Ausgabe: 3/2024
Eine einheitliche „politische Mitte“ existiert in Spanien nicht. Bei den vergangenen Nationalwahlen 2023 konnten zwar die zwei maßgeblichen Parteien, die Mitte-rechts-orientierte Volkspartei PP (Partido Popular) sowie die von Mitte-links aus weiter nach links driftende Arbeiterpartei PSOE (Partido Socialista Obrero Español), jeweils mehr als 30 Prozent der Wähler auf sich vereinigen und zusammen knapp 65 Prozent erzielen. Auch die Verluste der linksextremen und rechtspopulistischen Parteien können vordergründig als Stabilisierung, gar Stärkung der politischen Mitte gewertet werden. Fakt ist jedoch, dass sich in Spanien keine der großen Parteien dezidiert als politische Mitte oder Zentrum (centro) definiert, sondern sich ideologisch allenfalls in den Begriffskombinationen Mitte-links- oder Mitte-rechts-Partei positioniert.
Der Terminus „politische Mitte“ ist unbestimmt beziehungsweise interpretationsoffen. Positionen oder Haltungen, die vor zwei Jahrzehnten zur Mitte gehörten, werden aus politisch-taktischen Gründen von extremen Kräften mittlerweile entweder „rechts“ oder „links“ verortet, um sie zu bekämpfen. Historische Erfahrungen und eine zunehmende Polarisierung in den vergangenen Jahren erklären die geringe Neigung der spanischen Parteien, die Mitte oder das Zentrum für sich als politische Zielkategorie festzulegen.
Spanische Zentrumsparteien sind historisch gescheitert
In der Transitionsphase von der Diktatur Francos zur vollständigen Demokratie in den Jahren 1975 bis 1982 spielte die zentristische UCD (Unión del Centro Democrático) unter der Führung des Ministerpräsidenten Adolfo Suárez eine maßgebliche Rolle. Im Namen und programmatisch als moderate, teils christsoziale, teils sozialliberale Reformpartei auf das Zentrum ausgerichtet, gelang es ihr, bei den ersten Nationalwahlen 1977 mit 165 von 350 Mandaten als Mitte-Partei die stärkste Kraft im Parlament zu werden. Aus dieser Stärke heraus konnte die UCD wegweisende Kompromisse mit Kräften des gesamten politischen Spektrums von rechts bis links schließen. In dieser politischen Ausnahmesituation schoben alle Parteien ideologische Differenzen punktuell beiseite, um die Transition voranzubringen. Gemäß Umfragen aus jener Zeit verorteten sich die meisten Spanier ebenfalls im Zentrum.
Gleichwohl gelang es der UCD nicht, ihr Mitte-Konzept dauerhaft zu etablieren. Heterogene innerparteiliche Strömungen transportierten gesellschaftliche Konfliktlinien mehr in die eigene Partei und die Regierung hinein, anstatt diese auf politische Wettbewerber zu projizieren. Die UCD wurde gewissermaßen Opfer ihres Erfolges. Solange Systemfragen zu lösen waren, konnte sie auch eher apolitische Wähler mobilisieren. Nach Verabschiedung der demokratischen Verfassung im Jahre 1978 verlor ihr Mitte-Konzept jedoch an Relevanz. Stattdessen drängten konfliktive, ideologisch aufgeladene wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen in den Vordergrund. Bei den Nationalwahlen 1982 stürzte die UCD auf 11 Mandate ab. Die erstarkte PSOE (202) sowie die Alianza Popular-PDP (107) teilten das Abgeordnetenhaus erstmals nach einer Mitte-links-/Mitte-rechts-Logik auf.
Mit dem Aufstieg und Fall von Ciudadanos ist auch der zweite Versuch in der jüngeren spanischen Geschichte gescheitert, sich als (neue) politische Gruppierung mit einem zentristischen Konzept zu etablieren. Die ursprünglich sozialliberale Bürgerpartei (C’s) wurde 2006 anfänglich als regionale, verfassungstreue Alternative zur Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC) gegründet, die sich zunehmend den katalanischen Separatisten angenähert hatte. Ciudadanos wuchs rasch und vermeintlich unaufhaltsam. Ihren Höhepunkt erreichte C’s 2017 mit 36 von 135 Mandaten im Regionalparlament Kataloniens (25,35 Prozent) und mit 57 von 350 Mandaten im nationalen Parlament im April 2019 (15,9 Prozent). Sie schien auf dem Weg zu einer liberalen Partei in der Mitte zwischen der seinerzeit konservativeren PP und der sozialistischen PSOE.
