Ausgabe: 1/2017
Nach dem Abschluss einer regulären Legislaturperiode haben die Marokkaner am 7. Oktober 2016 die Sitze in der ersten Kammer des Parla-ments neu verteilt. Als Vorsitzender der moderat-islamistischen PJD, die wiederum die meisten Sitze erringen konnte, erhielt daraufhin verfassungsgemäß der bisherige Regierungschef, Abdelilah Benkirane, von König Mohammed VI. den Auftrag, erneut eine Regierung zu bilden.
Über mehr als fünf Monate hinweg versuchte Benkirane in zähen Koalitionsverhandlungen vergeblich, diesem Auftrag gerecht zu werden. Die Auseinandersetzungen kreisten vor allem um die herauszuhebende Stellung, die der liberale RNI forderte, und um die Marginalisierung der nationalkonservativen Istiqlal, die Benkirane gerne in die neue Regierung aufgenommen hätte. Jedoch hatte sich die Istiqlal weitgehend selber durch eine Bemerkung ihres Vorsitzenden, Hamid Chabat, diskreditiert, nachdem dieser am 26. Dezember öffentlich erklärt und damit quasi eine Staatskrise ausgelöst hatte, dass nicht nur die „Südprovinzen“ (Westsahara), sondern auch Mauretanien zu Marokko gehöre. Als daraufhin der Vorsitzende des RNI und Milliardär, Aziz Akhannouche, Benkirane zudem das Ultimatum stellte, entweder zusammen mit den beiden liberalen Reformparteien MP und UC sowie der sozialdemokratischen USFP eine Regierung unter Ausschluss der Istiqlal zu bilden oder ganz von einer Bildung Abstand zu nehmen, galten die Verhandlungen endgültig als gescheitert.
Den Höhepunkt dieser Krise bildete für Benkirane schließlich die Entscheidung des Königs, das neue Parlament auch ohne eine Regierung zur Wahl eines Präsidenten aufzufordern, um handlungsfähig zu sein. Somit konnte am 13. Jan-uar 2017 (bei Stimmenthaltung der PJD) Habib El Malki von der USFP zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt werden. Dies kann als eine äußerst pragmatische Lösung angesehen werden; für viele Beobachter war es jedoch zugleich ein Coup d’État gegen den Wählerwillen.
Das Ende dieser Krise brachte am 17. März die Entscheidung des Königs, Benkirane den Auftrag zur Regierungsbildung wieder zu entziehen, um diesen wenige Tage später Saad-Eddine Othmani zu übertragen. Zwar soll dieser Auftrag an Othmani, der ebenfalls der PJD angehört und 2012 bis 2013 erster Außenminister der Regierung Benkirane war, mit einer Frist von zwei Wochen verknüpft gewesen sein; doch dank seiner straff geführten Koalitionsverhandlungen gelang es Othmani, diese innerhalb von zehn Tagen zum Abschluss zu bringen. Die neue Koalitionsregierung, die am 5. April eingesetzt werden konnte, wurde gebildet aus PJD, RNI, UC, MP, PPS und USFP. Obwohl die Zahl der Ministerposten reduziert wurde, wurde der Frauenanteil von vier auf neun erhöht – der höchste in der marokkanischen Geschichte.
Auf dem Weg zur Demokratie?
Regelmäßige Wahlen sind in Marokko keine Neuigkeit. Sie wurden erstmals 1963 und seit 1993 im gleichbleibenden Abstand von etwa fünf Jahren durchgeführt. Der Wahltermin wird jeweils vom Innenminister festgesetzt.
Mit der neuen Verfassung von 2011 erhielten die Wahlen eine neue Qualität. Erstmals wurde das Grundprinzip der Gewaltenteilung anerkannt, der parlamentarischen Opposition kommen innerhalb der Parlamentsarbeit festgeschriebene Aufgaben zu und sie kann beanspruchen, dass ihre Gegenvorschläge im Parlament diskutiert und publik gemacht werden. Die Arbeit der Parteien und des Parlaments sowie die Transparenz der Gerichtsbarkeit sollen demokratischen Standards gerecht werden. Insbesondere verpflichtete sich der König in Artikel 47, den jeweiligen „Regierungschef“ aus den Reihen derjenigen Partei zu berufen, die mit den meisten Stimmen aus demokratischen Wahlen hervorgegangen ist. Er selber bleibt zwar „Behüter der Gläubigen“, gilt aber nicht mehr wie zuvor als „heilig“, sondern lediglich als „unantastbar“. Insbesondere in Religionsfragen, aber ebenso in der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und nicht selten auch in anderen Politikbereichen gilt sein Wort als nicht diskutierbar.
