Ausgabe: 4/2017
Einleitung
Sechs Jahre nach dem Sturz des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi haben sich die Hoffnungen auf Demokratie, Stabilität und Entwicklung in Libyen nicht erfüllt. Das Land versinkt im Chaos. Politisch und territorial fragmentiert, mit einer Vielzahl konkurrierender staatlicher und nicht-staatlicher Akteure und Allianzen, durchlässiger Grenzen und wenig Aussicht auf baldige Stabilisierung, stellt Libyen eine Sicherheitsgefahr für seine Nachbarländer, die weitere Mittelmeerregion und für Europa dar.
Die aus dem VN-geführten Friedensprozess im Dezember 2015 hervorgegangene Regierung des Nationalen Einvernehmens (GNA) unter Premierminister Fayez al-Sarraj konnte bislang weder ihre Kontrolle über das libysche Staatsgebiet konsolidieren noch die Lebenssituation der libyschen Bevölkerung merklich verbessern. Darüber hinaus wird die Autorität der Regierung offen von den beiden anderen selbsternannten Regierungen Libyens – dem Repräsentantenhaus (HoR) in Tobruk im Osten des Landes und dem General National Congress (GNC) in Tripolis – sowie einer Vielzahl bewaffneter nicht-staatlicher Gruppierungen angefochten. De facto fehlt es an einer Regierung, welche die Gesamtheit des libyschen Territoriums kontrolliert.
Angesichts des Fehlens einer vereinten staatlichen Armee konkurrieren verschiedene Akteure um Macht und Ressourcen. Bewaffnete Gruppierungen sichern sich lokale Einflussbereiche. Damit einher geht in vielen Fällen die Kontrolle über illegale wirtschaftliche Aktivitäten, insbesondere über den Schmuggel von Waren und Menschen. Dies alles schafft eine Situation, die Handlungsspielräume auch für extremistische Organisationen wie den sogenannten Islamischen Staat (IS) bietet, die das staatliche Machtvakuum als willkommene Gelegenheit für die Ausweitung ihrer Aktivitäten und sogar lokaler territorialer Kontrolle in Libyen erkannt und genutzt haben.
Politisch und territorial fragmentiert
Rückblick: Revolution und Bürgerkrieg
Im Gegensatz zu den Aufständen in Libyens Nachbarländern Tunesien und Ägypten eskalierten die Proteste in Libyen 2011 bereits nach wenigen Tagen und entwickelten sich zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Aufständischen und loyalen Kräften des Regimes. Der durch die Unterstützung internationaler Kräfte beschleunigte Sturz des Gaddafi-Regimes gab den losen Zusammenschlüssen von Aufständischen keine Möglichkeit, ihre Organisationsstruktur oder ein Programm für die Zukunft Libyens und den Übergangsprozess zu entwickeln. Das Fehlen einflussreicher politischer und zivilgesellschaftlicher Führungspersonen, die das Machtvakuum nach dem Sturz Gaddafis hätten füllen können, trug zudem zum Chaos nach der Revolution bei.
Ebenfalls gelang es der 2012 gewählten Regierung, dem GNC, nicht, eine Stabilisierung der Sicherheitslage herbeizuführen. Stattdessen wurden die bewaffneten Gruppierungen in eine Art parallelen Sicherheitssektor integriert und erhielten von nun an staatliche Gehälter, um eine Eskalation der Sicherheitssituation zu verhindern. Bis heute ist es keiner der drei libyschen Regierungen gelungen, den Einfluss dieser bewaffneten informellen Gruppen zu verringern und die Kontrolle an eine staatlich kontrollierte Sicherheitseinheit zu überführen.
Nichtsdestotrotz konnte bis 2014 eine weitere Eskalation der schwelenden Konflikte verhindert werden. Die brüchige Stabilität endete mit den Parlamentswahlen im Juni 2014, die – durch Gewalt und eine niedrige Wahlbeteiligung gekennzeichnet – eine klare Niederlage für die islamistischen Kräfte bedeuteten und im Nachgang annulliert wurden. Die Wahlen fanden im Kontext des aufflammenden Konflikts zwischen General Khalifa Haftars Gruppen aus dem Osten unter dem Dach der Operation Dignity und der als Gegenreaktion geschaffenen Libya Dawn-Koalition aus dem Westen statt. Die Auseinandersetzung mündete in einen Bürgerkrieg, der Tausende Opfer forderte, fast eine halbe Million Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und die Wirtschaft des Landes beinahe vollständig zum Erliegen brachte. Nach der Niederlage der Operation Dignity-Koalition um den strategisch wichtigen Flughafen in Tripolis zog sich das gewählte Parlament, das HoR, in die östliche Stadt Tobruk zurück. Der GNC rekonstituierte sich währenddessen als rivalisierende Regierung in Tripolis.