Nach dem Scheitern der katalanischen Separatisten verlor C’s rapide an Relevanz. In gewisser Weise wiederholte sich Geschichte: In dem Maße, wie die katalanische Unabhängigkeitsbestrebung als vorübergehende politische Ausnahmesituation in den Hintergrund trat, fiel es der Partei immer schwerer zu vermitteln, für welche politische Richtung sie zuverlässig stehe. Geradezu widersprüchliche Positionierungen im Spektrum von liberal-konservativ bis sozialliberal seitens einiger Regionalverbände sowie taktische Koalitionsmanöver sowohl mit der PP als auch der PSOE förderten das Negativimage von Ciudadanos, ein unsicherer, undefinierter und letztlich überflüssiger politischer Akteur zu sein. Nach einigen Jahren der Agonie verschwand C’s in den Wahlen 2023/2024 aus allen regionalen, dem nationalen und dem Europäischen Parlament.
Es lohnt sich, diese ereignisgeschichtlichen Entwicklungen mit der ideologischen Selbstverortung der spanischen Wahlbevölkerung im politischen Spektrum zu kontrastieren. Nur ein knappes Drittel der spanischen Wähler verortet sich heute wie vor 20 Jahren politisch in der engeren Mitte (31,8 Prozent). 38,4 Prozent der Wähler sehen sich im politischen Spektrum im Bereich Mitte-links bis nach linksaußen, nur 23,1 Prozent im Bereich Mitte-rechts bis nach rechtsaußen. Die spanische Gesellschaft verortet sich in Summe folglich eher links von der Mitte.
Die Zahl derjenigen, die sich selbst als linksextrem bezeichnen, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Analog hat sich die Zahl derjenigen erhöht, die sich als rechtsextrem einstufen. Aus dem zusätzlichen Befund, dass es gegenwärtig erheblich weniger Unentschiedene gibt, lässt sich schlussfolgern, dass sich die spanische Gesellschaft zunehmend politisiert hat (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Politisch-ideologische Selbstverortung der Spanier (stichprobenartig 2004 bis 2024, in Prozent)
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung „rechtsextrem“ in Spanien inhaltlich wenig deckungsgleich mit der deutschen Definition von Rechtsextremismus ist. Zudem ist die spanische Besonderheit zu beachten, dass sich viele regionalistische Wähler „automatisch“ als „links“ empfinden, weil sich die spanische Linke – im Unterschied zu vielen eher unitarisch-zentralistisch denkenden Sozialisten in Europa – als Befürworterin weitergehender Autonomierechte positioniert hat. Das hat seine historischen Gründe in der Opposition zum franquistischen Einheitsstaat.
Werben um die „stille Mehrheit“
Den großen Parteien PP und PSOE ist in Anbetracht dieser Zahlen bewusst, dass sie strategisch etwas Doppeltes schaffen müssen: Zum einen gilt es, ihrer jeweiligen Kernwählerschaft den Wunsch nach einer eindeutigen ideologischen Positionierung zu erfüllen, was eine für die Mitte typische „Sowohl-als-auch-Programmatik“ verhindert. Auf der anderen Seite müssen sie immerhin knapp 32 Prozent der Stimmberechtigten ansprechen, die sich in der engeren Mitte verorten. Man spricht von der „strategischen Zentralität“ oder von der „stillen Mehrheit“ der eher apolitischen Bürgerschaft, um die sich die PP und PSOE bemühen. Konkret pflegten sie traditionell in Wahlkämpfen und in der täglichen politischen Rhetorik eine dezidierte ideologische Links-rechts-Unterscheidung, zeigten sich jedoch in der Regierungspraxis eher moderat.
