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Der Brüsseler Gipfel vom 18.-19. Juni 2004

von Dr. Peter R. Weilemann †

Historische Schritte

Das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel (als Regierungskonferenz und Europäischer Rat) dürfte zu einem historischen Datum im Europäischen Einigungsprozess werden. Die höchsten politischen Repräsentanten der Europäischen Union verabschiedeten den lange erhofften Vertrag über eine Verfassung für Europa.

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Die Genugtuung über diesen wichtigen Etappenschritt auf dem Weg zu einer handlungsfähigeren und demokratischeren Union wird auch nicht dadurch getrübt, dass es nicht gelang, sich auf einen neuen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu verständigen – in langfristiger Perspektive bedeutet dieser Schritt sogar einen Beitrag zur Stärkung des Parlamentes und damit auch zur besseren Legitimation und größeren Bürgernähe der Union. Die vom Europäischen Rat verabschiedeten Schlussfolgerungen beschränken sich überwiegend auf eine Bestätigung und Fortschreibung der Politik in den angesprochenen Politikbereichen.

Zu den Ergebnissen im einzelnen:

I. Streit um Kommissionspräsident

Die Europäische Volkspartei hatte schon im Vorfeld der Europawahl 2004 deutlich gemacht, dass die politische Heimat des nächsten Kommissionspräsidenten sich in der stärksten Fraktion des Europäischen Parlaments wiederfinden müsse. Mit ihrem beeindruckenden Wahlsieg – eine keineswegs selbstverständliche Wiederholung des Erfolges von 1999 – ist die EVP-ED Fraktion mit rund 270 – 280 Sitzen ( die genaue Zahl wird erst nach der endgültigen Entscheidung über die Zugehörigkeit bestimmter Parteien bzw. Abgeordneter feststehen) stärkste Fraktion geworden, weit vor den anderen Parteien (Sozialisten mit 200 Sitzen, Liberale mit 67 Sitzen, Grüne mit 42 Sitzen) . Der vom französischen Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler favorisierte Vorschlag des belgischen Premierministers Verhofstadt (Liberale Parteienfamilie) als Kommissionspräsident, ignorierte also das Votum der Wähler und der stärksten Fraktion.

Vor diesem Hintergrund haben die politischen Spitzen der EVP-Familien, unter starkem Engagement der Parteivorsitzenden der CDU, sich entschlossen, den liberalen Kandidaten zu verhindern und stattdessen als Gegenkandidat den Briten Chris Patten, Mitglied der Europäischen Kommission und ehemaliger Parteivorsitzender der britischen Konservativen, vorgeschlagen. Es war nicht vollständig ausgeschlossen, dass dieser Vorschlag keine Mehrheit im Europäischen Rat finden, aber doch sehr wahrscheinlich, dass er von den Befürwortern Verhofstadts abgelehnt werden würde. So kam es. Nach teilweise heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten zogen beide Kandidaten ihre Bereitschaft zur Kandidatur zurück. Die Entscheidung wurde vertagt ohne neue Namen zu nennen. In Hintergrundgesprächen, wohl auch während der internen Debatten, wurden als neue Kandidaten genannt der derzeitige französische Außenminister Michel Barnier, bis vor kurzem noch Mitglied der Kommission, der portugiesische Ministerpräsident Baroso und immer noch der Luxemburger Jean Claude Juncker, alle der EVP-Familie angehörend. Weitere Namen sind keineswegs ausgeschlossen. Viel Zeit bleibt nicht eine Lösung zu finden. Nach der bisherigen Planung sollte der neue Kommissionspräsident sich während der Plenartagung des neugewählten Parlamentes am 21. Juli dem Votum stellen, damit der Zeitplan für das weitere Nominierungs- und Anhörungsverfahren der restlichen 24 Kommissare eingehalten werden kann. Die neue Kommission soll ihr Amt am 1. November 2004 antreten.

