Am Morgen des 20. November 1945 begann vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg (IMG) der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des „Dritten Reiches“. Die Eröffnungssitzung hatte bereits einen Monat zuvor, am 18. Oktober 1945, im Gebäude des Alliierten Kontrollrats in Berlin stattgefunden, wo die Richter des IMG im Sitzungssaal des Berliner Kammergerichts vereidigt worden waren – dem Ort, an dem nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 der sogenannte „Volksgerichtshof“ unter Vorsitz von Roland Freisler getagt hatte. Die acht Richter des IMG kamen aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion. Zum Vorsitzenden wurde Sir Geoffrey Lawrence gewählt, ein früherer Kronanwalt und Rechtsberater des damaligen Prince of Wales, des späteren Königs Eduard VIII. Der britische Kronrichter galt als ebenso erfahren wie umsichtig. Umstritten war hingegen der Leiter der sowjetischen Delegation, Iona Nikitschenko, der von 1936 bis 1938 bereits Richter bei den Moskauer Schauprozessen gewesen war und richterliche Unabhängigkeit für überflüssig hielt, da sie seiner Meinung nach nur „zu unnötigen Verzögerungen“ führe. In Nürnberg prallten also Rechtstraditionen aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten.
Unterdessen warteten die Angeklagten im Zellengefängnis des Justizpalastes in der Fürther Straße in Nürnberg auf ihren Prozess. Die meisten von ihnen waren zwischen Mai und September 1945 in amerikanischem Gewahrsam im Camp Ashcan – dem Palace Hotel im luxemburgischen Bad Mondorf – untergebracht gewesen und verhört worden, ehe sie zum Prozess nach Nürnberg gebracht wurden. Angeklagt waren 24 führende Persönlichkeiten des NS-Regimes sowie sechs Organisationen: die deutsche Reichsregierung, das Führerkorps der NSDAP, die SS und der SD, die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und die SA sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht. Die prominentesten Angeklagten waren der ehemalige „Reichsmarschall“ und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, Hitlers „Stellvertreter“ Rudolf Heß, Außenminister Joachim von Ribbentrop, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Rüstungsminister Albert Speer, Großadmiral Karl Dönitz und der Chef der Sicherheitspolizei und des SD sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Ernst Kaltenbrunner, um nur einige zu nennen. Ihnen verblieben nach der Vereidigung der Richter in Berlin noch vier Wochen, um sich mit der Anklageschrift vertraut zu machen, die ihnen jetzt ausgehändigt wurde.
Vorgeschichte
Vorschläge für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern waren bereits während des Krieges von der United Nations War Crimes Commission erarbeitet worden, die seit dem 20. Oktober 1943 in London tagte und bis 1948 bestand. Ihr gehörten 17 Nationen an, nicht jedoch die Sowjetunion, deren Forderung nach sieben stimmberechtigten Sitzen verschiedener Republiken der UdSSR nicht erfüllt worden war. Zum Ausgangspunkt für die späteren Kriegsverbrecherprozesse wurde daher erst die „Moskauer Erklärung“ vom 30. Oktober 1943, die auf einer Außenministerkonferenz der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion in Moskau verabschiedet worden war und sich im Schlussteil auch mit den deutschen Gräueltaten im besetzten Europa beschäftigte. Der Deklaration zufolge sollten die Täter zur Aburteilung grundsätzlich in die Länder ausgeliefert werden, in denen sie Verbrechen begangen hatten. Für Täter, deren Verbrechen nicht mit einem bestimmten Ort verbunden waren, wurde aber eine gemeinsame Bestrafung durch die drei Alliierten vorgesehen. Ein Tribunal der Siegermächte, nicht die Gerichtsbarkeit der United Nations War Crimes Commission sollte also über die Kriegsverbrecher entscheiden.
Zur Umsetzung der Moskauer Erklärung schlossen die Alliierten – diesmal unter Einbeziehung der provisorischen Regierung Frankreichs – am 8. August 1945 in London ein formelles „Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse“, dem weitere 19 Staaten beitraten. Darin enthalten war auch ein 30 Artikel umfassendes Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, das die Prozessordnung und die Rechtsgrundlagen der Verhandlungen regelte. Darin wurden vier Anklagepunkte definiert:
- Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden;
- Teilnahme an der Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung von Angriffskriegen;
- Kriegsverbrechen; sowie
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Verfolgung und Ermordung von Oppositionellen und die Deportation, Versklavung und Ausrottung von Angehörigen der Zivilbevölkerung vor und während des Krieges.