„Libysches Politisches Abkommen” und Perspektiven
Im Januar 2015 begannen unter Federführung der VN die Verhandlungen zugunsten eines politischen Abkommens zur Schaffung einer Einheitsregierung, um den Konflikt zwischen den rivalisierenden Regierungen zu beenden. Diese Regierung sollte die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Abhaltung von Wahlen garantieren und als verlässlicher Partner zur Bekämpfung des IS agieren. Der Prozess resultierte in der Unterzeichnung des „Libyschen Politischen Abkommens“ (LPA), das die Schaffung eines Präsidialrates vorsah, der die Bildung einer Regierung des Nationalen Einvernehmens übernehmen und vorübergehend die existierenden Regierungen ersetzen sollte. Für die Mitglieder des in Tripolis ansässigen GNC war eine Einbindung in ein neu geschaffenes beratendes Organ – den Hohen Staatsrat – vorgesehen. Das HoR in Tobruk sollte als einziges nationales Parlament bestehen bleiben. Um die demokratische Legitimität der neuen Regierung zu sichern, wurde eine verbindliche Absegnung des Kabinetts durch ein Vertrauensvotum des Parlaments bestimmt.
Einige zentrale Fragen blieben allerdings unbeantwortet, insbesondere bezüglich der regionalen Machtbalance und der Ausgestaltung des Sicherheitssektors. Bedingt durch die sich anhaltend verschlechternde Wirtschafts- und Sicherheitslage, die Gefahr durch die Ausbreitung des IS sowie internationalen Druck aufgrund erhöhter Migrationsströme wurde jedoch eine zügige Unterzeichnung den weiteren Verhandlungen vorgezogen. Diese ungelösten Fragen führten in den folgenden Monaten zum Legitimitätsverlust des Präsidialrates und der neu geschaffenen Regierung. So hat das HoR bis dato nicht das notwendige Vertrauensvotum zur Legitimierung der neuen Regierung gegeben. Sowohl General Haftar als auch der GNC widerriefen ihre Unterstützung für die Einheitsregierung GNA, richteten sich als rivalisierende Regierungen in Tobruk beziehungsweise Tripolis ein und konsolidierten durch militärische Vorstöße loyaler bewaffneter Gruppierungen ihre jeweilige Machtbasis.
Die neue Regierung verlor indes auch an öffentlicher Unterstützung angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen im Land. 1,3 Millionen Menschen, ein Fünftel der libyschen Bevölkerung, sind laut VN-Schätzungen auf humanitäre Hilfe angewiesen und auch die Zahl der Binnenflüchtlinge nimmt zu. Andauernde Vertreibung, ein Zusammenbruch der Märkte und eine abfallende Produktion haben die Nahrungsmittelknappheit erhöht und auch Strom und Wasser sind landesweit nur begrenzt verfügbar. Zudem ist das Gesundheitssystem kollabiert: 60 Prozent der Infrastruktur funktionieren nicht oder nur teilweise, und es fehlt an Medizin sowie klinischer Ausrüstung. Die öffentliche Verwaltung ist nahezu vollständig zusammengebrochen und den Banken mangelt es an Bargeld. Aufgrund der instabilen Sicherheitslage sind die meisten humanitären Organisationen gezwungen, aus dem Nachbarland Tunesien heraus zu agieren, und Hilfsleistungen erreichen oft nicht alle Betroffenen. Diese täglichen Herausforderungen befeuern den Konflikt weiter.
Mehr als eineinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des LPA scheint die Implementierung des „Politischen Abkommens“ in seiner derzeitigen Form unmöglich. Neuverhandlungen zentraler Bestandteile unter Einbeziehung bisher vernachlässigter Akteure scheinen unabdingbar, um die politische Blockade zu überwinden und eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern. Diese Erkenntnis hat eine neue Bereitschaft zu Verhandlungen geweckt. Zur Über-raschung vieler internationaler Beobachter führte ein Treffen zwischen GNA-Premierminister al-Sarraj und General Haftar am 25. Juli 2017 zu einer Verständigung auf einen Waffenstillstand und die Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Anfang 2018. Es wird angenommen, dass der Einigung eine strukturelle Änderung des Präsidialrates zugrunde liegt, die das Organ auf drei Mitglieder reduzieren und Haftar damit neben al-Sarraj und HoR-Präsident Agila Saleh eine zentrale Rolle in Libyens politischem System sichern würde.
Ende September 2017 stellte der neue VN-Sondergesandte für Libyen, Ghassan Salamé, einen neuen Aktionsplan für die Wiederbelebung des Friedensprozesses vor. Der Plan sieht eine Überarbeitung des „Libyschen Politischen Abkommens“ durch einen Ausschuss vor, bevor eine libysche Nationalkonferenz über die Verantwortlichen für die neue Exekutive abstimmt. Die Konferenz unter Federführung des VN-Generalsekretärs soll vor allem zuvor ausgeschlossene oder unterrepräsentierte Interessenvertreter an den Tisch bringen. Mitglieder des Hohen Staatsrates und mit der GNA alliierte Milizen des islamistischen Spektrums hatten im Rahmen einer Neuverhandlung des LPA eine Marginalisierung befürchtet. Nun bleibt es abzuwarten, welchen Erfolg eine Neuaushandlung des Mächtegleichgewichts in Libyen haben wird.
Abb. 1: Libyen mit den von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren kontrollierten Gebieten
Ein Land regionaler Gegensätze
Für das Verständnis der politischen Fragmentierung Libyens ist die soziale Spaltung des Landes von zentraler Bedeutung. Der Osten, Cyrenaika, ist dominiert von Stammesstrukturen mit Verbindungen zu Ägypten und geprägt durch eine sozial und religiös eher konservative Bevölkerung. Der Westen, Tripolitanien, ist mehr kosmopolitisch und dem Mittelmeer zugewandt. Der Süden, Fessan, ist das dünn besiedelte Hinterland Libyens, bewohnt von Tuareg und Tebu, die heute um die Kontrolle des lukrativen Grenzhandels, der Ölfelder und militärischer Einrichtungen kämpfen. Bereits lange vor Beginn des Bürgerkriegs provozierte die Depolitisierung des öffentlichen Lebens in Gaddafis Dschamahirija (Herrschaft der Massen à la Gaddafi) eine Erstarkung der tribalen Strukturen in den Regionen. Das Machtvakuum nach dem Ende der Revolution begünstigte den Aufstieg bewaffneter Stammesfamilien und lokaler Milizen weiter.