Der Erfolg der EVP in dieser Personalsache war nicht leicht. Die Benelux-Vertreter taten sich naturgemäß schwer, den amtierenden belgischen Ministerpräsidenten nicht zu unterstützen. Griechenlands Ministerpräsident hatte Enthaltung im Falle einer Abstimmung angekündigt. Sprecher für die EVP in der Sache während der Ratssitzung war der italienische Ministerpräsident Berlusconi, dessen Image noch immer Schrammen aus seiner Ratspräsidentschaft schaden. Die entscheidenden taktischen und strategischen Impulse kamen von Seiten der CDU, der Parteivorsitzenden und dem noch amtierenden und aller Voraussicht wiedergewählten Fraktionsvorsitzenden der EVP-ED, Hans-Gerd Pöttering. Bemerkenswert bleibt, dass der französische Ministerpräsident Raffarin erklärte, er werde jede EVP-Entscheidung mittragen, der französische Staatspräsident Chirac sich aber den erreichten Konsensus seiner Parteifreunde nicht gebunden fühlte, sondern mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler die Kandidatur Verhofstadts durchboxen wollte. Einmal mehr drehte sich die deutsch-französische Achse in die falsche Richtung.

Gegen Luc Verhofstadt sprachen nicht nur das „formale“ Argument einer fehlenden Mehrheit im Parlament, sondern vor allem auch inhaltliche Gründe. Er gehörte zu den Hetzern beim Regierungswechsel in Österreich gegen Bundeskanzler Schüssel. Er war einer der Hauptbetreiber eines anti-amerikanischen Kurses während der Irak-Krise und stellte sich vehement gegen den geforderten Gottesbezug in der neuen europäischen Verfassung. Nicht zuletzt bleibt zu vermerken, dass seine Partei bei den Europa- und Regionalwahlen in Belgien zu den großen Verlierern gehörte und er als Spitzenkandidat auf der Europaliste gerade einmal gut die Hälfte der Stimmen als sein christdemokratischer Herausforderer Jean-Luc Dehaene einfuhr.

II. Die neue Verfassung

Vor dem Hintergrund der Personalkontroverse und angesichts der guten Vorbereitung der irischen Präsidentschaft wurden die strittigen institutionellen und nicht-institutionellen Fragen des Verfassungsentwurfes von den Staats- und Regierungschefs kaum noch, wenn überhaupt diskutiert. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Ergebnis doch noch bemerkenswerte Änderungen am Konventsentwurf vorgenommen wurden.

  • Der Hauptpunkt, an dem der Brüsseler Dezembergipfel scheiterte, wurde folgendermaßen entschärft. Die neue Ausstattung der doppelten Mehrheit sieht vor, dass 55 % der Stimmen der Mitgliedstaaten, dabei aber 15 Länder und 65 % der Bevölkerungszahl einer Entscheidung zustimmen müssen. Polen setzte durch, dass, sollte man in die Nähe einer Ablehnung kommen, nochmals verhandelt werden müsse. Auch die zusätzliche Schwelle von fünfzehn Mitgliedsstaaten ist neu, aber eher Augenwischerei, denn bei Inkrafttreten der Regelung dürfte die EU auf 27 bzw. bereits 28 Mitglieder angewachsen sein.
  • Bei der Zahl der Kommissare einigte man sich darauf, dass bis 2014 jedes Land durch ein Mitglied in der Kommission vertreten ist. Danach soll das Gremium nur mehr 18 Mitglieder umfassen. Auf österreichische Anregung hin, kann aber die alte Regelung bei Einstimmigkeit über 2014 hinaus verlängert werden.
  • Die Mindestzahl der Sitze kleiner Staaten im Europäischen Parlament wird auf sechs erhöht (zwei mehr als im Konventsentwurf vorgesehen). Insgesamt soll die Zahl der Abgeordneten künftig 750 betragen. Als Morgengabe hatte sich die deutsche Bundesregierung schon früh bereit erklärt, die Zahl der deutschen Sitze im Parlament von heute 99 auf später 96 zu verringern. Damit ist man vom Prinzip der Repräsentativität zwar noch weit entfernt (ungefähr 117 Sitze), Deutschland war aber das einzige bevölkerungsreiche Land, das bei der letzen Verringerung der Anzahl der Sitze ungeschoren davon gekommen war. Das Parlament selbst wird beauftragt die neue Sitzverteilung auszuarbeiten.
  • Für das Europäische Parlament enttäuschend ist auch, dass seine Haushaltsrechte gegenüber dem Konventsentwurf zurückgeschnitten wurde, insofern als es den Haushalt nicht in letzter Instanz ablehnen kann. Bei Differenzen wird jetzt im Vermittlungsausschuss entschieden. Allerdings soll das Mitentscheidungsverfahren beim Haushalt künftig sowohl nicht mehr bloß für die nicht-obligatorischen sondern auch für die obligatorischen Ausgaben gelten.
  • Die in den letzten Tagen nochmals heftig diskutierte und von Deutschland favorisierte Idee, die Rolle der Kommission bei der Umsetzung des Stabilitätspaktes einzuschränken, fand Eingang in die neue Verfassung. Sie wird künftig nur noch Empfehlungen zur Umsetzung soliderer Haushaltspolitik geben können, die dann von der Mehrheit des Rates – nicht mehr einstimmig – abgelehnt werden können.
  • Letztlich sei auch noch vermerkt, dass die britische Regierung bei der Verteidigung ihrer roten Linien (Festhalten von Einstimmigkeit in bestimmten Politikbereichen) erfolgreich war.

