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Stefanie Arndt, Alfred-Wegener-Institut, CC-BY 4.0

Auslandsinformationen

Wo unumkehrbare Verluste drohen

von Dr. Sören Soika, Fabian Wagener

Der Klimawandel in der Arktis und die ­Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine für die Forschung

Sie ist Meeresforscherin und leitet mit dem Alfred-Wegener-­Institut die wichtigste deutsche Institution in der Polar- und Meeresforschung: Antje Boetius erklärt im Gespräch mit den Auslandsinformationen, warum uns durch den Klimawandel in der Arktis unumkehrbare Verluste drohen, wieso der russische Angriff auf die Ukraine auch die Forschung in der Polarregion schwer getroffen hat und was sie unbedingt noch über die Arktis herausfinden will.

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Auslandsinformationen (Ai): Frau Professor Boetius, wie oft waren Sie schon in der Arktis?

Antje Boetius: Nehme ich nur die Expeditionen zur See, die ich als Meeres- und Tiefseeforscherin durchgeführt habe, dann waren das bislang neun. Die waren jeweils bis zu drei Monate lang, oftmals in eisbedeckten Gewässern rund um den Nordpol, um die arktische Tiefsee und besonders den Meeresboden zu erforschen. Neben diesen Forschungsaufenthalten nehme ich aber auch regelmäßig an Forschungskonferenzen im Arktisraum teil, beispielsweise in Tromsø und Reykjavík. Ich war aber auch schon in Murmansk und Kirkenes. Dazu kam im vergangenen Jahr eine unvergessliche Landexpedition auf Grönland.

Ai: Bleiben wir erst einmal bei den Expeditionen: Wie aufwändig ist die Vorbereitung?

Boetius: Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, organisiert Expeditionen zu See, zu Land und zu Luft. Ich selbst bin hauptsächlich an den seegehenden Expeditionen beteiligt. Die haben oft einen mehrjährigen Vorlauf. Eine ganz zentrale Rolle spielt unser Forschungseisbrecher Polarstern. Von diesen Eisbrechern, mit denen man in das Eis eindringen und dann darunter das Meer und den Meeresgrund erforschen kann, gibt es auf der Welt nur wenige. Auch deshalb stimmen wir uns lange vor einer Expedition international darüber ab, welche Forscherinnen und Forscher aus anderen Ländern teilnehmen werden, welche Expertise sie mitbringen, welche Forschungsfragen beantwortet werden sollen.

Ai: Können Sie uns Beispiele für solche Fragen nennen?

Boetius: Heute geht es häufig um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis. Also: Wie verändert er Wetterphänomene, Meeresströmungen, Wirbel und Wellenbewegungen? Wie verändert er die Fische und anderes Leben in der Region, bis hinunter in die Tiefsee? Ein zweiter wichtiger Bereich ist die Meeresbodenforschung zum Ursprung der arktischen Becken und der Geschichte der Eisbedeckung. Der Meeresboden in der Arktis ist ziemlich schlecht kartiert. Da kann es mit Blick auf die Tiefe Ungenauigkeiten von 100 Metern geben, unterseeische Berge sind kilometerweit neben ihrem eigentlichen Standort verzeichnet. Das liegt daran, dass der arktische Meeresboden bislang zumeist von militärischen U-Booten grob vermessen worden ist, die dafür eigentlich nicht die optimalen Instrumente hatten – und daran, dass eben zu wenige Forschungs­eisbrecher in der Arktis sind.

Ai: Wann waren Sie denn zum ersten Mal dort?

Boetius: Das war 1993. Ich hatte also noch Gelegenheit, die „alte Arktis“, wie sie damals war, zu erleben. Auch wenn es schon erste Warnungen gab, dachten damals die meisten Menschen noch nicht daran, dass der Klimawandel eine Region so schnell verändern kann, wie es dann mit der Arktis tatsächlich geschehen ist. Und diesen glücklichen Umstand, dass ich als Doktorandin noch die Arktis in ihrem damaligen Zustand besuchen konnte, kann ich auch heute noch für meine Forschung nutzen. Proben und Aufzeichnungen, die ich 1993 gemacht habe, dienen mir heute als Bezugspunkte, über die ich Veränderungen dokumentieren und zeigen kann, wie Klimaveränderungen direkt auf das Leben in der Arktis wirken.