Neben der historischen territorialen Teilung Libyens basieren regionale Teilungen insbesondere auch auf der Verteilung der nationalen Ölreserven. So findet sich der Großteil der Öl-reserven im sogenannten Öl-Halbmond, der sich vom östlichen Ras Lanuf über die zentral-nördliche Stadt Sirte bis nach Jufra im Süden erstreckt. Ungeachtet dessen flossen die Einnahmen aus dem Ölsektor jahrzehntelang nach Tripolis und erzeugten somit im Osten und Süden das Gefühl, um die rechtmäßigen Einnahmen betrogen zu werden. Da der Ölsektor rund 97 Prozent der libyschen Staatseinnahmen ausmacht, stellt die Kontrolle über den Ölexport eine wichtige strategische Variable für die Zukunft Libyens und den Einfluss verschiedener Gruppen dar.
In den Verhandlungen zum LPA und dessen Implementierung spielen vor allem Trennlinien zwischen Ost und West eine zentrale Rolle. So lässt sich die Ablehnung des Abkommens durch bedeutsame Gruppierungen und Persönlichkeiten aus dem Osten zu großen Teilen auf die Wahrnehmung einer Machtungleichheit in den Verhandlungen und der Struktur des neu geschaffenen Systems zugunsten westlicher Kräfte zurückführen. Aus diesem Grund versuchten General Haftar und seine Verbündeten, anstatt im Rahmen des LPA für die Befriedung Libyens zu arbeiten, unter anderem durch die Kooptierung von Milizen und die Ersetzung gewählter Kommunalräte durch Militärgouverneure, ihre Machtposition im Osten zu zementieren und ihre territoriale Kontrolle auszuweiten. Die Übernahme des strategischen Öl-Halbmondes im Herbst 2016 ist ein klares Beispiel für diese Ambitionen und ein wirksames politisches Druckmittel gegenüber der GNA.
Auswirkungen fehlender Staatlichkeit auf die regionale Sicherheit
Der Kontext fehlender Staatlichkeit bietet einen optimalen Nährboden, insbesondere für die Ausbreitung extremistischer Gruppierungen und, in Verbindung mit den unkontrollierten und durchlässigen Grenzen des Landes, für verstärkte irreguläre Migrationsbewegungen. Die Auswirkungen dieser Dynamiken in Form einer Ausbreitung der Instabilität stellen somit eine massive Herausforderung für die Zukunft Libyens, aber auch für die regionale und internationale Stabilität dar.
Staat ohne Grenzen
Libyen ist traditionell ein Migrationsland und beherbergte vor der Revolution geschätzt zwei bis drei Millionen legale Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern und dem weiteren afrikanischen Kontinent. Irreguläre Migration, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als momentan, wurde unter Gaddafi durch ein System der selektiven Vergabe der inoffiziellen Kontrolle über Grenzabschnitte und Schmuggel-routen reguliert. Nach der Revolution waren diese Absprachen jedoch nichtig und die zunehmende Destabilisierung des Landes trug zum Anstieg der Zahl irregulärer Migrationsbewegungen nach und durch Libyen sowie zu einer rasanten Ausbreitung und Professionalisierung des plötzlich deregulierten Schmuggelwesens bei. So brachen 95 Prozent der 85.183 Personen, die Italien von Januar bis Juni 2017 über die zentrale Mittelmeerroute erreichten, aus Libyen auf. Neben dem staatlichen Kontrollvakuum in Libyen rückten zudem auch die erschwerten Bedingungen auf der östlichen und westlichen Mittelmeerroute das Land in den Mittelpunkt der Migrationsbewegungen in dieser Region. Während UNHCR-Angaben von rund 40.000 registrierten Personen (Asylsuchende und Flüchtlinge) in Libyen sprechen, wird die tatsächliche Anzahl mit zwischen 700.000 und einer Million Personen weit höher geschätzt.
In der derzeitigen Situation besitzen weder die GNA noch andere staatliche oder nicht-staatliche Gruppen die Kapazitäten, um Schmuggleraktivitäten effektiv zu unterbinden. Sowohl die 1.770 km lange libysche Küste als auch die 4.348 km langen Landesgrenzen zu den Nachbarländern bleiben durchlässig. Es zeigt sich eine verstärkte Konzentration der Schmuggleraktivitäten im Süden des Landes, wo staatliche Kontrolle und alternative wirtschaftliche Aktivitäten fehlen. So bilden die südlichen Grenzen und die Küstenregionen im Westen des Landes durch den Zusammenbruch der früheren Sicherheitsstrukturen und die fehlenden Kapazitäten der GNA einen p roblemlos nutzbaren Ausgangspunkt für Schmuggler. Seit der Revolution bot sich also ein idealer Nährboden für die Ausbreitung von Schmugglernetzwerken, für die die Kontrolle dieses immer wichtiger werdenden Wirtschaftssektors nicht nur Ressourcen, sondern auch die Sicherung territorialer Einflusszonen und die Konsolidierung von Einfluss im volatilen Machtgefüge bedeutet.