Die in der Ersten Kammer des marokkanischen Parlaments vertretenen Parteien
- PJD Parti de la Justice et de Développement (moderat-islamistisch, gilt als weitgehend korruptionsfrei) gegr. 1998
- PAM Parti Authenticité et Modernité (Reformpartei auf Initiative des Kronrats, technokratisch und tendenziell säkular) gegr. 2007
- PI Parti Istiqlal (national-konservativ) Unabhängigkeitspartei gegr. 1956
- RNI Rassemblement National des Indépendants (sozial-liberal) gegr. 1978
- MP Mouvement Populaire (liberal-konservativ) Volksbewegung von 1957
- USFP Union Socialiste des Forces Populaires (sozialdemokratisch) gegr. 1975
- UC L’Union Constitutionnelle (Reformpartei, liberal) gegr. 1983
- PPS Parti du Progrès et du Socialisme (ältere kommunistische Partei) gegr. 1974
- MDS Mouvement Démocratique et Social (liberal, sozialistisch) gegr. 1996
- FGD Fédération de la Gauche Démocratique (progressiv, sozialistisch) gegr. 2016
- PGV Parti de la Gauche Verte (grün, sozialistisch) gegr. 2015
Was allerdings mit Blick auf die Wahlen noch keineswegs in den anscheinend so demokratisch gewordenen Rahmen passen will, ist die ausgesprochen mäßige Begeisterung der Marokkaner, überhaupt zur Wahl zu gehen. Mangels ernsthafter Bemühungen des Staates hat sich die Wahlbeteiligung im Vergleich zur steigenden Zahl der Wahlberechtigten seit den ersten Wahlen 1963 kaum verbessert. Marokkaner, die im Ausland leben, in der Armee oder bei den Ordnungskräften dienen, sowie Gefängnisinsassen dürfen gar nicht wählen. Bei der Wahl im Oktober 2016 waren 28,3 Millionen Marokkaner wahlberechtigt und davon 21,5 Millionen registriert, doch lediglich 6,75 Millionen haben tatsächlich gewählt. In dem Dorf Agouray im Hohen Atlas hat z.B. trotz aller Vorkehrungen kein einziger Bürger gewählt. Neben dem praktischen Problem, dass die Wahl letztlich nur am Ort der Registrierung möglich ist, offenbart dies ein geringes Vertrauen in das Handeln der Politiker sowie eine Grundhaltung, die dem König nahezu alles, aber der Demokratie nur sehr wenig zutraut.
Die PJD, das Parlament und der König
Im Vergleich zur Herrschaft Hassans II. (1961 bis 1999), als Regierungen noch in einer Sitzung unter Leitung des Königs gebildet wurden, haben die Parteien deutlich an Profil gewonnen. Dennoch ist das politische System bis heute nach wie vor von den Einflüssen des Makhzen (d.h. Kronrat einschließlich aller traditionellen politischen Kontrollinstanzen) geprägt. Dahinter treten auch parteipolitische Interessen zurück. Dennoch ist seit 1963 die Parteienentwicklung vor allem von politischer Lagerbildung geprägt. Das ältere Lager bilden die Parteien der Koutla (die Staatsgründungspartei Istiqlal und die beiden sozialistischen Parteien USFP und PPS). Das jüngere Lager besteht aus den sogenannten administrativen Parteien (vor allem MP, RNI, UC und jetzt PAM), denen es vor allem um feste Strukturen und Institutionenbildung geht. Die Islamisten bilden mit der PJD seit 1998 ein eigenes Lager. Das Verhältnis jeder der Parteien zur Krone ist einem ständigen Wandel unterworfen und letztlich stark von den jeweiligen Repräsentanten abhängig.
Der parteipolitische Alltag ist kaum von ideologischen, sondern von pragmatischen Interessen geprägt. Höhere Beamte dürfen keine Parteimitglieder sein. Auch Parteiprogramme haben nur selten eine richtungweisende Funktion, nicht einmal für die beiden großen Parteien PJD und PAM. Im Unterschied zur PAM, die erst 2008 gegründet wurde, hatte die PJD schon in den 1990er Jahren um eine Zulassung zu den Wahlen gekämpft. Erstmals zur Wahl antreten durfte sie 2002 und erreichte 42 (von 325) Sitze. Sie musste zahlreiche Hürden überwinden, bevor sie 2011 erstmals den Spitzenplatz einnehmen und damit die Regierung bilden konnte. Demgegenüber erscheint der Weg der PAM nahezu wie ein ausgerollter Teppich, da sie sich von Anfang an der Unterstützung des Kronrats sicher sein konnte, von dessen maßgeblichem Sprecher, Fouad El Himma, sie als Gegenpol zur PJD gegründet worden war. Während die PJD sich mühsam darauf beruft, durch tiefe und weit verzweigte Wurzeln eng mit dem Alltag und dem Leben aller Marokkaner verbunden zu sein, ist die PAM vom Tag ihrer Entstehung an mit dem Anspruch einer zukunftsorientierten Kraft angetreten.