Ai: Was fällt denn jemandem, der 1993 in der Arktis war und heute an denselben Ort zurückkehrt, als erstes auf?

Boetius: Man kann den Klimawandel und seine Folgen tatsächlich mit bloßem Auge beobachten. Das Auffälligste ist das Meereis. Als ich vor etwa 30 Jahren zum ersten Mal in der Nordpolregion war, war das Meereis dort im Schnitt etwa drei bis vier Meter dick. Heute sehen wir dort im Sommer um den Nordpol herum vielleicht noch anderthalb Meter Dicke, wenn das Meer nicht sogar ganz eisfrei ist. Sie können den Klimawandel dort aber auch an Land beobachten, beim Auftauen von Permafrostböden. Ein konkretes Beispiel: Die Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts auf Spitzbergen ist zur Hälfte auf Stein gebaut, zur Hälfte auf ehemals gefrorenem Boden. Heute haben wir dort einen Riss, weil der Teil, der vorher auf vermeintlich ewig gefrorenem Boden stand, in den Schlamm absinkt. Und diese Erfahrung der schwindenden Verlässlichkeit des Untergrunds machen heute viele Menschen in der Arktis.

Und dann gibt es auch einen sozialen Wandel: Die Arktis ist ein Zuzugsgebiet, in das immer mehr Menschen aus der ganzen Welt kommen. Viele der arktischen Städte – ob in Norwegen, den Vereinigten Staaten oder Kanada – sind heute sehr international und divers. Auch das ist, abseits der naturwissenschaftlichen Aspekte, eine Veränderung, die ich über die Zeit beobachtet habe.

Ai: Lassen Sie uns das Thema Klimawandel vertiefen. Man hört oft, dieser sei in der Arktis noch stärker zu spüren als anderswo. Ist das so und woran kann man das festmachen?

Boetius: Ja, das ist so. Es gibt Wetterstationen zu Land und auf dem Meer, alle zusammen zeigen eine im Vergleich zum globalen Durchschnitt drei- bis viermal so schnelle Erwärmung der arktischen Region in den letzten 40 Jahren. Das kann man auch festmachen am Rückgang der Eisdecke. Sie schwindet mit jedem Jahrzehnt um etwa 13 Prozent zum Ende des Sommers. Das ist natürlich erschreckend, weil es das gesamte System – und damit auch das Leben innerhalb dieses Systems – aus dem Gleichgewicht bringt.

Ai: Im Pariser Klimaabkommen wird das Ziel ausgegeben, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, möglichst auf 1,5 Grad. Letzteres scheint mittlerweile in weite Ferne zu rücken. Inwiefern unterscheidet sich die Arktis in einem globalen Plus-1,5-Grad-Szenario von der Arktis in einem globalen Plus-2-Grad-Szenario?

Boetius: Ja, die CO2-Menge in der Atmosphäre, die für eine Erwärmung von durchschnittlich 1,5 Grad verantwortlich wäre, ist in wenigen Jahren erreicht. Denn die notwendige Klimaneutralität wird wohl nicht schnell genug – das heißt deutlich vor 2050 – erzielt. Es passiert aber dennoch sehr viel in Bezug auf Energiewende weltweit. Schon heute geht die Erwärmung mit so vielen Extremen einher, so vielen Schocks für das Leben auf der Erde, dass wir enorme gesellschaftliche Veränderungen zu erwarten haben. Wann, wo und wie ist schlecht vorherzusagen, doch die jetzt schon zu beobachtenden Vertreibungen von Menschen, die Gesundheitsrisiken und wirtschaftlichen Einbußen, aber auch die enormen Chancen durch immer günstigere regenerative Energien sind Treiber eines sozialen Wandels. Für die Arktis bedeutet eine globale 1,5-Grad-Erwärmung zudem ungefähr 6 Grad regionale Erwärmung, und das führt zu einem immer schnelleren Schmelzen von Meer- und Landeis sowie Permafrost. Das wiederum verstärkt den Klimawandel, Extremwetter und den Meeresspiegelanstieg. Ein Beispiel für die Unterschiede: Bei 1,5 Grad wird es alle paar Dekaden eine eisfreie Arktis geben, bei 2 Grad alle paar Jahre – mit fundamentalen Auswirkungen für alles Leben.