Ende 2016 begannen EU und VN die libysche Küstenwache in der Ausführung von Rettungsmissionen und im Kampf gegen Schmuggler zu trainieren und auszurüsten sowie für die Einhaltung von Menschenrechten zu sensibilisieren. Problematisch ist dabei allerdings, dass die libysche Küstenwache aus revolutionären Milizen des libyschen Bürgerkrieges hervorgegangen ist und über kein professionelles Personal verfügt. Einem VN-Bericht zufolge sind einzelne Einheiten teilweise an den kriminellen Machenschaften von Schmugglern beteiligt.
Die Anzahl der Migranten, die von Libyen aus Italien erreichten, fiel im Juli 2017 um die Hälfte auf 11.459 Personen und im August erneut um etwa 80 Prozent. Die Ursachen für diese dramatische Abnahme sind nicht eindeutig identifizierbar. Unterschiedlichen Pressemeldungen und Expertenmeinungen zufolge könnten die Ausweitung der Aktivitäten der libyschen Küstenwache und ihr Vorgehen gegen die Such- und Rettungsmissionen humanitärer Hilfsorganisationen dazu geführt haben. Der Abzug internationaler Hilfsorganisationen hat allerdings zur Folge, dass die Vorgänge in libyschen Gewässern für Beobachter noch weniger einsehbar geworden sind. Der italienischen Regierung wird von internationalen Beobachtern und Experten die Unterstützung einer Vereinbarung zwischen GNA und Milizen vorgeworfen, die vorsieht, einzelne bewaffnete Gruppierungen zu finanzieren, um weitere Überfahrten zu verhindern und bereits auf dem Festland einzugreifen. Insofern scheint dieser Rückgang einem bloßen Abfangen von Migranten geschuldet zu sein. Dies lässt aber nicht auf eine nachhaltige Lösung schließen. Vielmehr können sich alternative Migrationsrouten herausbilden. Eine Herausforderung besonderer Dringlichkeit ist die prekäre rechtliche und humanitäre Lage von Migranten in Libyen, die mehrfach in Berichten internationaler Organisationen dokumentiert und angeprangert worden ist.
Brutstätte extremistischer Gruppen
Neben unkontrollierter Migration in Richtung Europa machen durchlässige Grenzen und die Verfügbarkeit von Waffen in der post-revolutionären Unordnung Libyen zu einem Nährboden für Extremismus und Terrorismus. Etablierte dschihadistische Gruppierungen kämpften bereits in der Revolution aufseiten der Aufständischen und übernahmen nach dem Sturz des Regimes nebst moderaten Islamisten Posten in Libyens politischem System. Der fortwährende Staatszerfall öffnete jedoch die Türen für einen weiteren Akteur: den sogenannten Islamischen Staat. Ähnlich wie in anderen Territorien machte sich der IS in Libyen die unklare Machtlage zunutze und etablierte eine territoriale Präsenz. Rückkehrende Kämpfer aus Syrien schufen den ersten libyschen IS-Ableger und wurden später durch entsandte IS-Vertreter aus Syrien und dem Irak bei der Schaffung dreier Provinzen (wilāyāt) im Osten, Westen und Süden des Landes unterstützt. Der IS hatte sich zunächst im östlichen Derna festgesetzt, wurde aber durch andere dschihadistische Gruppen vertrieben, bewegte sich westlich entlang der Küste und installierte sich dann in der Küstenstadt Sirte, die das erste Gebiet außerhalb der Levante unter territorialer Kontrolle des IS wurde. Sirte galt als dessen wichtigste Basis, die nach monatelangen Kämpfen durch Milizen und US-Luftangriffe zurückerobert wurde.
Mit Blick auf die Gesamtzahl der IS-Kämpfer in Libyen schwankten Schätzungen im Frühjahr 2016 zwischen 6.000 und 12.000. Interessant ist dabei, dass deren Großteil – bis zu 70 Prozent in Sirte – aus Foreign Fighters, zumeist Tunesiern, bestand. Während die Vertreibung aus Sirte zwar eine schwere territoriale Niederlage für den IS darstellte, kann dennoch nicht von einem endgültigen Sieg über die Gruppe in Libyen gesprochen werden. Darüber hinaus schafft der Sieg über den IS Raum für die Ausbreitung anderer islamistischer Gruppierungen und damit – ohne eine Stabilisierung und politische Befriedung des Landes – ein anhaltendes Terrorismusrisiko.
Libyens Nachbarländer sehen sich durch die Ausbreitung terroristischer Gruppierungen vor grenzübergreifenden Sicherheitsherausforderungen, insbesondere durch die Rekrutierung und Ausbildung von Kämpfern durch Gruppen in Libyen und deren Rückkehr in ihre Heimatländer nach den militärischen Niederlagen des IS. Anschläge durch in Libyen ausgebildete Terroristen, beispielsweise in Tunesien 2015 und in Algerien 2013, zeigen darüber hinaus auch die erhöhte Anschlagsgefahr ausgehend von Libyen als Rückzugsort für diese Gruppen. Auch für Europa ergibt sich durch die gestärkten internationalen Dschihadisten-Netzwerke eine erhöhte Terrorismusgefahr. So stand der Tunesier Anis Amri, der den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin Ende 2016 verübte, in Kontakt mit dem IS in Libyen. Ebenfalls hatte der Attentäter von Manchester Verbindungen zu libyschen IS-Netzwerken. Salman Abedi ist somit das jüngste Glied in der Kette zwischen der Situation in Libyen und der Bedrohung Europas durch den internationalen Terrorismus.