Wie komplex und auch riskant ein solcher Spagat ist, lässt sich an der PP aufzeigen. Ende 2011 definierte sich diese nach dem Erringen der absoluten Mehrheit bei den Parlamentswahlen als „reformistische Partei des Zentrums“. Zur Zeit dieser intendierten programmatischen Verschiebung der PP in die Mitte entstand ab 2013 die rechtspopulistische Partei Vox, de facto eine Abspaltung der PP. Vox erreichte zum Zeitpunkt der größten Schwäche der PP bei den Nationalwahlen im November 2019 ihre größte Stärke mit 52 von 350 Abgeordneten. Es war ein klares Signal des Protestes und der Ablehnung der Vox-Wähler von Mitte-Positionen und der empfundenen „Verwässerung“ von Haltungen zur Verfassungstreue, zur parlamentarischen Monarchie, zum Patriotismus, zur Familie etc. In diesem Fall war die Hinwendung zur engeren Mitte ab 2011 kein Schritt zu höheren Stimmenanteilen für die PP, sondern bereitete im Gegenteil den Weg für einen politischen Konkurrenten, der zumindest anfänglich „aus eigenem Fleische“ war, nämlich Vox.
Der gegenwärtige Parteivorsitzende Alberto Núñez Feijóo versucht, durch ein dezidiert moderates Auftreten und durch ein programmatisch versöhnendes Angebot an sehr unterschiedliche Milieus die „strategische Zentralität“ zu nutzen. Denn das Ergebnis der Nationalwahlen 2023 hat aufgezeigt, dass die PP ausschließlich mit der Wählerschaft rechts von der Mitte keine Mehrheiten für eine von ihr geführte Regierung erreichen wird. Mit dem Appell an Zentralität und Mäßigung möchte Feijóo auch eine Situation überwinden, für die er berechtigterweise die gegenwärtige Linksregierung und vor allem deren Chef Pedro Sánchez maßgeblich verantwortlich macht: die enorme Polarisierung der politischen Kultur. Feijóo bezeichnet die PP seit 2023 in diesem Sinne als „Mitte-rechts-gerichtete Reformpartei“.
Ausprägungen der Polarisierung
Interne wie externe Beobachter beschreiben eine stark gestiegene Polarisierung in Spanien. So richtig dieser Befund ist, so notwendig erscheint es, zwischen einer konstruktiven, die spanische Demokratie sogar stabilisierenden Polarisierung auf der einen Seite und einer autoritären, die politische Kultur beschädigenden, gar systemgefährdenden Polarisierung auf der anderen Seite zu differenzieren. Mehr noch muss in Spanien von Polarisierungen im Plural gesprochen werden.
Polarisierung durch Fragmentierung des Parlaments
In den Anfangsdekaden der jungen spanischen Demokratie bildete sich ein stabilisierendes Zweiparteiensystem heraus (bipartidismo). Das bedeutete nicht, dass es nur zwei Parteien gab. Im Gegenteil charakterisierte das spanische Parteiensystem seit jeher eine Vielzahl von Parteien. Aber die PP und die PSOE als faktische Volksparteien waren die mit Abstand größten politischen Kräfte, stellten seitdem immer, und gelegentlich alternierend, den Regierungschef und hatten kleine Partner an ihrer Seite. Es gab nicht die Mitte im engeren Sinne – die Wähler konnten zwischen dezidiert unterschiedlichen Alternativen wählen. Die Partner waren so klein, dass im Kern die Programmatik der Großen umgesetzt werden konnte.