Ai: Warum muss uns das auch als Menschen, die deutlich südlich des Polarkreises leben, beunruhigen?

Boetius: Dafür gibt es mehrere Gründe. Allen voran ist der globale Meeresspiegelanstieg zu nennen – Grönlands Eismassenverlust entscheidet zum Beispiel über den Lebensraum auf den pazifischen Inseln und weltweit an den Küsten. Und dadurch, dass sich die Arktis schneller erwärmt als andere Weltregionen und Eis verliert, verändert sich der Temperaturgradient – also der Temperaturunterschied zwischen der nördlichen Polarregion und den niedrigeren Breiten. Die Forschung geht davon aus, dass das Folgen für den polaren Vortex und Jetstream hat, also die Starkwindbande, die in großen Höhen unser lokales Wetter prägen. Dadurch können sich bestimmte Wetterkonstellationen beispielsweise über Mitteleuropa länger festsetzen, statt relativ schnell vorüberzuziehen. Das kann dann zum Beispiel im Sommer langanhaltende Hitze und Dürre bedeuten – oder wie über Weihnachten geschehen, tödliche polare Kälte und Massenschneefall in Amerika und Japan.

Darüber hinaus entstehen wegen des Auftauens der Böden Probleme für die Infrastruktur, also etwa Pipelines oder Verkehrswege. Das Beispiel unserer Forschungsstation auf Spitzbergen habe ich vorhin schon angesprochen. Dasselbe passiert auch mit anderer Infrastruktur, so kommt es in Russland schon zu Erdölunfällen, weil Tanks und Pipelines brechen. Zudem verschieben sich die Fischbestände und die Verteilung anderer Tiere, mit Folgen für die Lebensvielfalt und Ökosysteme.

Es geht auch darum, dass es in Zukunft noch Eisbären oder das arktische Walross gibt. Was auch mir große Sorge bereitet, ist, dass uns hier unumkehrbare Verluste drohen, wenn das Meereis weiter zurückgeht in der Arktis. Und in der Antarktis gibt es nun auch erstmals einen negativen Trend. Wenn Arten ausgestorben sind, wenn immer mehr Grönlandeis geschmolzen ist und damit den Meeresspiegel erhöht, dann sind das Prozesse, die wir nicht wieder umkehren können.

Ai: Stichwort Eisschmelze: Hier gibt es ja Diskussionen ­darüber, inwiefern es bestimmte Kipppunkte gibt, bei denen das Verschwinden der Eisflächen sich sozusagen verselbstständigt. Können Sie einschätzen, ob wir tatsächlich vor so einem Punkt stehen oder ihn sogar schon überschritten haben?

Boetius: Aus der Erdgeschichte sind physikalische Kipppunkte bekannt. An solchen Punkten werden Elemente durch Störungen in einen anderen Zustand versetzt. Ein Beispiel wäre der Verlust des Meereises ab einer bestimmten Erderwärmung, oder das Abschmelzen des Grönlandeises. Bei der Bewertung solcher Kipppunkte haben Forscher kürzlich analysiert, dass wir besonders im arktischen Raum einigen der physikalischen Kipppunkte gefährlich nahekommen. Es ist davon auszugehen, dass biologische Kipppunkte – extremes Artensterben – oder soziale Kipppunkte noch schneller erreicht werden.

Ai: Eine oft erwähnte Folge der Eisschmelze ist zudem, dass Rohstoffe, die vorher praktisch unzugänglich waren, nun für eine Nutzung infrage kommen könnten. Worüber sprechen wir da konkret?

Boetius: Ganz wesentlich geht es dabei um Erdgas, daneben auch noch um Erdöl. Bisher hatte Meereis die Erkundung und Förderung solcher Rohstoffe eingeschränkt, einfach weil Eis ein Hindernis und eine Gefahrenquelle für die Schifffahrt und Infrastrukturen wie Bohrplattformen ist. Wenn Eis fragmentiert auf dem Wasser treibt und der Wind es vor sich herschiebt, kann ganz schnell eine Passage, die eben noch eisfrei war, blockiert werden. Bereits dort befindliche Schiffe, die etwa Rohstoffe abtransportieren wollen, können stecken bleiben. Eis kann auch so einen Druck aufbauen, dass es Schäden gibt, Öl oder Gas drohen dann im schlimmsten Fall auszutreten. Und das wäre in dieser Region besonders verheerend. Erstens wäre es dort extrem schwierig, Lecks zu reparieren oder ausgetretenes Öl wieder einzufangen, und zweitens arbeiten die Meeresbakterien, die die giftigen Kohlenwasserstoffe im Normalfall im Laufe der Zeit abbauen könnten, im kalten Wasser der Polarregion viel langsamer.