Libyens Instabilität ist außerdem eine der Hauptursachen für die Internationalisierung und wachsende Autonomie bewaffneter Gruppierungen in der Sahel-Region. In Mali, dem Epizentrum islamistischer Gewalt im Sahel, im Niger und im Tschad befeuerte die Verbreitung von Waffen aus libyschen Beständen die Aufrüstung von Aufstandsbewegungen, geprägt von Islamisten und Stammesgruppen. Die Stammesgebiete entlang der libyschen Grenzen im Süden sind darüber hinaus zentral für die regionale Sicherheit. Der Konflikt in Libyen hat die Krisen im Sahel weiter unterfüttert, einer Region mit historisch schwachen Regierungen und breit aufgestellten Räumen begrenzter Staatlichkeit.
Fehlende Staatlichkeit in Libyen macht das Land zum Anziehungspunkt und zu einer Transferroute für Foreign Fighters sowie als Trainings- und Rückzugsort für Extremisten zum logistischen Knotenpunkt für den Dschihadismus in Nordafrika. Solange sich dies nicht durch einen politischen Friedensprozess und den Aufbau einer legitimen Regierung mit effektivem Gewaltmonopol ändert, bleiben die Aktivitäten terroristischer Gruppierungen ein Sicherheitsrisiko für die Region und Europa. Zugleich muss aber festgestellt werden, dass der IS in Libyen über keine weitreichende Kontrolle über Territorien und Bevölkerungen verfügt. Die lokale Unterstützung für den IS ist relativ gering. Experten glauben, dass die starken Klan- und Stammesstrukturen sich als wichtiges Gegengewicht zu Radikalismus erweisen. Der libysche Lokalismus scheint nicht nur einem demokratischen Prozess entgegenzustehen, sondern auch einer dschihadistischen Expansion.
Vom Reichtum zum Bankrott
Einst das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, steht Libyen heute kurz vor dem Staatsbankrott. Die Ölvorkommen des Landes werden auf 48 Milliarden Barrel geschätzt und sind damit die größten Vorkommen des Kontinents und die neuntgrößten weltweit. 2012 deckte die Rohölproduktion 70 Prozent des libyschen Bruttoinlandsprodukts (BIP), 99 Prozent der nationalen Exporte und 97 Prozent der Staatseinnahmen. Durch eskalierende Gewalt brach die Ölproduktion in den folgenden Jahren jedoch drastisch ein und ist weit davon entfernt, eine stabile Versorgung garantieren zu können, da die Ölindustrie in Libyen mittlerweile Teil einer ausgeprägten Kriegswirtschaft geworden ist. Hinzu kommt der dramatische Rückgang des Weltmarktpreises für Öl. Das Bankensystem ist durch eine Liquiditätskrise ebenfalls fast vollständig zusammengebrochen. Das Staatsbudget wird durch die Beschwichtigungspolitik der unproduktiven Gehalts- bzw. Rentenzahlungen erheblich belastet. Die Haushaltsausgaben fließen zu jeweils 40 Prozent in Gehälter sowie Subventionen und sind gegenwärtig zu weniger als der Hälfte durch Einnahmen, sondern durch Aufbrauchen der Währungsreserven gedeckt.
Inzwischen haben sich illegale wirtschaftliche Aktivitäten, insbesondere der Schmuggel von Menschen und Waren, zu einer profitablen Industrie entwickelt. Die Schattenwirtschaft konnte zudem ihre Kapazitäten durch die Verknüpfung krimineller Netzwerke mit dem territorialen Zugang der Milizen stark erweitern. Der Krieg in Libyen hat zu einer Reorganisation der Schmuggelkartelle geführt und das Land zum regionalen Drehkreuz für den illegalen Handel mit Drogen, Medizin, Fahrzeugen und Menschen gemacht.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch Libyens hat auch drastische Folgen für die Nachbarländer. Tunesien und Ägypten sind am schwersten von den Entwicklungen betroffen. So wird die dramatische Konjunkturschwäche in Tunesien hauptsächlich auf die Krise in Libyen zurückgeführt. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS schätzt, dass das Chaos in Libyen Tunesien allein bis 2015 mindestens 4,3 Milliarden Euro gekostet hat. Nach dem Zusammenbruch der libyschen Wirtschaft sank Tunesiens BIP 2013 und 2014 um 3,7 bzw. 3,8 Prozent. Darüber hinaus deckte Tunesien traditionell 25 Prozent seines Ölbedarfs durch libysches Öl zu Vorzugspreisen. Diese Versorgung war jedoch nach dem Zusammenbruch des libyschen Ölsektors nur schwer aufrechtzuerhalten. Im Tourismussektor verzeichnete Tunesien einen Einbruch von 30 Prozent der Zahlen libyscher Touristen (rund 1,8 Millionen jährlich vor 2011). Ein weiteres Problem ist die Rückkehr der rund 60.000 bis 90.000 tunesischen Arbeitsmigranten. Geldüberweisungen aus Libyen sind seit 2011 um ein Drittel gesunken. Die Rückkehr zehntausender Arbeiter ist für das Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit eine zusätzliche Belastung.
