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360°-Wende in Islands Politik

von Elisabeth Bauer, Nadja Cornelius-Pieplow

Nach dem Korruptionsskandal 2016 zurück zu neuer (alter) Mitte-Rechts-Regierung

Nach monatelangen schwierigen Verhandlungen wurde am 10. Januar 2017 die neue Regierung Islands vorgestellt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte musste die liberal-konservative Unabhängigkeitspartei Sjálfstæðisflokkurinn eine Koalition mit zwei Parteien eingehen. Dabei handelt es sich um die beiden kleineren liberalen Parteien Björt framtíð (Helle Zukunft) und Viðreisn (Reformpartei). Zusammen bilden sie eine knappe Minderheitsregierung, die somit anfällig sein kann – nicht zuletzt schon wegen ihrer unterschiedlichen politischen Einstellungen.

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Eigentlich wünschten sich die Isländer nach der Affäre um die Panama-Papers einen Neuanfang. Dass dieser nun mit vielen Fragezeichen versehen ist, hat u.a. mit dem neuen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei Sjálfstæðisflokkurinn, Bjarni Benediktsson, zu tun. Am 10. Januar stellte er in Reykjavik seine Regierung mit den beiden kleineren liberalen Parteien Björt framtíð (Helle Zukunft) und Viðreisn (Reformpartei) vor. Die vorgezogenen Neuwahlen Ende Oktober 2016 hatten keine klaren Mehrheitsverhältnisse gebracht und die Koalitionsverhandlungen erwiesen sich als zäh und langwierig.

Benediktsson kein unbeschriebenes Blatt

Ursache für die vorgezogenen Neuwahlen waren die Enthüllungen über Briefkastenfirmen in Steueroasen im Frühjahr 2016, die die isländische Regierung in eine Vertrauenskrise gestürzt hatte. Rund 22.000 aufgebrachte Isländer versammelten sich zu diesem Zeitpunkt vor dem Parlament und forderten den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Sigmundur Davíð Gunnlaugsson (Fortschrittspartei) und Neuwahlen. Gunnlaugsson hatte verschwiegen, dass seine Frau eine Offshore-Firma auf den Britischen Jungferninseln besitzt. Strafrechtlich konnte Gunnlaugsson nichts vorgeworfen werden, doch politisch war sein Verhalten untragbar. 600 Isländer tauchten namentlich in diesen so genannten „Panama Papers“ auf – für ein Land mit 340.000 Einwohnern eine stattliche Anzahl. Auch der 46-jährige Benediktsson, damals im Amt des Finanzministers, war darunter.

Während die rechtsliberale Fortschrittspartei (Framsóknarflokkurinn) Gunnlaugssons mit 11,5 % der Stimmen (2013 waren es 24,4 %) als Verlierer aus den Wahlen hervorging, scheint Benediktsson die Affäre um die Panama-Papers relativ unbeschadet überstanden zu haben. Seine konservative Unabhängigkeitspartei, welche seit 2011 auf europäischer Ebene der Allianz der Europäischen Konservativen und Reformer (AECR) angehört, wurde mit 29 % der Stimmen (21 Sitze) stärkste Kraft im Parlament. Dies mag auch daran liegen, dass Benediktsson im Gegensatz zu Gunnlaugsson seine Offshore-Firma bereits 2008 verkauft hatte. Als zweitstärkste Kraft ging die Links-Grüne-Bewegung (Vinstrihreyfingin – grænt framboð) mit 15,9 % der Stimmen (10 Sitze) aus den Wahlen hervor, gefolgt von der Piratenpartei (Píratar), die in Umfragen vor der Wahl vorübergehend sogar als stärkste Partei galt. Sie erzielte mit 14,5 % der Stimmen ebenfalls zehn Sitze.

Bericht über Steuerverluste zurückgehalten?

Infolge der Affäre um die Panama Papers gab Benediktsson, damals im Amt des Finanzministers, eine Untersuchung in Auftrag, die die Steuerverluste Islands durch den Abfluss von Vermögenswerten in Steueroasen untersuchen sollte. Die Ergebnisse des Berichts lagen seinem Finanzministerium offenbar bereits im September des letzten Jahres vor. Zwischen 2,8 und 6,5 Mrd. Isländische Kronen (23 bis 54 Mio. EUR) sollen Island demnach jährlich verloren gehen. Publik wurden die Ergebnisse jedoch erst kurz vor Benediktssons Amtsantritt. Spekulationen kursieren, dass die Wahlen anders ausgegangen wären, wenn der Bericht bereits zu einem früheren Zeitpunkt bekannt gewesen wäre. Benediktsson behauptete zunächst, er habe erst nach den Wahlen von dem Bericht erfahren. Auf beharrliche Nachfragen räumte er jedoch ein, sich „ungenau erinnert“ zu haben. Viele Isländer hatten mit einer neuen Regierung auch die Hoffnung auf ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft verbunden. Ob mit Benediktsson als neuem Ministerpräsidenten ein echter Neuanfang in Island erreicht werden kann, erscheint nach den jüngsten Entwicklungen jedoch fraglich.