Diese Abstriche vom Konventsentwurf haben diesen sicherlich nicht verbessert, betrachtet man sie mit der Brille der Gemeinschaftsmethode. Auch entfernt sich die neue Verfassung noch ein Stückchen weiter vom Ziel der transparenten Einfachheit. Doch vor dem großen qualitativen Sprung hin zu einer Europäischen Verfassung, die die Europäische Union handlungsfähiger macht, ihre Kompetenzen klarer zuordnet und über 450 Millionen Europäern ein gemeinsames Grundgesetz gibt, nehmen sich diese Nachbesserungen mehr als vertretbar aus. Die deutsche Bundesregierung hat in dieser letzten Phase, durch Vermittlung in der Frage der doppelten Mehrheit gegenüber Spanien oder Kompromisssignale bei der Zahl der Parlamentssitze einerseits, konstruktive Beiträge zu leisten versucht. Bedauerlich aber bleibt ihr Verhalten in der Stabilitätspaktfrage oder beim Gottesbezug.

Der Juni-Gipfel in Brüssel ist also ein historischer Schritt. Aber das Ziel ist noch nicht erreicht. Vor Inkrafttreten muss die Verfassung durch die nationalen Parlamente aller Mitgliedsstaaten sowie das EP ratifiziert werden. Die Hürde wird höher, insofern in einigen Ländern wie Großbritannien, Dänemark, Luxemburg oder Irland Referenden sicher, in einigen anderen wie Tschechien, Lettland, Polen, Niederlande, Ungarn, Spanien und Frankreich sehr wahrscheinlich. Auf der anderen Seite haben Parlament, wie Rat und Kommission, damit begonnen zu prüfen, welche Verfahren und Regelungen vorgezogen, d.h. vor Inkrafttreten der Verfassung praktiziert werden können.

III. Zu den Schlussfolgerungen des Rates

Wie meistens ist auch bei diesem Gipfel der inhaltliche Bogen der Schlussfolgerungen weit gespannt: Er reicht von Terrorismusbekämpfung über finanzielle Perspektiven und Erweiterung bis zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Staatschefs begrüßen die bislang gemachten Fortschritte bei der Terrorismusbekämpfung, bemängeln aber die mangelnde Umsetzung nationaler Verpflichtungen. Bei den finanziellen Perspektiven beschränkt sich der Europäische Rat darauf, den Bericht des irischen Ratsvorsitzenden zur Kenntnis zu nehmen, der die bekannten Divergenzen aufzeigt. Auch beim Thema Erweiterung gab es keine Überraschung. Die Zieldaten 2007 für Rumänien und Bulgarien, das alle Kapitel der Verhandlungen vor kurzem abgeschlossen hat, wurden bestätigt, ebenso der Termin für die Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien ist für 2005 anvisiert. Im außen- und sicherheitspolitischen Bereich werden die begonnenen institutionellen und strategischen Neuerungen fortgeschrieben. Der Europäische Rat begrüßt die Einigung über die gemeinsame Aktion zur Einrichtung der Europäischen Verteidigungsagentur. Als Beitrag zur Bewältigung der Irakkrise will die EU einen politischen Dialog mit der neuen Übergangsregierung aufnehmen. Auch wird die Kommission ein Büro in Bagdad eröffnen, vor allem zur Steuerung der Wiederaufbauhilfen.

Bemerkenswert ist noch die Benennung des neuen Sonderbeauftragten für den Kosovo, Soren Jesse Petersen. Vor dem Hintergrund der Stichwahlen in Serbien fordert der Europäische Rat die Wähler dort auf, von ihrem demokratischen Recht Gebrauch zu machen und Serbien aus der Isolation zu führen (der demokratische Präsidentschaftskandidat Boris Tadic befindet sich am 21. Juni auf Einladung der KAS in Brüssel und wird u.a. Gespräche mit dem Hohen Beauftragten Solana und mehreren Kommissaren führen).

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