Gleichzeitig machen informelle Handelsströme zwischen Tunesien und Libyen fast die Hälfte des Handels zwischen den beiden Ländern aus. Knapp 40 Prozent der tunesischen Wirtschaft sind informell. Schmuggel sowie andere illegale Tätigkeiten stellen oft die einzige Einnahmequelle für Menschen in marginalisierten Grenzgebieten dar. Mit einem Umsatz von 850 Millionen Euro sorgt der Grenzhandel für den Lebensunterhalt von rund zehn Prozent der tunesischen Bevölkerung.
Ähnlich betroffen ist Ägypten. Der Verlust ökonomischer Vorteile Kairos aus seinem Nachbarland hat die wirtschaftliche Notlage des Landes weiter verschlimmert. So stellte der bilaterale Handel mit 770 Millionen Euro Ende 2014 nur noch einen Bruchteil von den 2,1 Milliarden Euro Umsatz vor der libyschen Revolution dar. 2015 wurde eine Abnahme ägyptischer Exporte nach Libyen um 75 Prozent geschätzt.
Darüber hinaus ist die Lage für ägyptische Arbeitsmigranten in Libyen unsicher. Wiederholte Entführungen von Ägyptern und die Hinrichtung koptischer Christen durch den IS haben viele zur Flucht gedrängt. Vor 2011 überwiesen 1,5 bis zwei Millionen ägyptische Arbeitsmigranten in Libyen jährlich rund 28 Millionen Euro in ihr Heimatland. 2015 waren es nur noch 750.000 Arbeitsmigranten. Ein Wegfall dieser Rücküberweisungen birgt das Potenzial für soziale Unruhen und eine weitere Destabilisierung in Ägypten.
Die Rolle regionaler und internationaler Akteure
Zusätzlich zu den weitreichenden Herausforderungen, denen sich Libyen durch den politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch gegenübersieht, haben zunehmend auch regionale und internationale Akteure im Rahmen von Mediationsgesprächen über einen Friedensprozess, aber auch militärischer und politischer Unterstützung einzelner Konfliktparteien eine Rolle im Konflikt eingenommen. Wenn auch fast alle involvierten Staaten sich rhetorisch zum „Libyschen Politischen Abkommen“ und zur Einheitsregierung bekennen, ist in vielen Fällen ein Vorantreiben eigener Interessen erkennbar, was den Friedensprozess erschwert.
Wie auch in anderen Ländern der Region ist die US-Politik der Trump-Administration im Hinblick auf Libyen noch unklar. Basierend auf den Aussagen des Präsidenten und seiner Berater ist eine Beschränkung des US-Engagements auf die Unterstützung im Bereich Terrorismusbekämpfung zu erwarten und damit einhergehend eine Annäherung an Haftar, der sich als Führer des Kampfes gegen islamistische und terroristische Gruppierungen präsentiert. Das jüngste Treffen Haftars mit dem US-Botschafter und dem US-AFRICOM-Befehlshaber im Juli 2017 scheint diese Erwartungen zu bestätigen und kommt nur einen Tag nach der Ankündigung, dass eine neue diplomatische und militärische Strategie der USA für Libyen demnächst finalisiert werden soll. Inzwischen haben sich jedoch andere internationale Akteure angesichts des Fehlens einer klaren US-Politik als maßgebliche Akteure installiert und damit die politischen und militärischen Machtverhältnisse entscheidend beeinflusst.
So haben Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate mit ihrer Unterstützung für Haftar dessen militärische Erfolge und territoriale Ausbreitung ermöglicht. Insbesondere für Ägypten und die Emirate spielt hierbei die ideologische Komponente eine zentrale Rolle: Die beiden Regierungen sehen die GNA als mit islamistisch-motivierten Gruppierungen verbunden und fürchten deren stärkere Rolle in Libyens künftigem politischen System. Haftars entschiedene Ablehnung und Bekämpfung islamistisch-motivierter Gruppierungen passt dementsprechend zu den Prioritäten beider Länder. Im Falle Ägyptens spielt darüber hinaus die geografische Nähe und die geteilte Grenze eine wichtige Rolle, da Ägypten aufgrund von Sicherheitsbedenken und enger wirtschaftlicher Beziehungen eine zentrale Rolle für sich in der Gestaltung der Zukunft Libyens sieht. So gilt es aus Sicht el-Sisis, eine islamistischen Gruppierungen nahestehende Regierung um jeden Preis zu verhindern.
Russland hat sich im US-Vakuum als weiterer Akteur in Libyen etabliert, dessen Rolle sich insbesondere im Laufe des letzten Jahres erweitert hat. Während Russland nominell die international anerkannte Einheitsregierung unterstützt, wurden zunehmend vertiefte Kontakte mit Haftar und dem HoR im Osten offensichtlich. So besuchte Haftar Moskau mehrmals, um sich für eine Aufhebung des Waffenembargos gegen Libyen stark zu machen und Unterstützung im Kampf gegen islamistische Gruppierungen im Osten des Landes zu erbitten. Ein VN-Waffenembargo verbietet seit 2011 die Einführung von Waffen nach Libyen, mit Ausnahme der durch die GNA kontrollierten Kanäle. Der Besuch von Haft ar Anfang des Jahres auf dem russischen Flugzeugträger Admiral Kuznetsov forcierte jedoch Gerüchte über abgeschlossene Waffenabkommen und Pläne für die Etablierung einer russischen Marinebasis nahe Benghasi. Nach Berichten internationaler Medien befinden sich russische Militärberater und technische Fachkräfte in Libyen. Für viele Beobachter steht es außer Frage, dass sich Haftar nicht nur die Unterstützung Ägyptens, sondern auch diejenige Russlands sichern konnte. Ohne diese wäre die Verschiebung des Mächtegleichgewichts in Libyen zu seinen Gunsten nicht vorstellbar.