Dieses alternierende System der Machtverteilung brachte nach der Finanzkrise 2008/2009 die Antisystem-Partei Podemos, bereits ab 2006 die liberale Ciudadanos und 2013 die rechtspopulistische Partei Vox hervor. Den Herausforderern Podemos und Ciudadanos gelang es in der Folge fast, die beiden etablierten Parteien PSOE respektive PP in Abgeordnetenmandaten zu überholen (sorpasso). So gewann Podemos bei den Neuwahlen 2016 mit 5,1 Millionen fast genauso viele Stimmen wie die traditionelle Arbeiterpartei PSOE, die 5,4 Millionen Stimmen erhielt. Ciudadanos holte im April 2019 nur 9 Mandate weniger (57 Sitze) als die PP (66). Mit diesem erhöhten Gewicht der neuen Parteien wurde das politische System instabiler. Seit 2015 gab es fünf Neuwahlen des Abgeordnetenhauses und des Senats mit seitdem relativ fragilen Minderheitsregierungen und einer Zersplitterung in bis zu 19 Parteien im Parlament. 2019 kamen PSOE und PP bei beiden Wahlen auf nur noch rund 11,8 Millionen Stimmen – weniger als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Die nationalistischen Regionalparteien waren aufgrund des sie begünstigenden Wahlsystems seit jeher im Parlament vertreten, steigerten jedoch aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse überproportional ihre Gestaltungs- oder eher Verhinderungsmacht. Politische Gruppierungen wie die linksextremistische baskische EH Bildu, eine Nachfolgeorganisation der Batasuna, des verbotenen politischen Arms der Terrororganisation ETA, profitierten von einer zunehmenden „Normalisierung“, gar Aufwertung insbesondere durch Pedro Sánchez. Gegenwärtig hängt die Minderheitsregierung Sánchez von der Nachfolgeorganisation von Podemos, der Wahlplattform Sumar, sowie von den vier nationalistisch-separatistischen Parteien des Baskenlands und Kataloniens ab. Diese können nun regionalistische Maximalforderungen wie die Amnestie verurteilter Aufrührer, Kompetenzübertragungen oder finanzielle Erleichterungen zulasten Gesamtspaniens durchsetzen.
Diese partiellen Territorialkonflikte verschärfen die Polarisierung in Spanien. Eine Art Koalition zwischen PSOE und PP ist derzeit undenkbar. Die existierenden Barrieren zu den Randparteien sind in vielen Fällen noch unüberwindbarer: So lehnen Podemos, EH Bildu, Esquerra Republicana, CUP und der Galizische Block jedwede aktive Zusammenarbeit mit der PP ab. Denn dies würde bei ihren eigenen Wählern einen vielleicht irreparablen Ansehensverlust bedeuten.
Pedro Sánchez sichert sein politisches Überleben maßgeblich durch Polarisierung. Bereits in seiner vergangenen Regierungszeit lehnte er grundsätzlich Vereinbarungen mit der gemäßigten PP ab und schloss diese bevorzugt mit Extremisten und Separatisten. Seine Wahlkämpfe waren rhetorisch und inhaltlich auf ein dichotomes „Wir“ oder „Die“ reduziert. Unter dem „Wir“ verstand er alle „progressiven“ Kräfte, also alle, die nicht PP oder Vox sind – unabhängig von ihren inhaltlichen Positionen. Unter dem „Die“ subsumierte er PP und Vox, die er grundsätzlich in einem Atemzug als die „Rechte und extreme Rechte“ bezeichnete, gegen die seine progressive Mehrheit einen Damm, gar eine „Mauer“ errichten müsse. Damit hat Sánchez die Hälfte der Spanier aus dem demokratischen Spektrum herausdefiniert.
Polarisierung aufgrund differierender wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Vorstellungen
Wirtschaftspolitisch sehen wir auch in Spanien die klassische Polarisierung zwischen der eher etatistisch orientierten Linken und der eher liberal orientierten Rechten. Es ist aber positiv zu konstatieren, dass insbesondere in den Autonomen Regionen (analog Bundesländer) sowohl die PP als auch die PSOE weniger ideologische, sondern stärker pragmatische Ansätze verfolgen.
Eine weitere, tiefere Schicht der Polarisierung dürfte ein fundamental unterschiedliches Welt-, Gesellschafts- und Familienbild zwischen den Lagern sein, das nur schwer mit Verhandlungen aufgelöst werden kann. Die Regierung Sánchez und insbesondere der Koalitionspartner Podemos beziehungsweise Sumar verabschiedeten gesellschaftspolitische Gesetze, die der Überzeugung folgten, dass Institutionen wie „die Parteien“, „die Familie“, „die Kirche“, aber auch der repräsentative Parlamentarismus im Kern undemokratisch seien. Ihrer Meinung nach unterdrücke „das System“ benachteiligte Kollektive („die Migranten“, „die Frauen“ usw.). Von diesen „Mächten“ müssten die betroffenen Kollektive durch die Politik emanzipiert werden, was durch den Vorrang sozialer Rechte vor den individuellen Bürgerrechten gelingen soll.