Auf der anderen Seite sind die Schätzungen über den Umfang der Rohstoffvorkommen in der Arktis, die zwischenzeitlich mal extrem hoch waren, inzwischen auch wieder nach unten korrigiert worden. Außerdem regt sich in der Arktis vielerorts Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen den Abbau von Erdöl und Erdgas, denn dieser Abbau tritt oft in Widerspruch mit anderen Ressourcen, die für die Menschen vor Ort wichtig sind: der endemischen Lebensvielfalt, der Gesundheit und dem Tourismus. Dessen Bedeutung hat in der Arktisregion stark zugenommen und das letzte, was Touristen sehen wollen, sind Ölplattformen oder ölverdrecktes Eis.

Neben Gas und Öl werden auch Vorkommen von Metallen und Seltenen Erden vermutet – wir erinnern uns noch an die Geschichte um den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der auch deswegen auf die Idee kam, Grönland zu kaufen. Aber auch hier wäre ich eher zurückhaltend, was die Prognosen über die Erschließbarkeit der Vorkommen angeht. Da sind auch mögliche Konsequenzen zuerst mit der Bevölkerung und den First Nation-Vertretern zu klären.

Ai: Als der Kalte Krieg zu Ende ging, gab es die Hoffnung, dass die Arktis zu einem Ort friedlicher Kooperation werden würde, gerade auch der Forschungskooperation. Können Sie einmal ein konkretes Beispiel, eine bestimmte Situation nennen, in der Sie als Polarforscherin auf internationale Kooperation angewiesen waren?

Boetius: Ganz allgemein gilt natürlich, dass wir in der Wissenschaft eine Kultur der internationalen Zusammenarbeit pflegen, die unabhängig davon funktioniert, woher die Personen stammen, mit denen wir kooperieren. Wenn Sie mich nach einem konkreten Beispiel fragen, wo wir ohne eine solche Kooperation nicht ausgekommen wären, fällt mir sofort unsere große MOSAiC-Expedition 2019/2020 ein, bei der Forschende aus 20 Ländern die Arktis im Jahresverlauf erforscht haben, auf unserer Polarstern eingefroren an einer driftenden Eisscholle. Mitten in das Projekt fiel dann die Coronapandemie, was dazu führte, dass viele der Zubringerschiffe ausfielen. Wir konnten dann aber auf die russische Forschungseisbrecher-Infrastruktur zurückgreifen, um unsere Leute dennoch von einem Ort zum anderen zu transportieren. Andernfalls hätten wir die Expedition damals abbrechen müssen. Unsere russischen Partnerinstitute haben tatsächlich beim Thema Zugang der Forschung zur Arktisregion bisher eine wichtige und hilfreiche Rolle gespielt, aber eben auch bei der Forschung. Das ist jetzt vorbei, und es ist schon klar, dass es da keine schnelle Heilung geben wird.

Und weil Sie eben das Ende des Kalten Krieges angesprochen haben: Die Tradition der Arktis als Raum der Kooperation ist ja deutlich älter. Der Spitzbergenvertrag von 1920 etwa ist einer der ältesten internationalen Kooperationsverträge überhaupt und hat bis heute Gültigkeit. Man hat damals Norwegen die Souveränität über die Inselgruppe übertragen, um für Arbeitsschutz – damals beim Kohleabbau – sowie für Umweltschutz im Auftrag aller zu sorgen. Das Land hat seinerseits seitdem für die friedliche Entwicklung der Region Sorge zu tragen und garantiert Bürgern aller Vertragsstaaten die Möglichkeit, dort wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten nachzugehen. Zudem hat auch der Arktische Rat bisher eine große Rolle in der Sicherung der Entwicklung der arktischen Region gespielt. Wenn wir in die jüngste Vergangenheit blicken, können wir sagen, dass sogar trotz des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zumindest letzte Reste von Kooperationsregeln noch funktionieren: So hält sich Russland meines Wissens bisher weiter an den sogenannten Polar Code der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, mit dem die Sicherheit von in der Polarregion verkehrenden Schiffen geregelt wird. Auch die Abstimmung mit Norwegen zur schonenden Nutzung von Fischerei-Ressourcen hält noch.