In dieser Gemengelage sind dem Handlungsspielraum der EU in Libyen Grenzen gesetzt. Die EU ist zwar der größte Verfechter des LPA, allerdings konzentrieren sich ihre Aktivitäten größtenteils auf die Regulierung der Flüchtlingsströme im zentralen Mittelmeer. Diese Schwerpunktsetzung der EU zeigt sich neben der Vergabe beachtlicher Geldmittel für migrationsrelevante Projekte in Libyen durch den EU Emergency Trust Fund insbesondere durch die im Juni 2015 ins Leben gerufene EU NAVFOR MED Operation Sophia. Ziel der Operation ist die Zerschlagung des Geschäftsmodells von Schleusernetzen und Menschenhändlerringen im zentralen Mittelmeerraum und dadurch eine Reduzierung der Migrationsströme Richtung Europa. Die Operation umfasst nach der zweiten Verlängerung bis Ende 2018 und einer Erweiterung ihres Mandats nunmehr auch das Training der libyschen Küstenwache, die Überwachung der Gewässer zur Unterbindung des illegalen Ölexports aus dem Land sowie Hilfe bei der Umsetzung des VN-Waffenembargos in den Gewässern vor der Küste Libyens.
Während positive Ergebnisse in Bezug auf die Rettung von Menschenleben und die Festnahme von Schmugglern vermeldet werden, zeigt eine aktuelle Untersuchung, dass die angestrebte Zerschlagung des Geschäftsmodells von Schmugglernetzwerken noch nicht erreicht werden konnte. So wurde 2016 erneut ein Anstieg irregulärer Migration nach Europa über die zentrale Mittelmeerroute von 18 Prozent gegenüber den Vorjahreszahlen verzeichnet und in den ersten sechs Monaten 2017 wiederum ein Anstieg von 19 Prozent. Die zweite Mission der EU in Libyen, EU Border Assistance Mission in Libya (EUBAM), soll durch Ausbildung und Beratung die Kapazitäten libyscher Behörden zur Sicherung der Grenzen erhöhen und längerfristig eine Strategie für integriertes Grenzmanagement erarbeiten und umsetzen. Die Mission ist jedoch durch die Sicherheitslage und den limitierten Spielraum der GNA stark eingeschränkt. In Bezug auf Migration fühlen sich die südlichen Mitgliedstaaten, insbesondere Italien, von den restlichen EU-Ländern im Stich gelassen. Als Reaktion auf wiederholte Warnungen vor Überbelastung verabschiedete die EU-Kommission Anfang Juli einen Aktionsplan zur Unterstützung Italiens und für mehr Solidarität in der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik im zentralen Mittelmeerraum.
Darüber hinaus scheint eine stärkere Rolle der EU durch Unstimmigkeiten ihrer Mitgliedsländer und teils unklare Strategien für die Unterstützung des Friedensprozesses blockiert. Durch die zentrale Rolle Italiens in der Migrationsfrage, aber auch durch historische und kommerzielle Verbindungen der beiden Länder ist die ehemalige Kolonialmacht Italien der führende Akteur europäischer Diplomatie in Libyen. Bemühungen, durch Abkommen mit libyschen Akteuren Migrationsbewegungen zu verringern, erweisen sich jedoch als problematisch. So wurde beispielsweise ein im Februar 2017 geschlossenes Abkommen zwischen Italien und der GNA durch einen libyschen Gerichtshof annulliert. Parallel versucht Italien, durch Gespräche mit Stämmen aus dem Süden des Landes Verbündete für die bessere Kontrolle der südlichen Grenzregionen zu finden. Das jüngste Treffen von al-Sarraj und Haftar unter Federführung Emmanuel Macrons sorgte dementsprechend in Italien für Missfallen, da das Land sich in seiner diplomatischen Rolle gefährdet fühlt.
Bislang gelang es der EU nicht, sich als starker geopolitischer Akteur in Libyen zu positionieren. Vielmehr verfolgen einzelne europäische Länder unterschiedliche Ziele aufgrund unterschiedlicher Prioritäten. Am deutlichsten zeigt sich dies im Umgang mit General Haftar. So unterstützte Frankreich seit Anfang 2016 Haftars LNA durch die Weitergabe von Geheimdienstinformationen im Kampf gegen islamistische Gruppierungen in Benghasi. Zunehmend sehen jedoch auch andere Länder Haftar als strategische Komponente einer politischen Lösung. Diese Dynamik kulminierte schließlich im von Macron initiierten Treffen zwischen al-Sarraj und Haftar im Juli 2017. Die daraus hervorgegangene Einigung impliziert das Zugeständnis, dass die GNA gescheitert und eine politische Zukunft Libyens nur mit Haftar in einer zentralen Rolle denkbar ist.