Beispiele für diese Haltung sind Gesetze, dass Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern abtreiben oder ihr Geschlecht umwandeln können. Aus dem Bildungssystem sollen die Eltern immer weiter herausgedrängt werden. Eltern wehren sich und kritisieren, dass staatliche Stellen zunehmend die Ideologie von Podemos, Sumar und der PSOE in den Unterricht transportierten.
Alle Maßnahmen dienen aus Sicht der Linken dem „Fortschritt“ und der „Modernisierung“ Spaniens. Die PP stemmt sich aus tiefer Überzeugung gegen diese Trends. Aus ihrer Sicht hat die Linksregierung die Gesellschaft eher gespalten. Man wolle als PP entgegen der Wahlkampfpolemik der Linken nicht zu alten Zuständen zurück, sondern Übertreibungen zurücknehmen und beispielsweise den kooperativen und nicht den konfrontativen Feminismus fördern. In jedem Fall ist die Gesellschaftspolitik eine weitere Quelle der Polarisierung.
Polarisierung als Ausdruck eines divergierenden Demokratieverständnisses
Seit Jahren konstatieren politische Beobachter eine Erosion der Institutionen in Spanien. Dazu zählt eine beispiellose Politisierung der Justiz, die in den jahrelangen, erst kürzlich beigelegten Konflikten um die Besetzungsverfahren am spanischen Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) und in der Obersten Justizbehörde, dem Generalrat der Judikative (Consejo General del Poder Judicial, CGPJ), zum Ausdruck kamen.
Hinter der Blockade stehen zunächst einmal handfeste politische Interessen. Wer an den Schalthebeln der Justiz sitzt, verfügt über eine höhere Umsetzungsmacht von politischen Entscheidungen. Die PP warf der PSOE das Unterlaufen der Gewaltenteilung vor, weil Sánchez systematisch politische Getreue in Spitzenpositionen öffentlicher Institutionen über die Justiz hinaus platziert. Umgekehrt lautete der Vorwurf der PSOE an die PP, die neuen Machtrealitäten nicht anerkennen sowie überkommene Machtstrukturen erhalten zu wollen.
Im Juni 2024 trat ein hoch umstrittenes Amnestiegesetz für noch strafverfolgte sowie bereits rechtskräftig verurteilte Rädelsführer des verfassungswidrigen katalanischen Unabhängigkeitsreferendums vom 1. Oktober 2017 in Kraft. Bis zu den Nationalwahlen am 23. Juli 2023 hatte Sánchez ein solches Gesetz stets ausgeschlossen, weil er dieses für verfassungswidrig hielt. Dieser Auffassung ist bis heute eine deutliche Mehrheit der Verfassungsexperten und der Richterschaft.
Jenseits aller juristischen Implikationen ist politisch relevant, dass hier die Justiz der Politik in mehrfacher Hinsicht unmittelbar unterworfen wird. Es handelt sich faktisch um einen Deal: Straffreiheit für Machterhalt. Konkret sicherte sich Sánchez die erforderlichen sieben Stimmen der katalanischen separatistischen Partei Junts per Catalunya für seine Wiederwahl, indem er das Recht speziell für deren Anführer und zu deren Gunsten änderte.
Die darauffolgende massive Kritik an diesem Unterlaufen der Gewaltenteilung und des Gleichheitsgrundsatzes aller Bürger vor dem Gesetz durch weite Teile der Gesellschaft und viele Berufsverbände tat Sánchez jedoch mit dem Argument ab, es handele sich lediglich um eine vermeintliche „faschistische Sphäre (fachosfera), die seine Regierung stürzen wolle“. Die Justiz fühlt sich diskreditiert. Dazu trägt die Intention von PSOE und Junts bei, sogenannte Kontrollkommissionen im Parlament einrichten zu wollen, die Urteile der Gerichte „überprüfen“ sollen. Dahinter steckt der Vorwurf des „Lawfare“.
Eine weitverbreitete kritische Berichterstattung über Korruptionsskandale im engsten politischen und gar familiären Umfeld von Sánchez führte zur Ausweitung seiner Grundsatzkritik auf die ihn kritisierenden Medien. Sánchez kündigte „Maßnahmen zum Erhalt der Demokratie“ an. Folgerichtig sieht man hierin einen Versuch der Einschüchterung und einen Angriff auf die Pressefreiheit. Wenig überraschend tragen diese Ereignisse erheblich zur Polarisierung bei. Hier gibt es nur ein Für oder ein Wider, aber keine mittlere, moderierende Position.