Streitpunkt Europapolitik

Als Vorsitzender der stärksten Partei wurde Benediktsson mit der Regierungsbildung beauftragt. Die alte Regierungskoalition mit der rechtsliberalen Fortschrittspartei (Framsóknarflokkurinn) hatte ihre absolute Mehrheit verfehlt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte muss die Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn) eine Koalition mit zwei Parteien eingehen. Der Versuch Benediktssons, eine Regierung mit den Parteien Björt framtíð (Helle Zukunft) und Viðreisn (Reformpartei) zu bilden, war im ersten Anlauf gescheitert. Es konnte insbesondere keine Einigung über die Frage eines möglichen EU-Beitritts erzielt werden. Björt framtíð (Helle Zukunft) und Viðreisn (Reformpartei) sprachen sich für die Fortsetzung der Beitrittsgespräche aus, wogegen sich die Unabhängigkeitspartei wehrte. Die Reformpartei (Viðreisn) ist eine Abspaltung früherer Mitglieder der konservativen Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn), die mit dem Anti-EU-Kurs der Regierung nicht einverstanden waren. Anschließend hatte zunächst die Links-Grüne-Bewegung (Vinstrihreyfingin – grænt framboð) versucht, mit anderen Parteien eine Koalition zu bilden. Nachdem auch diese Gespräche erfolglos verlaufen waren, erteilte Staatspräsident Guðni Thorlacius Jóhannesson der Piratenpartei das Mandat, eine Regierung zu bilden. Sie bemühte sich um eine Koalition mit der Links-Grünen-Bewegung (Vinstrihreyfingin – grænt framboð), den Sozialdemokraten (Samfylking) sowie den Parteien Björt framtíð (Helle Zukunft) und Viðreisn (Reformpartei). Jedoch auch diese Verhandlungen liefen ins Leere. Erst der vierte Anlauf einer Regierungsbildung – und Bendiktssons zweiter Versuch – glückte, sicher nicht zuletzt deshalb, weil das große Streitthema hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft Islands zunächst auf Eis gelegt wurde. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Die Regierungsparteien können unterschiedliche Meinungen zu dem Thema haben und werden ihre gegenseitigen Ansichten respektieren.“ Zum Ende der Legislaturperiode soll laut Koalitionsvertrag das Parlament darüber entscheiden, ob es ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft geben soll.

Knappe Mehrheitsregierung aus der rechten Mitte

Die neue Drei-Parteien-Regierung hat 32 der 63 Sitze im Parlament (Althing). Eine knappe Mehrheit also. Würde nur ein einziger der 32 Mandatsträger aussteigen, wäre die Koalition bereits gefährdet. In Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Bildung eines Regierungsbündnisses bedeutet dies eine ernstzunehmende Gefahr für dessen Stabilität. Der konservative Parteichef Benediktsson zeigte sich gleichwohl sehr zufrieden mit dem erzielten Kompromiss.

Vergabe der Ministerposten ohne Überraschungen

Neben dem Posten des Regierungschefs übernimmt die konservative Unabhängigkeitspartei Sjálfstæðisflokkurinn das Außenministerium sowie die Ministerien für Bildung, Verkehr, Justiz, Industrie und Handel. Die Reformpartei Viðreisn stellt künftig die Finanz-, Fischerei-, Landwirtschafts- und Sozialminister. Die Partei Björt framtíð (Helle Zukunft) stellt den Gesundheits- sowie den Umweltminister.

Hier ein Überblick über ausgewählte Ministerposten:

Neuer Ministerpräsident Islands ist der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister (2013 bis 2017) Bjarni Benediktsson. Er ist bereits seit 2009 Vorsitzender der Unabhängigkeitspartei.