Ausblick
Wie sieht Libyens Zukunft angesichts dieser vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen sowie der jüngsten politischen Entwicklungen aus?
Die Regierung des nationalen Einvernehmens unter al-Sarraj hat – trotz internationaler Unterstützung – weder das Land einen noch Sicherheit gewährleisten oder die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung ausbauen können. Stattdessen konnte Haftar seine territoriale Kontrolle festigen und Sicherheit für die Menschen gewährleisten, Ölfelder unter seine Kontrolle bringen und seine Legitimitätsansprüche konsolidieren. Ursprünglich bestrebt, Haftar zu marginalisieren, findet sich die internationale Gemeinschaft zunehmend in einer Situation, die dessen Einbindung in den politischen Prozess unabdingbar macht. Mit dem Credo „Stabilität statt Chaos“ und dem Kampf gegen den IS hat sich Haftar seine Salonfähigkeit in Europa erkämpft.
Wenn der Plan, auf den sich al-Sarraj und Haftar im Juli in Paris geeinigt haben, tatsächlich in dieser Form implementiert werden kann, würde die de facto gescheiterte Einheitsregierung – und die beiden anderen rivalisierenden Regierungen – durch Wahlen Anfang 2018 abgelöst werden. Von der vereinbarten Waffenruhe ausgehend, würde die Demobilisierung der zahlreichen bewaffneten Gruppierungen umgesetzt werden. Die Erfolgschancen dieser Einigung bleiben jedoch gering – zu groß sind die potenziellen Verluste für diverse Gruppierungen, die sich in Abwesenheit starker Staatlichkeit territoriale, wirtschaftliche und politische Kontrolle angeeignet haben und diese zu verteidigen bereit sind. Darüber hinaus scheint eine Einigung zwischen den beiden größten Konfliktparteien, der GNA und Haftar, nicht ausreichend inklusiv, um als Ausgangspunkt eines umfassenden Friedens- und Transitionsprozesses zu dienen, und würde erneut den Ausschluss eines breiten Spektrums relevanter Akteure bedeuten.
Eine Alternative hierzu ist eine tiefer gehende und inklusive Neuverhandlung des LPA, die neben dem politischen Prozess auch zentrale Fragen der Gestaltung des Sicherheitssektors und der Verteilung ökonomischer Ressourcen beinhaltet und alle wichtigen Akteure einschließt. Im Kontext der Schwäche der VN-Mission in Libyen ergibt sich hierbei eine zentrale Rolle für regionale Akteure, wie Tunesien und Algerien, in der Federführung solcher Verhandlungen. Das Risiko einer erneuten Eskalation der Konflikte in Libyen und die gravierenden Auswirkungen der Instabilität auf diese Länder schaffen zudem eine eindeutige Motivation für eine solche Rolle.
Gleichzeitig ist die Involvierung regionaler und internationaler Akteure im Kontext der politischen und territorialen Fragmentierung in Libyen mit zahlreichen Risiken verbunden. So führte die Unterstützung verschiedener Gruppierungen und Konfliktparteien in Abwesenheit einer starken Zentralregierung zu erheblichen Machtverschiebungen, die zu weiteren Konflikten und zu Fraktionalisierung beigetragen und damit den Friedensprozess behindert haben. Jegliche Strategie externer Akteure für Libyen sollte diesen Risiken Rechnung tragen, wenn eine weitere Eskalation verhindert und eine Stabilisierung des Landes möglich gemacht werden soll.
Was Libyen braucht, ist eine Lösung für das fragile bis nicht-existente staatliche Gewaltmonopol, das durch anhaltende Instabilität die Ausbreitung von extremistischen Gruppierungen sowie von Schleuser- und Schmuggelnetzwerken ermöglicht, die über Libyen hinaus den Mittelmeerraum destabilisieren. Eine solche Lösung kann nur durch einen inklusiven Transitionsprozess geschaffen werden, der eine tragfähige Machtbalance zwischen libyschen Akteuren etabliert. Um eine effektive Unterstützung eines solchen Prozesses zu ermöglichen, müssen die Ansätze internationaler Akteure über den derzeitigen Fokus auf Migration und Terrorismus hinaus erweitert werden und den Aufbau starker staatlicher Strukturen ermöglichen.
Während Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich das Machtgleichgewicht zugunsten von Haftar verschoben hat, scheinen die EU und ihre Mitgliedstaaten – zu sehr beschäftigt mit der Kontrolle von Migrationsströmen – ohne eine langfristige Strategie bezüglich Libyens Zukunft dazustehen. Fakt ist allerdings, dass kurzfristige Ansätze auch mit Blick auf die unkontrollierte Migration aus dem Sahel über Libyen nicht über Symptombehandlung hinausgehen. Libyen muss wieder Staat werden. Es ist daher dringend erforderlich, dass sich die europäischen Staaten mit Blick auf Prioritäten, Ziele und Partner in Libyen einigen und ein erhöhtes Engagement zeigen.
-----
Dr. Canan Atilgan ist Leiterin des Regionalprogramms Politischer Dialog Südliches Mittelmeer / Tunis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Veronika Ertl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Regionalprogramm Politischer Dialog Südliches Mittelmeer / Tunis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Simon Engelkes ist Projektkoordinator im Regionalprogramm Politischer Dialog Südliches Mittelmeer / Tunis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.