Diese Vorgänge und vor allem der Umgang mit ihnen offenbaren ein auseinanderdriftendes Demokratieverständnis. Sánchez und seine engsten Mitstreiter sehen sich als progressive Erneuerer der Demokratie, in der der Wille des Volkes unmittelbar wirksam werden müsse. Dieser dürfe nicht von überkommenen Machtstrukturen in Institutionen, die seit jeher vermeintlich von der „Rechten“ dominiert seien, in ihrem Fortschritt und ihrer Willensausübung behindert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die PSOE bisher auf nationaler Ebene insgesamt 27 Jahre regiert hat, die PP nur 14,5 Jahre und die Sozialisten folglich deutlich mehr Einfluss auf die Konfiguration des spanischen Politik- und Justizsystems ausgeübt haben als die PP. Diesen Sachverhalt kehrt Sánchez nun jedoch rhetorisch um, weil er keine klare Mehrheit besitzt. Zugespitzt formuliert müsse – so das linke Narrativ – die Demokratie „demokratisiert“ werden. Obgleich die vielen Wahlen 2023/2024 gerade den linken Parteien objektiv empfindliche Wahlniederlagen bescherten, postulieren die Wahlverlierer in Anspielung auf eine reine Addition aller Kräfte jenseits von PP und Vox eine „soziale Mehrheit“. Damit wird der vollständige Ausschluss der Parteien rechts der Mitte von politischen Entscheidungen legitimiert.
Was Sánchez als Verbesserung der Demokratie deklariert, halten seine Gegner diametral entgegengesetzt für eine massive Beschädigung der repräsentativen, auf Gewaltenteilung gründenden Demokratie Spaniens. Sie erkennen im Umgang mit dem Recht und in den Angriffen auf Justiz und Presse Anzeichen eines systemverändernden, schleichenden Autoritarismus. Für die PP und Vox ist die Verfassung von 1978 die Krönung der einigenden Transition im Übergang von der franquistischen Diktatur zur vollständigen Demokratie, die keinesfalls angetastet werden dürfe.
Es entwickelt sich demzufolge eine neue Polarisierung: repräsentative Demokratie versus eine an lateinamerikanischen bolivarischen Vorbildern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador orientierte „Populardemokratie“. Eine besorgniserregende Negativdynamik ist im Gange, die eine moderierende Mitte derzeit nicht zulässt.
Geopolitischer Kontext der Polarisierung
Dabei ist die Polarisierung in Spanien, wie auch in anderen EU-Staaten und weltweit, nicht nur durch innenpolitische Gründe bestimmt. So versucht Russland, Einfluss auch auf Spanien zu nehmen. Wladimir Putins konservativer und religiöser Ultranationalismus übt eine gewisse Anziehung auf links- und rechtsextreme sowie separatistische Bewegungen in Spanien aus.
Die linksaußenstehenden Parteien Sumar und Podemos haben den Stalinismus, der viele Millionen Opfer forderte, nie offiziell verurteilt. Sumar und Podemos zeigen zudem Verständnis für Putins Expansionskurs nach Westen als vermeintliche Gegenbewegung zur NATO, die sie ablehnen. Beide sind seit 2022 in der Lage, spanische Waffenlieferungen an die Ukraine dank ihrer Koalitionsbeteiligung relativ niedrig zu halten.
Die gerichtlichen Verhandlungen wegen des Vorwurfs des Landesverrats im Kontext des verfassungswidrigen Referendums in Katalonien vom 1. Oktober 2017 laufen noch. Unter anderem ist die Unterstützung Putins für den damaligen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont mittels Agenten sowie medialer Botschaften zu bewerten.
Bei der nationalkonservativen bis rechtspopulistischen Vox wiederum verfängt der Diskurs des religiösen und nationalistischen Patriotismus immer stärker. Nachdem sie vor kurzem ihren liberalen Flügel gekappt hat, driftet die nationale Parteiführung um Santiago Abascal immer weiter in Richtung eines ostwärts gerichteten Ultranationalismus ab, was sich im Europäischen Parlament in ihrer Abwendung von der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und der Hinwendung zu den identitären „Patrioten“ um Viktor Orbán zeigt.