Bereits 2011, jedoch mehr noch 2016 präsentierte sich die PJD immer weniger religiös, sondern vielmehr pragmatisch und kompromissbereit. Ihr Vorbild war anfangs die türkische AKP, deren Erfolg seinerzeit ebenfalls maßgeblich auf dem sozialen Engagement ihrer Mitglieder basierte. Bei den Wahlen von 2011 lag die Zahl der Stimmen für die PJD nominell bei 1,3 Millionen, was in etwa der Zahl ihrer Mitglieder (einschließlich deren Familien) entspricht. Mehr als jede andere Partei hat die PJD eine starke Stammwählerschaft, die sie auch 2016 wieder an die Urne bringen konnte. Bei all dem ist jedoch umstritten, inwiefern die PJD primär die politischen Interessen des Landes als Ganzes vertritt oder die der Religion. Dies spiegelt sich etwa in der Frage nach ihrer Bildungspolitik: Drängt die Partei überhaupt in dieses Vakuum? Oder überlässt sie es den traditionell-islamischen Klerikern, der Ulema? Umstritten ist ferner, welche Rolle sie innerhalb der Organisation internationale des frères musulmans spielt, deren Mitglied sie ist und die vor allem von Katar und dem türkischen Staat unterstützt wird. Benkirane steckte stets in einem Dilemma, da er aktuell mit den Erwartungen der Muslimbruderschaft konfrontiert ist, deren Ziele er in der Vergangenheit selber mit formuliert und vertreten hat.
Was die PJD von Beginn an brillant und besser als jede andere Partei zu beherrschen verstand, waren die sozialen Medien sowie eine intelligente und effiziente Kommunikationsstrategie. Zudem erinnerte ihr Vorsitzender Benkirane bei seinen Wahlkampfreden nach wie vor an seinen ursprünglich kämpferischen Islamismus aus den 1990er Jahren. Seine Art der stets volksnahen und meist umgangssprachlichen öffentlichen Rede beherrscht in dieser Form außer ihm nur der Istiqlal-Vorsitzende Hamid Chabat, den Benkirane vergeblich in die Regierungsbildung zu integrieren versuchte. Zwar tritt er auch heute noch als glänzender Redner auf, jedoch gelten seine Reden zunehmend als erratisch und unberechenbar. Bevor er 1998 zu den Gründern der PJD gehörte, hatte er 1996 bereits den MUR (Mouvement Unicité et Réforme) ins Leben gerufen, der nicht als Partei antritt, sondern bis heute eine Art ideologische Kaderschmiede der PJD bildet. Der MUR hat für die PJD eine Ventilfunktion, indem er islamistische Gesinnung absorbiert, bevor diese der PJD gefährlich wird.
Persönlich verkörpert Benkirane inzwischen eine Instanz, die bei der Durchsetzung politischer Interessen nicht immer primär als Repräsentant der PJD in Erscheinung tritt, sondern sich ihrerseits des Apparats der PJD zu bedienen versteht. Als der König ihn im November 2011 zum ersten „islamistischen“ Regierungschef Marokkos ernannte, erschien dies vielen als ein unkalkulierbarer, akrobatischer Akt: ein Islamist als Chef der Exekutive unter einem König, der auch in der neuen Verfassung weiterhin als „Behüter der Gläubigen“ verankert ist – eine beispiellose Verbindung (cohabitation inédite), so titelten mehrere Zeitungen. In der Folgezeit arbeitete Benkirane jedoch stets alle Aufträge seines Chefs (patron), wie er selber den König einmal genannt hat, pünktlich und regelmäßig ab, und zwar auch dann, wenn sie so unpopulär waren wie die Anhebung des Renteneintrittsalters von 60 auf 63 Jahre oder die Strukturreform der Subventionskasse.