Ai: Und dennoch bedeutete der russische Angriff auf die Ukraine vom Februar 2022 auch für die Forschungskooperation in der Arktis eine Zäsur, oder?

Boetius: Natürlich. Das Frühjahr 2022 war ein großer Einschnitt. Im Zuge der Sanktionen gegen Russland wurden umgehend auch die Forschungskooperationen mit russischen Universitäten und anderen Forschungsinstitutionen abgebrochen. Die deutschen Wissenschaftsorganisationen und das Bundes­ministerium für Bildung und Forschung waren da sehr entschlossen, dann folgte kurze Zeit später auch der europäische Rahmen. Das Aussetzen der Kooperation mit russischen Forschungsinstitutionen und der Austritt aus dem Bologna-Prozess durch Russland auf diesem Gebiet haben für die Forschung natürlich negative Folgen, langfristig vor allem für Russland und die nächste Generation russischer Akademiker selbst. Was den Klimawandel angeht: Die sibirische Region ist entscheidend für das Verständnis von der Entwicklung des arktischen Meereises und der Natur insgesamt, genau wie mit Blick auf Methanemissionen aus dem schmelzenden Permafrost. Insofern ist das Ende der Zusammenarbeit dort vor Ort schädlich, auch für unser globales Wissen um die Entwicklung der Emissionen. Wir hatten ja gemeinsame Beobachtungsinfrastruktur dafür, können uns aber nicht mehr zu künftigen Expeditionen einladen. So verringert sich unser Wissen über die Arktis als Ganzes. Das ist ein Verlust, über den man sprechen muss, auch wenn klar ist, dass es politisch derzeit keine Alternative gibt.

Ai: Auch nicht im Rahmen der internationalen Wissenschaft?

Boetius: Auch als Wissenschaftlerin kann ich politische Haltungen und Rahmenbedingungen ja nicht völlig außer Acht lassen. Wenn ein Rektor einer russischen Universität, mit der wir zusammenarbeiteten, einen feurigen Brief verfasst, in dem er begrüßt, dass die Ukraine nun endlich „befreit“ werde, dann kann man nicht mehr gemeinsam Studentinnen und Studenten ausbilden. Denn wenn wir kein gemeinsames Verständnis von Werten und der Realität haben, wenn faktenfrei kommuniziert wird, dann funktioniert auch Wissenschaftskooperation einfach nicht mehr.

Auf der individuellen Ebene sieht die Sache aber etwas anders aus. Einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bereits gemeinsam an bestimmten nicht-militärischen Fragen forschen oder die zum Beispiel ein Stipendium beantragen wollen, sollen nicht einfach ihrer Nationalität wegen ausgeschlossen werden. Dazu haben sich in Deutschland das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit den Wissenschaftsorganisationen abgestimmt, auch unter Einbezug der europäischen und internationalen Ebene. Aber auf institutioneller Ebene ist die Zusammenarbeit tatsächlich eingefroren. Unsere Labore in Russland sind geschlossen, die Verträge ausgesetzt. Es gibt keinerlei Austausch auf Leitungsebene mit Personen aus dem dortigen Wissenschaftssystem.

Ai: Können Sie den Krieg auf individueller Ebene thematisieren?

Boetius: Nein, es ist kaum möglich, sich dazu auszutauschen. Schon aus dem einfachen Grund, dass in Russland allein die Bezeichnung des Krieges als Krieg hohe Haftstrafen nach sich ziehen kann, wie ja auch hierzulande bekannt ist. Es wäre einfach mit großer Unsicherheit und Gefährdung verbunden, offen zu sprechen, selbst wenn unsere Gesprächspartner das wollten. Das tut weh, wenn man Menschen so lange kennt, nicht offen sprechen zu können, und das schwächt aus meiner Sicht auch das gegenseitige Vertrauen. Der Krieg ist natürlich indirekt immer präsent, auch wenn Sie beispielsweise mit jemandem aus Russland gemeinsam ein Manuskript über etwas so Spezielles wie die Verbreitung der arktischen Muscheln schreiben. Gemeinsam kreativ zu sein, während wir bei uns gleichzeitig in der Zeitung von brutalsten Grausamkeiten lesen und in Russland von Befreiung: Das funktioniert mehr schlecht als recht. Manche Menschen kommen mit diesem Spannungsverhältnis gut klar, aber die meisten, mit denen ich spreche, empfinden es als äußerst unangenehm und haben aufgegeben.