Russische Trollfarmen in den sozialen Medien speisen ihre polarisierenden Botschaften in alle genannten Wählersektoren hinein. Zudem gibt es immer wieder Gerüchte und Ermittlungen zu vermeintlichen russischen Geldzahlungen an russlandfreundliche Randparteien und -medien in Spanien.
Polarisierung und Funktionalität des politischen Systems
Auf nationaler Ebene sind die Auswirkungen der multiplen Polarisierungen am stärksten wahrzunehmen – bis hin zu Reformblockaden. Der PP-Vorsitzende Feijóo hatte Pedro Sánchez mehrere sogenannte Staatspakte zur Territorialordnung, zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, zu den Außenbeziehungen Spaniens und so weiter angeboten. Doch solange Sánchez von der Polarisierung mehr profitiert als von einer Kooperation mit der größten Oppositionspartei, wird es dazu nicht kommen.
Die Regierung Sánchez hat aufgrund ihrer Heterogenität kein gemeinsames politisches Projekt jenseits der Leerformel progresismo (Fortschritt). Beispiele: Sánchez sagt auf den NATO-Gipfeln das Zwei-Prozent-Ziel zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit insbesondere Europas zu – sein Koalitionspartner Sumar ist dagegen. Die nationalistisch-separatistischen Regionalparteien verlangen Kompetenzübertragungen, Schuldenerlasse und weitere finanzielle Vorteile, was sogar PSOE-Vertreter aus den übrigen autonomen Regionen kritisieren, weil sie eine Ungleichbehandlung sehen. Wirtschafts- und sozialpolitisch trennen die linken und rechten Parteien, die die Regierung stützen, Welten. Ein Haushalt für das Jahr 2024 konnte wegen zu großer Differenzen nicht aufgestellt werden. Ob es einen neuen Haushalt für 2025 geben wird, ist ebenfalls noch unsicher.
Der Vorteil Spaniens liegt in seiner ausgeprägt föderal-autonomen Struktur. So werden die Blockaden auf nationaler Ebene durch handlungsfähige Regionalregierungen kompensiert. Auch die spanische öffentliche Verwaltung arbeitet gut. Den Provinzstädten gelingt es ungeachtet aller Probleme, Innovation, Digitalisierung und industrielle Entwicklung voranzutreiben. Das Land ist umweltpolitisch sehr aktiv, obwohl es keine dezidiert grüne Partei gibt.
Es ist auch nochmals daran zu erinnern, dass sich der Wähleranteil für die gemäßigten Volksparteien bei den jüngsten Nationalwahlen auf knapp 65 Prozent erhöht hat. Die extremen Parteien Sumar und Podemos auf der linken sowie Vox auf der rechten Seite haben signifikant verloren und kommen jeweils nur noch auf ein Drittel der Stimmen der großen Parteien. Die regionalen Parteien haben ebenfalls an Wählerrückhalt verloren. Ihr gegenwärtiger übermäßiger Einfluss auf die Politik ist auf die fragile Lage Sánchez’ zurückzuführen und dürfte deshalb nur vorübergehend sein. All diese Fakten stabilisieren Spanien in der erweiterten Mitte.
Und nicht jede Polarisierung ist nachteilig. Demokratie lebt vom Pluralismus der Konzepte und Meinungen. Eine konstruktive Polarisierung bietet dem Wähler Alternativen. Eine starke Opposition stärkt auch die Demokratie. Jede Ablehnung von Regierungsvorschlägen als „Polarisierung“ zu brandmarken, verletzt das Wesen jeglichen Parlamentarismus. Gefährlich wird die Polarisierung jedoch dort, wo sie so radikal ist, dass sie das gemeinsame Demokratieverständnis und die gemeinsame Verfassungsgrundlage verlässt.
Mehr Kooperation, weniger Spaltung?