Was der PJD als erste Partei Marokkos gelungen ist, ist das systematische und rigorose Eintreiben von Mitgliedsbeiträgen. Zahlen muss vor allem jeder, der ein Amt bekommt, und das kann für Minister bis zu 20 Prozent ihres monatlichen Einkommens ausmachen. Selbst Studenten und Arbeitslose müssen fünf Euro pro Jahr zahlen. Entsprechend gut funktioniert die Parteimaschinerie. Alle Mitglieder sind „Brüder“, denn der gemeinsame Referenzrahmen ist die Religion. Was den Umgang mit der Macht und den selbstverständlichen Vorrang aller „nationalen Belange“ betrifft, hat sich die PJD bereits völlig „normalisiert“. Benkirane ist seit Langem zum „Staatsmann“ mutiert, zum Meister des politischen „Engineering“ und alleinigen Dirigenten der PJD. Er beherrschte die ursprüngliche, ideologische Klaviatur der PJD und verstand es gleichzeitig, diese mit anderen, modernen Instrumenten in Einklang zu bringen. Wenn sein Nachfolger Othmani innerhalb von zehn Tagen schaffen konnte, was Benkirane in mehr als fünf Monaten nicht gelang, dann allein durch eine neue, deutlich erweiterte Bereitschaft zum Kompromiss, der zum einen in der Einbindung der USFP bestand und zum anderen in der Akzeptanz der dominanten Rolle des Vorsitzenden der RNI, Aziz Akhannouche. Othmani steht somit vor zwei großen Aufgaben: Er muss sowohl die PJD erneut als einen zuverlässigen Partner des Palastes positionieren als auch gleichzeitig eine Spaltung der PJD verhindern.
Die PAM – eine zweite neue „Volkspartei“?
Wenn es im Hinblick auf die Anhängerschaft überhaupt jemals eine Volkspartei in Marokko gegeben hat, dann ist es seit 2002 die PJD. Seit den Wahlen im Oktober 2016 scheint sich jedoch mit der PAM eine zweite herausgebildet zu haben. Theoretisch könnte jede der beiden ei ne Regierungsbildung anstreben. Der Referenzrahmen der PJD ist der Islam, der der PAM ein latenter, pragmatischer Anti-Islamismus, letztlich aber die Nähe zur Krone.
Offensichtlich schafft es die „Authentizität und Modernität“ beanspruchende PAM zunehmend, eine Mehrheit der Bevölkerung für ihre latent säkulare Politik zu gewinnen. Die Partei ist seit einigen Jahren vollauf damit beschäftigt, sich ein programmatisches Profil zu verschaffen, das es ihr ermöglicht, den Islamisten etwas entgegenzusetzen. Lediglich anti-islamistisch zu sein wäre nicht nur zu wenig, sondern auch zu gefährlich. Die PAM ist mit dem Anspruch angetreten, die PJD durch pragmatische und effiziente politische Lösungen zu überholen. Zudem steht sie für das letztlich überaus anspruchsvolle Ziel einer konstitutionellen Monarchie als Teil eines Rechtsstaates. Nur in einem Punkt stimmen beide Parteien überein, nämlich dem, dass sie nicht bereit sind, miteinander zu reden und über die Option einer „großen Koalition“ nur ansatzweise nachzudenken.
Als der König in seiner Rede vor beiden Kammern des Parlaments am 14. Oktober 2016 das Mehrparteiensystem in Marokko verteidigte, schien dies zwar an die Adresse aller Parteien gerichtet zu sein, bedeutete faktisch aber vor allem eine Unterstützung für die PAM. Die ersten Parteien seien aus dem Unabhängigkeitskampf Mitte der 1950er Jahre unter Mohammed V. (seinem Großvater) hervorgegangen, an dem sich seinerzeit alle Gruppen der Bevölkerung beteiligt hätten, so der König. Viele Anpassungen, die vor allem auf der Grundlage der Verfassung von 2011 erforderlich gewesen seien, hätten bislang umgesetzt werden können. Allerdings müssten insbesondere die Parteien, das Parlament und die Gewerkschaften noch mehr Anstrengungen unternehmen, auf allen politischen Ebenen den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht zu werden. Die administrativen Strukturen müssten in einer Weise verbessert und modernisiert werden, dass sie auf die Probleme und Sorgen der Bürger angemessen reagieren können. Als besonders dringend hob der König einen Mentalitätswandel und eine bessere Ausbildung der Staatsdiener hervor, um den heutigen Aufgaben (namentlich E-Government) gewachsen zu sein. Ebenso habe er die Bekämpfung der Korruption auf allen Ebenen zur Bedingung dafür gemacht, dass mehr Macht übertragen werden könne. In diesem Sinne sei ein effizienter und funktionierender Verwaltungsapparat die Voraussetzung dafür, dass dem allgemeinen Interesse an einer fortschreitenden Dezentralisierung entsprochen werden könne.