Ai: Kann man sagen, dass es um die Forschungskooperation in der Arktis noch nie so schlecht bestellt war wie derzeit?

Boetius: Auf jeden Fall, leider. Es gibt noch letzte Reste von Zusammenarbeit oder Abstimmung. Die versuchen wir alle zu pflegen, aber es ist enorm mühsam. Und am allermeisten schadet das sicher der russischen Wissenschaft selbst.

Ai: Blicken wir zum Ende des Gesprächs noch einmal nach vorne: Gibt es eine bestimmte Frage, die Sie als Wissenschaftlerin unbedingt noch klären wollen?

Boetius: Eine Frage, die mich sehr beschäftigt, ist, warum das Leben in der Tiefsee so direkt und schnell auf Veränderungen an der Meeresoberfläche, etwa den Klimawandel, antwortet. Wir sprechen von Lebewesen, die eigentlich in permanenter Dunkelheit und Kälte etwa vier Kilometer unterhalb der Wasser­oberfläche agieren. Und dennoch kann ich an den Gemeinschaften in ihrer Zusammensetzung Veränderungen nachweisen, die eigentlich so weit entfernt an der Oberfläche ablaufen. Warum ist das so? Das ist eine Frage, die mit Blick auf Entwicklung von Biodiversität und die Rolle des Menschen sehr wichtig ist.

Mein zweites großes Projekt in der Arktis dreht sich um das Verständnis der Entwicklung des Arktischen Beckens. Mitten durch den Arktischen Ozean zieht sich ein gigantisches Rückensystem, der sogenannte Gakkelrücken. Ich habe die ersten Untersuchungen überhaupt zu den Lebensgemeinschaften an den dortigen See­bergen vulkanischen Ursprungs durchgeführt, wir haben diese Berge kartiert und am Meeresboden fremdes Leben gefunden. Da gibt es wasserstoffgetriebene Ökosysteme, die fast extraterrestrisch wirken, uralte Schwammgärten. Hier geht es also um die Entdeckung und Erkundung von Leben und Landschaften, die wir sonst auf der Erde noch gar nicht kennen.

Ai: Und wann geht es für Sie das nächste Mal auf Expedition in den Norden?

Boetius: Im August startet eine zweimonatige Expedition, die mich auch wieder an viele Standorte führen wird, die ich bereits 1993 und 2012 besucht habe. Natürlich bin ich gespannt, was ich dort, 30 Jahre nachdem ich diese Orte im Kontext meiner Doktorarbeit erstmals besucht habe, vorfinden werde. Es ist meine erste große Expedition nach fünf Jahren. Zudem sind es die letzten Jahre unserer Polarstern, des Forschungseisbrechers, den ich vorhin schon erwähnt habe. Sie ist mittlerweile mehr als 40 Jahre alt und wird in einigen Jahren abgelöst werden. Es war politisch eine ganz wichtige Entscheidung der Bundesregierung, dass es eine Nachfolgerin für das Schiff geben soll. Das ist eine riesige Investition Deutschlands in die internationale Polarforschungsinfrastruktur und in das Wissen, das wir damit generieren. Und natürlich ist es auch eine geostrategisch wichtige Investition, einen solchen neuen Eisbrecher zu bauen. Der Weg zu dieser Entscheidung war durchaus schwierig, aber wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen aus Kanada, den USA, Norwegen oder Dänemark spreche, dann wird das als ganz wichtiges Bekenntnis zugunsten einer friedlichen Zusammenarbeit gesehen.

 

Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.


 

Dr. Antje Boetius ist Professorin für Geomikro­biologie an der Universität Bremen und Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, in Bremerhaven. 2023 begleitet und unterstützt sie als Fellow die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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