Benedikt Johannesson, Vorsitzender und Gründer der Viðreisn (Reformpartei), ist neuer Finanzminister Islands. Der Mathematiker und Investor ist Inhaber des Verlags Heimur, der u.a. auch das englischsprachige Magazin „Iceland Review“ publiziert. Auf der Website bzw. auf der Facebook-Seite „Iceland Review Online“ berichtet die Redaktion tagesaktuell über wichtige kulturelle, politische und wirtschaftliche Entwicklungen in Island.

Außenminister im Kabinett Benediktsson ist Gudlaugur Thor Thordarson (isl. Guðlaugur Þór Þórðarson). Seit 2003 ist er Abgeordneter des isländischen Parlaments und war von 2007 bis 2009 isländischer Gesundheitsminister.

Den für Island sehr wichtigen Posten des Fischerei- und Landwirtschaftsministeriums übernimmt die ehemalige Vizevorsitzende der Unabhängigkeitspartei Thorgerdur Katrin Gunnarsdottir Þorgerður Katrín Gunnarsdóttir. Von 2004 bis 2009 war sie Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, bevor sie 2016 für Viðreisn (Reformpartei) in den Parlamentswahlen antrat.

Die wohl schillerndste Figur in der neuen isländischen Regierung ist Gesundheitsminister Óttarr Proppé, Vorsitzender der Partei Björt framtíð (Helle Zukunft). Proppé ist

ehemaliger Sänger der Punkrockband „Dr. Spock“. Seine politische Karriere begann er mit der Partei „Die Besten“ (Besti flokkurinn) unter der Leitung von Jón Gnarr, dem

beliebtesten Komiker der Vulkaninsel. Proppé war Mitglied des Stadtrats in Reykjavík, bevor er 2015 zum Vorsitz der Björt framtíð (Helle Zukunft) berufen wurde.

Umweltministerin ist Björt Ólafsdóttir, die seit 2013 für Björt framtíð (Helle Zukunft) im Parlament saß. Sie ist eine international bekannte Feministin.

Pläne der neuen Regierung: Nullverschuldung im Visier

Bei ihrem Amtsantritt hat die neue isländische Regierung ein ambitioniertes Wirtschaftsprogramm vorgelegt. Basis dafür ist das kräftige Wirtschaftswachstum von rund 4% in 2016. Aufgrund eines boomenden Tourismussektors, einer robusten Binnennachfrage und eines derzeit günstigen Verhältnisses der Preise von Import- und Exportgütern hat die isländische Krone im Laufe des Jahres rund 15 % an Wert gegenüber dem Euro zugelegt.

Auf der Liste der Koalitionspartner steht nicht nur ein vollständiger Schuldenabbau innerhalb der nächsten zehn Jahre, sondern auch eine schrittweise Reprivatisierung von Banken, die im Zuge der Bankenkrise von 2008 verstaatlicht wurden. Außerdem ist die Eröffnung eines Stabilitätsfonds aus Erträgen der Energiewirtschaft geplant sowie eine Vereinfachung des Steuersystems zugunsten von kleinen und mittelständischen Betrieben. Ebenso soll die Währungspolitik künftig überprüft werden und die isländische Krone – nach starken Schwankungen in den letzten Jahren – stabilisiert werden.

Zudem sieht das Regierungsprogramm einige Verbesserungen im Gesundheitssektor vor. So soll die private Kostenbeteiligung im Gesundheitssystem reduziert werden. Weiterhin ist vorgesehen, den Bau eines neuen Universitätsklinikums voranzutreiben und den Zugang zu Fachärzten in ländlichen Gebieten zu verbessern.

Maßnahmen in der Flüchtlingspolitik sollen es Zuwanderern aus Nicht-EU-Ländern künftig erleichtern, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Erklärtes Ziel ist es zudem, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.

Resümee

Die Bankenkrise 2009 und die Enthüllungen der Panama Papers 2016 haben das Vertrauen der Isländer in die politische Klasse erschüttert. Dies zeigte sich auch vergangenen Sommer in der erstmaligen Wahl eines Nichtpolitikers, des Historikers Guðni Thorlacius Jóhannesson, zum Staatspräsidenten. Sein Vorgänger Ólafur Grímsson war ebenfalls in die Panama-Affäre verwickelt. Wenn auch unklar ist, ob mit Bjarni Benediktsson als neuem Ministerpräsidenten tatsächlich ein Neuanfang gelungen ist – die Reaktionen zeigen jedenfalls: Die isländische Zivilgesellschaft funktioniert.

Den Bericht inklusive Grafiken lesen Sie im pdf.

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