Dem Statut zufolge sollte der von den USA, Großbritannien, Frankreich und der UdSSR gebildete Militärgerichtshof der „gerechten und schnellen Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher“ dienen. Allerdings war das Verfahren in mehreren Punkten umstritten. Vor allem die Tatsache, dass sich die Angeklagten auch für Verbrechen zu verantworten hatten, für die zuvor keine Strafbarkeit festgelegt worden war, bedeutete nach Auffassung von Kritikern eine Verletzung des zentralen Rechtsgrundsatzes, dass es ohne vorher erlassenes Gesetz kein Verbrechen geben konnte („nullum crimen sine lege praevia“). Dies galt nicht zuletzt für den neu formulierten Tatbestand der „Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges“, der nach Meinung von Prozesskritikern schon deshalb problematisch war, weil die Alliierten ebenfalls Angriffskriege geführt hätten. Zudem wurde bemängelt, dass Nikitschenko und der französische Richter Robert Falco sich bereits an der Ausarbeitung des Londoner Statuts beteiligt hatten, so dass die Trennung von Richteramt und Abfassung der Prozessordnung nicht eingehalten worden war. Vielfach wurde deshalb der Vorwurf einer „Siegerjustiz“ erhoben, bei der es weniger um die Suche nach Gerechtigkeit als um die Rache der Sieger gegenüber den Besiegten gehe.
Die Hauptverhandlung in Nürnberg
Die Hauptverhandlung, die am 20. November 1945 in Nürnberg begann, dauerte mehr als zehn Monate und enthüllte erstmals nach dem Ende des NS-Regimes vor der gesamten Weltöffentlichkeit das wahre Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Nürnberg wurde von den Alliierten bewusst als Prozessort gewählt, weil Hitler die Frankenmetropole 1933 offiziell zur „Stadt der Parteitage“ ernannt hatte. 33 von der Anklagebehörde benannte Zeugen wurden hier nun mündlich befragt. 61 Zeugen, zu denen noch 19 der Angeklagten hinzukamen, die nach dem anglo-amerikanischen Strafverfahrensrecht selbst Zeugen sein konnten, sagten für die Verteidigung aus. Weitere 143 Zeugen machten ihre Aussagen für die Verteidigung in Form schriftlicher Antworten auf Fragebogen. Zudem wurden dem Gericht Tausende von Dokumenten vorgelegt, darunter 38 000 eidesstattliche Erklärungen, versehen mit 155 000 Unterschriften, um die unter Anklage stehenden Personen und Organisationen zu be- oder entlasten. Das Sitzungsprotokoll umfasste schließlich 16 000 Seiten. Auch wenn zu diesem frühen Zeitpunkt nach Kriegsende immer noch viele Fragen offenblieben, wurde damit das Bild des „Dritten Reiches“ maßgeblich zurechtgerückt, das von der nationalsozialistischen Propaganda auf groteske Weise verzerrt worden war.
Dazu trugen auch Dokumentarfilme über deutsche Gräueltaten bei, die während des Prozesses gezeigt wurden. Themen waren unter anderem Auschwitz, Majdanek und weitere Konzentrations- und Vernichtungslager sowie das tschechische Lidice und die Zerstörung von Smolensk. Art und Ausmaß der deutschen Verbrechen wurden damit nicht nur den Angeklagten, sondern auch der internationalen Öffentlichkeit bildlich vor Augen geführt, da der Prozess von rund 250 Zeitungsreportern und Rundfunkberichterstattern aus aller Welt beobachtet wurde. Akkreditiert waren aber nur Inhaber eines ausländischen Passes oder Staatenlose, darunter viele bekannte Schriftsteller und Journalisten wie Martha Gellhorn, Ilja Ehrenburg, Alfred Döblin, Erich Kästner, Erika Mann, John Dos Passos, Gitta Sereny, William L. Shirer und John Steinbeck. Außerdem wurde der gesamte Prozess auf Film und Fotos dokumentiert.
Von den 24 Angeklagten waren allerdings nur 21 im Gerichtssaal anwesend. Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, hatte sich dem Prozess am 25. Oktober 1945 durch Selbstmord entzogen. Gegen den Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, dessen Aufenthaltsort unbekannt war, musste in Abwesenheit verhandelt werden. Und im Fall von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der nach mehreren Schlaganfällen bettlägerig war und nicht vor Gericht erscheinen konnte, wurde das Verfahren am 15. November 1946 wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Als die Schlussanträge gestellt wurden, forderten die französischen und sowjetischen Anklagevertreter die Todesstrafe für alle Angeklagten, während der britische Ankläger unterschiedliche Urteile beantragte. Der amerikanische Ankläger gab keine klare Empfehlung ab.