Die Reaktionen auf diese Rede dominierten tagelang sämtliche Medien: Der König habe den Amts- und Mandatsträgern eine „Ohrfeige“ gegeben, urteilte L’Economiste. Er habe deutlicher denn je darauf bestanden, dass die öffentliche Verwaltung in Marokko bei Weitem zu groß, zu inkompetent und zu rückständig sei. Die Konsequenz hieraus müsse eine Neuorganisation des gesamten öffentlichen Dienstes sein, und dies sei nunmehr die erste und oberste Aufgabe der neuen Legislaturperiode. Vor allem PAM-Anhänger spendeten Beifall.
Die Thronrede vom 14. Oktober 2016 spiegelt die fortbestehende Polarität von monarchischer Legitimität und demokratischer Legalität wider, die seit der Thronübernahme durch Mohamed VI. 1999 zunehmend die Politik in Marokko kennzeichnet. Der Reformprozess der vergangenen zehn Jahre lässt erkennen, dass der König eine langfristig verstandene Transformation hin zu einer parlamentarischen Monarchie anstrebt. Stabilität ist dabei kein Selbstzweck, und die Wahl der Mittel, mit denen er den Charakter und das Tempo dieser Transformation steuert, wird flexibel bleiben. Sollte die PJD weiterhin hinter den Erwartungen zurückbleiben, könnte bei den nächsten Wahlen der Stimmenanteil der PAM durchaus noch zunehmen.
Sind die Islamisten „moderat“?
Es kennzeichnet den politischen Diskurs in Marokko, dass große Teile der Gesellschaft diesen Balanceakt zwischen monarchischen Zielsetzungen und parlamentarischer Willensbildung für konstruktiv halten. Sie engagieren sich für eine demokratische Weiterentwicklung des Landes, ohne dabei die zentralen monarchischen Vorgaben in Zweifel zu ziehen. Für sie garantiert die Krone sowohl Stabilität als auch äußere und innere Sicherheit.
Dies gilt auch für die Vertreter der immer wieder als „moderat“ bezeichneten PJD. Seit der Formierung dieser Partei 1998 ging es ihren Repräsentanten mehr um Politik als um Religion. Sie haben von Beginn an akzeptiert, dass die Partei sich nicht „islamistisch“ nennen, sondern nur „mit Bezug zu islamischen Werten“ zur Wahl antreten darf. Ihre treibende Motivation war es, Religion und Politik auf eine neue, sozial gerechte und im Prinzip demokratische Weise miteinander zu verbinden. Nach dem Vorbild der ursprünglichen AKP in der Türkei und in deutlichem Gegensatz zu den Salafisten geht es ihnen heute um die Verwirklichung islamischer Wertvorstellungen im Rahmen eines modernen Rechtsstaates und mithilfe einer demokratisch legitimierten Partei. Bevor sich jedoch dieses Profil der PJD herausbilden konnte, hatten sich seit den 1970er Jahren in großer Zahl islamistische Gruppen und Organisationen gebildet, die dann entweder wieder aufgelöst oder verboten wurden, deren Akteure sich später jedoch vielfach der PJD anschlossen, um gewissermaßen „den Weg durch die Institutionen“ zu gehen. Sie geben sich heute überwiegend ein konservatives, teilweise aber auch sozialistisches oder liberales Image. Faktisch verdankte die PJD ihren Erfolg bei den beiden Parlamentswahlen 2011 und 2016 ihren zahlreichen Versprechen, religiöse Werte in Politik umzusetzen. Geprägt von den Zielen einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, beansprucht sie, auch in den übrigen Politikfeldern die nötige Handlungskompetenz aufzuweisen.
Die vergangenen fünf Jahre haben gezeigt, dass es der PJD nicht um eine Politisierung der Religion ging, sondern eher umgekehrt. Ihr moralischer Konservatismus sollte politikfähig werden, und das bedeutete von Beginn an auch eine Auseinandersetzung mit dem säkularen Alltag der bereits erreichten Demokratisierung im Land. Der Unterschied in der Bedeutung, die den religiösen Themen im Wahlkampf und nach der Wahl zukam, ist frappant. Zugleich hat sich die nationalistische Ausrichtung ihrer Politik nach der Regierungsbildung im Januar 2012 noch einmal deutlich verstärkt. Die konkreten Erfolge, welche die PJD aus der vergangenen Legislaturperiode vorweisen kann, sind bescheiden. Die meisten der vielen Durchführungsgesetze, die in Angriff genommen worden sind, stehen weiterhin auf der parlamentarischen Agenda. Die Partei hat sich der Stabilität der bestehenden politischen Strukturen angepasst und sich erfolgreich integriert.
