklung eines Landes natürlich nicht immer erfolgreich, und selbst wenn sie erfolgreich sind, stellt sich der Erfolg erst langfristig ein – ein klassisches Dilemma von Entwicklungszusammenarbeit. Die USA investieren seit Jahrzehnten in die Entwicklung Mittelamerikas, doch tiefsitzende Probleme wie Korruption, miserable Bildungssysteme, die Macht von Gangs und die extreme Armut großer Bevölkerungsteile fungieren nach wie vor als starke Treiber von Migration. Inwieweit das neueste Entwicklungsprogramm Mittelamerikas, die Alliance for Prosperity, die 2014 im Zuge der Kinderflüchtlingskrise von El Salvador, Guatemala und Honduras vorgestellt wurde und von den USA mit fast 750 Millionen US-Dollar unterstützt wird, diese Muster durchbrechen kann, ist noch nicht klar. Erfolge werden sich jedoch in jedem Fall nur langfristig zeigen – und stehen damit im Gegensatz zu den kurzfristigen Erfolgen, die Politiker oft vorweisen müssen.
Ursachenbekämpfung kann also unerwünschte Migrationsströme reduzieren, aber sie wirkt nur langfristig, längst nicht in jedem Fall, und in besonders armen Ländern kann sie unter Umständen sogar Migration fördern.
5. Fazit: Weg vom Nullsummenspiel hin zur Kompromisslösung
Politische Debatten um die Extrempole herum suggerieren (in den USA nicht anders als in Deutschland), dass Grenzschutz und Ursachenbekämpfung grundlegend verschiedene Herangehensweisen an Migrationsreduktion seien. Einige Verfechter von Grenzschutz sehen Ursachenbekämpfung als „weiche“ Herangehensweise an, die wenig erfolgversprechend und nicht dringlich ist, während umgekehrt einige Verfechter von Ursachenbekämpfung argumentieren, Grenzschutz sei unmoralisch und Mauern seien ohnehin wirkungslos.
Die hier vorliegende Analyse zeigt, dass diese Dichotomie nicht den Tatsachen entspricht. Mauern und Grenzschutz können das Problem unerwünschter Migrationsflüsse nur kurzfristig und teilweise lösen; Investitionen in Migrations- und Fluchtursachen hingegen nur langfristig und teilweise. Echte Lösungen sind daher Politiken, die beide Ansätze miteinander vereinen – Kompromisslösungen. Nachhaltige Migrationspolitiken beinhalten sowohl Grenzschutzmaßnahmen als auch Ursachenbekämpfung und behandeln die beiden Konzepte nicht als Nullsummenspiel, sondern als notwendige Elemente effektiver Migrationspolitik.
Weder der beste Grenzschutz noch die beste Ursachenbekämpfung können unerwünschte Migrationsströme vollständig stoppen. Reife Migrationspolitiken müssen deshalb in der Lage sein, beide Ansätze abzuwägen und miteinander zu verschmelzen.
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Victoria Rietig ist Senior Migration Fellow beim American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) an der Johns Hopkins University in Washington, D.C.
Christian Bilfinger ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko.
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