Nach 218 Prozesstagen und 403 öffentlichen Sitzungen wurden am 30. September und 1. Oktober 1946 die Urteile verlesen. Zwölf Angeklagte wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, unter ihnen in Abwesenheit Martin Bormann, drei zu lebenslanger Haft und vier zu langjährigen Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden freigesprochen und vier nationalsozialistische Organisationen (das Korps der politischen Leiter der NSDAP, Gestapo, SS und SD) für verbrecherisch erklärt. Nicht als „verbrecherische Organisationen“ eingestuft wurden hingegen die Reichsregierung sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht, bei denen der Personenkreis „klein genug für Einzelverfahren“ sei. Aber auch die SA entging der Klassifizierung als verbrecherisch, da ihre Mitglieder, so das Gericht, nach 1939 „im Allgemeinen“ nicht an verbrecherischen Handlungen teilgenommen hätten, weil die SA nach dem Röhm-Putsch 1934 bedeutungslos gewesen sei. Bemerkenswert war zudem, dass kein einziger Angeklagter nur wegen des umstrittenen neuen Straftatbestandes „Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges“ verurteilt wurde. So wurden insbesondere die Todesurteile, die am 16. Oktober 1946 zur Vollstreckung kamen, ausnahmslos mit den Anklagepunkten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründet. Theoretisch hätten damit schon die herkömmlichen deutschen Straftatbestände zur Verurteilung ausgereicht.
Folgeprozesse und sonstige Verfahren
Nach Abschluss des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher drängten Frankreich und die Sowjetunion unverzüglich auf einen zweiten Prozess vor dem IMT, um deutsche Rüstungsindustrielle und Bankenvertreter anzuklagen. Die französische Regierung unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Léon Blum wollte damit offenbar auch die strafrechtliche Verfolgung eigener Wirtschaftskollaborateure erleichtern. Die zunehmenden Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im beginnenden Kalten Krieg ließen eine gemeinsame Prozessführung jedoch nicht mehr zu. In den vier Besatzungszonen in Deutschland fanden daher Verfahren gegen Kriegsverbrecher nur noch vor Gerichten der jeweiligen Besatzungsmacht statt. Die rechtliche Grundlage dafür bildete das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, das dem Londoner Statut nachempfunden war und die Militärgouverneure der einzelnen Besatzungszonen ermächtigte, Prozesse zur Bestrafung von Personen zu führen, „die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben“.
Die bekanntesten Verfahren nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess waren die zwölf Nachfolgeprozesse, die ab Oktober 1946 unter alleiniger amerikanischer Regie im Nürnberger Justizpalast geführt wurden. Hauptankläger war hierbei Telford Taylor, der im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher beigeordneter Ankläger des amerikanischen Hauptanklägers Robert H. Jackson gewesen war. In den zwölf Verfahren wurden 184 wichtige Funktionsträger des NS-Regimes aus Verwaltung, Militär, Justiz, Industrie und SS zur Verantwortung gezogen. Im Einzelnen richteten sich die Prozesse gegen Ärzte zur Ahndung von „Euthanasie“ und Menschenversuchen, Juristen, Industrielle, Generale der Wehrmacht, Angehörige des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS und Angehörige von Einsatzgruppen der SS sowie gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes und anderer oberster Reichsbehörden im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess. Die Nürnberger Nachfolgeprozesse endeten am 11. April 1949 mit dem Urteil im Wilhelmstraßen-Prozess.
Insgesamt wurden vor amerikanischen Militärgerichten 1941 Personen verurteilt, davon 324 zum Tode. Zu den Prozessen, die in der amerikanischen Besatzungszone geführt wurden, zählten auch die Dachauer Prozesse, die am 15. November 1945 auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau vor einem amerikanischen Militärtribunal begannen. In ihnen mussten sich vor allem Angehörige der Wachmannschaften, aber auch Lagerärzte, denen Menschenversuche vorgeworfen wurden, aus den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen verantworten. In anderen Verfahren ging es um die Tötung von US-Soldaten während der Ardennenoffensive unter Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht, um Lynchjustiz an abgeschossenen amerikanischen Fliegern oder um die Ermordung von psychisch Kranken. Britische Militärgerichte, die unter anderem Verfahren gegen die Generalfeldmarschälle Albert Kesselring und Erich von Manstein durchführten, verurteilten 1085 Angeklagte, davon 240 zum Tode, französische Militärgerichte 2107, davon 104 zum Tode. Insgesamt wurden in den drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland bei Prozessen vor Militärgerichten 5133 Angeklagte verurteilt. In der Sowjetischen Besatzungszone wird die Gesamtzahl der Verurteilten auf etwa 45 000 geschätzt, die häufig nicht in ordentlichen Verfahren, sondern auf administrativem Wege abgeurteilt wurden.