Dass dieses System letztlich jedoch ein säkulares ist, bedeutet zugleich eine Säkularisierung des politischen Islam und einen Primat des Politischen vor der Religion. Zum Beispiel macht sich kein führendes Parteimitglied die Forderung nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe zu eigen, wie sie – insbesondere auf Apostasie – nicht nur von Salafisten, sondern auch von Teilen der Ulema erhoben wird. Das Verhältnis der Macht zwischen Krone und Regierungschef wird fortwährend auf die Probe gestellt. Was im Sinne der Verfassung unter Säkularismus und garantierten individuellen Freiheitsrechten zu verstehen ist, interessiert offenbar allenfalls eine kleine intellektuelle Elite. Doch auch für die PJD gehören Demokratie und Anerkennung von Menschenrechten zu ihrem Verständnis von politischer Teilhabe.
Gegenüber den etablierten Machtverhältnissen der marokkanischen Monarchie hat die „moderate“ PJD – trotz ihrer Regierungsverantwortung – keinerlei Veränderungen durchzusetzen versucht, die elementare politische Strukturen in Frage gestellt hätten. Schließlich ist sie nicht gegen die Monarchie an die Macht gekommen, sondern dank der Reformpolitik des Königs. Der sinnfällige Satz Benkiranes „L’Etat c’est le Roi“ hat weniger resignativen als vielmehr affirmativen Charakter. Die PJD tritt faktisch nicht als Sprachrohr der Religion gegen die Politik auf, sondern als Player, der auch in Zukunft auf der Bühne der Macht mitspielen möchte.
Es ist jedoch weiterhin der Makhzen, der etablierte Macht- und Kontrollapparat des Königs, der über die Fortführung der Reformpolitik entscheidet. Was dies für die Zukunft der PJD bedeutet, lässt sich nur schwer abschätzen. Die Partei wird aktuell von vielen Seiten kritisiert, selbst von den Gewerkschaften. Einige Beobachter gehen davon aus, dass die PJD in den vergangenen fünf Jahren ihre Chance gehabt und nun ihre „Schuldigkeit getan“ hat.
Der König als „Schiedsrichter“
Das schwierigste Konfliktfeld, auf dem sich Benkirane in den vergangenen zwei Jahren bewegen musste, war die notwendige Abstimmung mit der Krone in Bezug auf religiöse Fragen, denn was den Zusammenhalt des Islam in Marokko und seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten betrifft, kommt dem König auch weiterhin eine Schlüsselstellung zu. Seit der Machtübernahme durch die Dynastie der Alaouiten 1631 legitimieren sich die marokkanischen Könige bis heute als Cherifen. Dies bedeutet, dass sie sich auf ihre Abstammung von Hassan, dem Sohn der Prophetentochter Fatima, und damit auf eine direkte Erbfolge berufen können. Hieraus wiederum leitet sich der Titel Amir Al Mouminine ab – „Behüter der Gläubigen“. Heute ist dieser Titel in Artikel 41 der neuen marokkanischen Verfassung verankert und gibt dem König das Recht, in allen religiösen Angelegenheiten per Dekret (Dahir) prärogativ und letztgültig zu entscheiden. Öffentlich kritisiert wurde dieser Rechtsanspruch bisher lediglich von der Bewegung Al Adl, die bei den täglichen Demonstrationen 2010/11 eine dominante Rolle spielte und durchaus noch ein Comeback haben könnte.
Mit der Rückversicherung als „Behüter der Gläubigen“ kontrolliert der König nicht nur die Imamausbildung, den Koranunterricht oder die Freitags- und Fastenpredigten. Er scheint nicht selten der einzige zu sein, der Politik noch zu gestalten vermag. Die neue Verfassung hat ohne Zweifel eine weitere Demokratisierung des Landes auf den Weg gebracht. Sie ist die umfassendste demokratische Verfassung in der Geschichte Marokkos. Sie anerkennt das Prinzip der Gewaltenteilung, garantiert wesentliche Grund- und Freiheitsrechte, stärkt sowohl die Rechte der Regierung als auch der parlamentarischen Opposition und erstreckt sich auf alle Kernbereiche der politischen Ordnung. Die Prärogativen des Königs betreffen in der Regel die Bereiche Religion, Außen- und Sicherheitspolitik sowie politisch-strategische Richtungsentscheidungen. Der König herrscht jedoch nicht nur, er regiert auch und greift unmittelbar in die Entscheidungen der Exekutive ein. Die Wochenzeitung Telquel prägte seinerzeit den Begriff einer monarchie exécutive: Der König sei nicht nur Schiedsrichter, sondern auch Mitspieler, und er gewinne in der Regel immer.