In Spanien gibt es keinen vergleichbaren Drang in die politische Mitte wie in Deutschland. Aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen bekennt man sich offen dazu, links oder rechts zu sein. Die Kategorie „rechts“ in Spanien ist trotzdem noch weit entfernt von extremistischem oder gar faschistischem Denken gemäß den Kriterien des Bundesamtes für Verfassungsschutz, auch wenn im Blick zu behalten ist, inwiefern sich Vox durch die Annäherung an Viktor Orbán radikalisiert. Die PSOE ist (noch) vergleichbar mit der deutschen Sozialdemokratie. Dass die Anführerin der Kommunistischen Partei stellvertretende Regierungschefin sein kann, lässt sich mit dem Fehlen der Erfahrung einer kommunistischen Diktatur in Spanien erklären.
Die Mehrheit der spanischen Bevölkerung wünscht sich eine eindeutige Positionierung ihrer jeweiligen Parteien. Eine solche Klarheit könnte aus ihrer Sicht keine sogenannte „Mitte-Partei“ schaffen, bei der es zu viele vermeintliche „Sowohl-als-auch-Positionierungen“ zu zentralen Fragen wie beispielsweise mehr oder weniger Staat in Wirtschaft und Bildung, mehr oder weniger nationale Einheit oder mehr oder weniger Privatheit in Erziehungsfragen gäbe. Dennoch bemühen sich die großen Volksparteien vor Wahlen um die weltanschaulich nicht stark gebundenen, volatilen Wählergruppen im sogenannten strategischen Zentrum, um Mehrheiten zu erringen.
Eindeutige Positionierungen bedeuten in der Binnen- und auch Außenwahrnehmung eine stärkere Polarisierung der politischen Kultur. Bis zu einem gewissen Grad stabilisiert das Angebot echter Alternativen die spanische Demokratie. Wir erleben aktuell jedoch, dass insbesondere Ministerpräsident Pedro Sánchez die Polarisierungen als Mobilisierungsinstrument und politische Überlebensstrategie einsetzt. Sichtbarstes Zeichen dafür ist seine rigorose Ablehnung von Kompromissen mit der größten (Oppositions-)Partei im aktuellen Spanien, der Partido Popular.
Im Umkehrschluss besteht die Hoffnung, dass die gegenwärtige Verschärfung der Polarisierung möglicherweise temporär ist. Sobald Pedro Sánchez kein Regierungschef und PSOE-Vorsitzender mehr ist, kann es einen Weg zurück zu mehr Moderation und Kooperation zwischen den großen Parteien und damit im politischen Zentrum geben. Einen Grund für diesen optimistischen Ausblick bietet eine komparative Analyse der Wahlprogramme zu den Kommunal-, Regional- und Nationalwahlen 2023. Sie liefert den überraschenden Befund, dass insbesondere die Positionen der großen Parteien PP und PSOE hinsichtlich der „realen Probleme“ der Gesellschaft – etwa Arbeitsplätze, Inflation, Gesundheitswesen, Bildung, Gerechtigkeit, Umwelt oder Finanzen – in weiten Teilen durchaus kompatibel sind. Unbestreitbar propagiert die PP bevorzugt liberale Lösungen vor allem in der Wirtschaftspolitik, während die PSOE vorzugsweise auf die lenkende und aktive Rolle des Staates vertraut, um das unterstellte „Marktversagen“ zu korrigieren. Die PP setzt auf die Stärkung des Individuums in der Sozial-, Familien- und Bildungspolitik, die PSOE eher auf gemeinschaftliche Institutionen. Anders als in den Wahlprogrammen von Vox oder Podemos sind jedoch weder bei der PP noch bei PSOE extreme, unversöhnliche Politikansätze enthalten. Koalitionen oder zumindest punktuelle Vereinbarungen (pactos) wären durchaus möglich.
Die Besetzung der Mitte ist kein politisches Ziel der spanischen Parteien. Gleichwohl ist es Spanien gelungen, mit einem markanten, strukturell moderat polarisierenden erweiterten Zweiparteiensystem eine stabile Demokratie aufzubauen. Fast gegenläufig zum europäischen Gesamttrend verlieren in Spanien in Wahlen extreme Kräfte im linken, rechten und separatistischen Spektrum an Rückhalt in der Bevölkerung. Es gilt zu beobachten, ob und welche langfristigen Folgen die negative Polarisierung durch die Regierung Sánchez für die Demokratie zeitigen wird.
Dr. Ludger Gruber ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für Spanien und Portugal mit Sitz in Madrid.
Martin Friedek ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung für Spanien und Portugal.
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