Prozesse gegen Funktionäre des NS-Staates, Besatzungsoffiziere oder SS-Angehörige gab es aber auch in den von der deutschen Besatzung befreiten Ländern. Dies galt für Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien ebenso wie für Frankreich, Italien, Belgien, Dänemark, Luxemburg, Norwegen und die Niederlande. Deutsche Gerichte spielten bei der Verfolgung von NS-Verbrechen lange Zeit nur eine Nebenrolle. So gelten die Waldheimer Prozesse in der DDR, die von April bis Juni 1950 im Zuchthaus der sächsischen Kleinstadt Waldheim – überwiegend wegen behaupteter Verbrechen gegen die Menschlichkeit – stattfanden, als Musterbeispiel fehlender Rechtsstaatlichkeit. In der Bundesrepublik begannen die Verfahren mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess 1957/58 und den drei Auschwitz-Prozessen von 1963 bis 1968 erst sehr spät und kamen mit dem berüchtigten „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ von 1968, das die Beihilfestrafbarkeit in bestimmten Fallkonstellationen herabsetzte und damit zur rückwirkenden Verjährung der meisten Straftaten im Mai 1960 führte, nahezu völlig zum Erliegen.
Auswirkungen auf das Völkerstrafrecht
Die Nürnberger Prozesse dienten nicht nur der Strafverfolgung und der Durchsetzung des Rechts im Angesicht ungeheuerlicher Verbrechen, sondern leisteten ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Völkerstrafrechts. So wurden die Rechtsgrundsätze, die im Nürnberger Prozess galten, nicht nur vom Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten übernommen, der unter Beteiligung von elf Ländern vom 3. Mai 1946 bis zur Urteilsverkündung am 12. November 1948 in Tokyo zahlreiche militärische Befehlshaber sowie Politiker, Diplomaten und hohe Staatsbeamte unter Anklage stellte und wegen Kriegsverbrechen sowie der Führung von Angriffskriegen verurteilte. Vielmehr fanden sie als „Nürnberger Prinzipien“ auch Eingang in die Politik der Vereinten Nationen, nachdem deren erster Generalsekretär Trygve Halvdan Lie am 24. Oktober 1946 vorgeschlagen hatte, die in den Nürnberger Prozessen angewandten Prinzipien zu einem ständigen Teil des internationalen Rechts zu machen. In der kodifizierten Fassung der Prinzipien vom 29. Juli 1950 heißt es nun, dass jede Person, die ein völkerrechtliches Verbrechen begeht, hierfür strafrechtlich verantwortlich ist. Dies gilt auch dann, wenn das nationale Recht dafür keine Strafe androht. Niemand ist davon ausgenommen – weder Staatsoberhäupter noch Regierungsmitglieder und auch nicht diejenigen, die auf „höheren Befehl“ handeln oder das Verbrechen nur als Mittäter begehen. Als völkerrechtliche Verbrechen werden ausdrücklich Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit genannt.
Was zunächst nicht gelang, war zum einen die Verabschiedung eines internationalen Strafgesetzbuchs für „Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ und zum anderen die Gründung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs für diese Verbrechen. Zwar fanden die Nürnberger Straftatbestände bald immer mehr Zustimmung. Aber eine internationale Gerichtsinstanz zu ihrer Anwendung gab es nicht. Erst mit dem Römischen Statut von 1998 wurde die Grundlage geschaffen, einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, der am 1. Juli 2002 in Den Haag seine Tätigkeit aufnahm und inzwischen für 123 Staaten zuständig ist. Auch wenn die „Nürnberger Prinzipien“ heute noch nicht überall gelten, führte der Impuls, der von Nürnberg ausging, im Rückblick gesehen doch zu einem neuen Völkerstrafrecht, das Individuen für Staatshandeln strafrechtlich verantwortlich macht und die Immunität von Regierungen ablehnt.
Die Nürnberger Prozesse waren deshalb auch kein Tribunal der Rache. Obwohl die Verbrechen, um die es ging, einzigartig waren, wurden die Prozesse mit dem Ziel geführt, in jedem Fall die individuelle Schuld festzustellen; einen Kollektivschuldvorwurf gab es nicht. Die Deutschen selbst wären zu einer solchen Schuldfeststellung kaum in der Lage gewesen, wie die Erfahrung der 1950er und 1960er Jahre lehrt. Es bedurfte somit einer internationalen Justiz, um die notwendigen Verfahren durchzuführen und mit der Aufklärung über die nationalsozialistische Diktatur zu beginnen. Die Nürnberger Prozesse waren daher nicht nur ein Instrument bei der Suche nach Gerechtigkeit, sondern trugen auch dazu bei, in Deutschland die Voraussetzungen für die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schaffen.
Erschienen am 19. November 2020.