Wichtig für die Islampolitik des Königs ist dessen direkte Kontrolle über das Dar al-Hadith al-Hassaniya, ein weit über Marokko hinaus angesehenes Forschungsinstitut für religiöse Studien. Hassan II. hatte es in Rabat errichten lassen, nicht zuletzt als Gegengewicht zu den traditionell unabhängigen universitären Islamstudien insbesondere in Fés. Darüber hinaus unterstehen dem König als Vorsitzendem die Rabita Mohammedia des Oulemas, eine Art theologischer Think-Tank, und der Majliss Al Ilmi, ein Schulungszentrum für die Ulema aus ganz Marokko, die beide in Rabat angesiedelt sind. Besonders umstritten war in letzter Zeit die Wiedereröffnung der Koranschulen des Salafisten El Maghraoui in Marrakesch durch das Innenministerium. Da dieser – im Unterschied zu 2011 – auch keine Wahlempfehlung für die PJD ausgesprochen hatte, reihte auch die Partei sich in den öffentlichen Protest ein.
Politischer Islam auf dem Weg in die Moderne?
Ebenso wie in anderen islamisch geprägten Staaten wird auch in der Präambel der marokkanischen Verfassung sowie in mehreren der sich dieser anschließenden Artikel der Anspruch geltend gemacht, die Staatsreligion des Landes sei der Islam. Zum einen hat diese Festlegung die Funktion, die Entscheidungshoheit in religiösen Angelegenheiten der jeweiligen Regierung zu entziehen, um sie ausschließlich der Souveränität der Krone zu überlassen. Zum anderen schließt sie keineswegs aus, dass Fragen der Religion und der Politik voneinander getrennt werden können. Zwar wird bereits in der Präambel der Verfassung der marokkanische Staat als ein „muslimischer“ festgeschrieben, aber zugleich auch als ein Rechtsstaat, der auf den Prinzipien Partizipation, Pluralismus und gute Regierungsführung aufgebaut ist.
Zudem werden bereits in der Präambel – ebenso wie in mehreren der nachfolgenden Artikel – die Menschenrechte als unteilbar und universell anerkannt. In ihrer alltäglichen Politik sieht sich die islamistische Regierung heute mit den gleichen Problemen konfrontiert, wie es für jede andere Regierung auch der Fall wäre. Der faktische Säkularismus, der nicht nur große Teile des Alltags, sondern auch die politische Kultur Marokkos seit Langem prägt und Erwartungen der Bürger an eine fortschreitende Demokratisierung bestärkt, setzt allen islamistischen Ambitionen Grenzen. Sowohl in der Außen- und Europapolitik als auch in der Wirtschafts- und Energiepolitik sind zahlreiche Weichen so gestellt, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung sie nicht zurückgestellt sehen möchte.
Zwar ist bis heute sowohl das öffentliche als auch das private Leben in Marokko sehr stark vom Islam geprägt, und alles, was sich säkular nennt, hat für die meisten nach wie vor einen negativen, unangenehmen Beiklang. Doch auch in Marokko ist der Säkularismus allgegenwärtig. Ohne säkulare Strukturen wären der politische und wirtschaftliche Fortschritt des Landes und dessen Integration in die Weltwirtschaft nicht in gleicher Weise möglich. Religiöser Fundamentalismus, der diese Integration rückgängig machen wollte, ist nicht mehrheitsfähig. Grund- und Menschenrechte, ein Verbot der Diskriminierung sowie die Gleichstellung von Mann und Frau auf der Grundlage einer säkularen Gesellschaftsordnung finden sic h nicht erst in der Verfassung von 2011, sondern bereits in deren Vorläuferversionen. Und schließlich gilt die Mehrheitskultur der Berber bis heute als stärker von individualistischen und damit auch pluralistischen Elementen geprägt als von orthodox-religiösen.
Ob es in den arabischen Staaten Nordafrikas „moderne“, demokratische und das heißt letztlich vor allem pluralistische politische Regierungsformen ohne eine säkulare Grundstruktur geben kann, ist vermutlich eine der Schlüsselfragen des politischen Islam in der gesamten Region. Dabei gilt es, das Verhältnis von Politik und Religion in jedem Staat und jeder Region entsprechend den historischen Gegebenheiten und aktuellen Rahmenbedingungen spezifisch zu bewerten. In Marokko lässt sich sehr rasch der Eindruck gewinnen, ein starker Einfluss des Islam im gesellschaftlichen Bereich sei auch mit einem entsprechenden Einfluss in der Politik in Einklang zu bringen. Hierfür scheinen vor allem drei positive Voraussetzungen gegeben zu sein: Erstens gibt es eine starke Zivilgesellschaft, die von sozialem Engagement und vitalen Gemeinschaftsbildungen gekennzeichnet ist, zweitens lässt sich ein verbreitetes Verlangen nach Freiheitsrechten sowie einer Verbesserung der Lebensverhältnisse erkennen und drittens zeigt sich insbesondere in der Wirtschaft Offenheit für die Herausforderungen der Globalisierung.
Gleichzeitig werden Diskurse über religiöse Themen auf allen Ebenen der marokkanischen Gesellschaft geführt. Dies gilt nicht nur für Protestbewegungen, sondern auch für breite Kreise der gebildeten Elite des Landes, die vielfach mit den Demonstranten sympathisieren, hierfür aber nicht auf die Straße gehen würden. Zwar sind große Teile dieser Bewegung religiös motiviert, aber nicht gewaltbereit. Deren Motivation speist sich nicht aus religiösem Fundamentalismus, wohl aber aus dem Bedürfnis nach religiöser Selbstbestimmung und der Forderung nach partizipativer Demokratie. Hierbei handelt es sich sowohl um ein Zeichen von Demokratisierung als auch um einen Wandel der Religiosität.
Wie aus den Analysen von El Ayadi, Rachik und Tozy hervorgeht, war der Islam in Marokko in den vergangenen zwei Jahrzehnten, ähnlich wie auch in den übrigen Staaten Nordafrikas, von zwei starken Tendenzen geprägt – zum einen von einem erneuerten Herrschaftsanspruch des Staates über die Religion und zum anderen von einer wachsenden Fragmentierung in vielen Bereichen des religiösen Lebens. Ihren Analysen zufolge, ist Religion ein konstanter Bestandteil des öffentlichen Lebens geblieben, jedoch hat die religiöse Bildung zugenommen, insbesondere die der Frauen. Zugleich hat sich die Praxis des religiösen Lebens stark individualisiert. Es gibt einen zunehmenden Pragmatismus, der leicht verinnerlicht wird und dessen politische Opportunität sich im öffentlichen Leben bereits vielfach widerspiegelt. Zudem betrifft dies alle Altersgruppen, wenn auch der Hang zum Dogmatismus mit zunehmendem Alter steigt. Die Autoren fordern Verständnis sowohl für diesen Strukturwandel im öffentlichen Auftreten des Islam allgemein als auch für die Alltagsreligiosität der Menschen im Lichte des Säkularisierungsprozesses.
Was die meisten der politischen Veränderungen der vergangenen zehn Jahre in Marokko betrifft, ist es schwierig, diese anhand der religiösen oder kulturellen Begriffe des Islam zu erklären. Die fortschreitende Anerkennung und Geltung der Menschenrechte, die Reformen der Frauenrechte (Moudawana) und insbesondere die Umsetzung der neuen Verfassung seit 2011 erfolgten ausschlaggebend auf Initiative des Königs. Sie wurden nicht gegen die islamistischen Kräfte im Land durchgeführt, sondern in Zusammenarbeit mit ihnen. Alle Versuche orthodoxer Grenzziehungen von Seiten einiger Islamisten geraten dabei zunehmend in eine offene Auseinandersetzung mit den Einflüssen der Globalisierung und der sukzessiv fortschreitenden Demokratisierung des Landes.
Was den modernen, kulturellen Bereich betrifft, stehen in jedem Jahr die Filmfestspiele in Marrakesch sowie das Mawazine, ein Musikfestival in Rabat, auf der internationalen Agenda ganz oben. Die Kritik hieran von Seiten einiger islamistischer Gruppen bleibt weit hinter der allgemeinen Begeisterung zurück. Darin wird zum einen deutlich, dass deren kulturpolitische Vorstellungen im modernen, urbanen Marokko nicht mehrheitsfähig sind, und zum anderen, dass es auch in Marokko immer mehr Bereiche gibt, deren Charakter eher den Entwicklungslinien der Globalisierung folgt als denen einer rückwärtsgewandten Koranexegese.
Der im Maghreb überaus angesehene französische Ökonom Jacques Ould Aoudia wies jüngst darauf hin, dass die marokkanische Politik insgesamt durch eine ausgeprägte „Kultur des Kompromisses“ geprägt sei und sehr langfristige Entwicklungsperspektiven verfolge. Was jedoch die Islamisten betreffe, hätten diese große Probleme, mit einer säkularen Politikgestaltung umzugehen. Eine Entwicklung ähnlich der der Christdemokraten in Europa hält er zu Recht für unwahrscheinlich. Hierfür müsste sich die PJD – und dies gilt für die übrigen Parteien ähnlich – noch weitaus strenger an politischen Inhalten, Profilbildungen und Zielen orientieren und diese konsequent zur Begründung ihres Machtanspruchs erheben.
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Dr. Helmut Reifeld ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Marokko.
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