Die Gründung des Deutschen Caritasverbandes am 9. November 1897 markiert die Einführung der organisationalen Struktur moderner Wohlfahrtspflege im Bereich der katholischen Kirche. Die gelebte Nächstenliebe aber war von Anfang an ein herausragendes Wesensmerkmal des Christentums und zugleich ein Missionsfaktor ersten Ranges. Grundgelegt ist sie in der Bibel und namentlich in den Worten und Taten Jesu, der das Gebot der Nächstenliebe gleichberechtigt neben das der Gottesliebe stellt (Mt 22,34-40). Was das meint, illustriert das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), die biblische Ur-Erzählung der christlichen Caritas.
Die Apostelgeschichte berichtet von der Wahl von sieben Diakonen in der Jerusalemer Urgemeinde, deren Aufgabe die Versorgung der Witwen und der „Dienst an den Tischen“ war (Apg 6,1-7). Schon in der frühen Kirche wurde die Nächstenliebe also nicht nur als individuelle christliche Tugend begriffen, sondern auch als institutionelle Aufgabe der Kirche. Dabei knüpfte das Christentum zwar an jüdische Traditionen an, aber im Kontext der griechisch-römischen Antike war die christliche Diakonie eine Aufsehen erregende Besonderheit. Hilfe für Arme und Notleidende wurde weder in Griechenland noch in Rom als eine moralische oder religiöse Pflicht angesehen. Die praktizierte Nächstenliebe faszinierte Zeitgenossen und bescherte den christlichen Gemeinden, trotz der wiederkehrenden Phasen der Verfolgung, immer mehr Taufbewerberinnen und –bewerber.
Nach der konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert konsolidierten sich die kirchlichen Strukturen und damit auch die institutionalisierte Diakonie. Insbesondere die neu entstehenden klösterlichen Gemeinschaften entwickelten sich zu Zentren der Armen- und Krankenfürsorge. In den Synoden von Aachen (816–819), die sich mit der Ordnung der geistlichen Gemeinschaften im Fränkischen Reich beschäftigten, wurde bestimmt, dass jedes Kloster und Kanonikerstift ein Hospital unterhalten sollte.
Kommunalisierung der Armenfürsorge
Erst mit dem Beginn der Neuzeit wurde die Armenfürsorge aus der nahezu exklusiven kirchlichen Domäne gelöst und zunehmend als öffentliche Aufgabe angesehen. Das hatte auch mit der Reformation zu tun. Denn in den Städten, die sich der Reformation anschlossen, waren die Magistrate schon allein durch den Wegfall der Köster, Stifte und bischöflichen Einrichtungen gezwungen, sich der Armenfürsorge anzunehmen. Mit der Kommunalisierung ging allerdings auch ein Wertewandel einher, weg von dem positiven christlichen Bild der Armen hin zu einem negativen Verständnis, in dem die Bedürftigen vor allem als Belastung der Allgemeinheit begriffen wurden. In vielen Städten wurden Arme in Zucht- und Arbeitshäuser abgeschoben, um sie zu einem produktiven Leben „umzuerziehen“.
Obwohl die kommunalen Anstalten in den Städten die Strukturen kirchlicher Wohlfahrt weitgehend verdrängten, blieb doch der Großteil der Armenfürsorge, insbesondere in ländlichen Regionen, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in kirchlicher Hand. Erst die Französische Revolution verursachte auch in diesem Bereich grundstürzende Umwälzungen. In Frankreich wurden bereits Anfang 1790 alle geistlichen Orden aufgehoben, die nicht in der Krankenpflege und im Unterrichtswesen tätig waren. 1792 kam es auch zur Aufhebung der caritativen Orden. Infolge der Revolutionskriege wurde diese Staatskirchenpolitik auch nach Deutschland exportiert. Im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden nicht nur die geistlichen Reichsstände aufgehoben, sondern auch viele bischöfliche Güter, Klöster und Kollegiatstifte enteignet. Damit fiel ein Großteil der Infrastruktur der kirchlichen Diakonie weg. Aber der Verlust von politischer Macht und wirtschaftlicher Stärke entfaltete zugleich eine kathartische Wirkung. Er bildete den Ausgangspunkt für eine pastorale und spirituelle Erneuerung der katholischen Kirche. Aus einer Institution, „deren geistlicher Charakter solange durch Herrschaft und Besitz überlagert und manchmal beeinträchtigt gewesen war, wurde eine ganz und gar religiöse, auf die Religion konzentrierte Institution und Gemeinschaft“ (Thomas Nipperdey).
Entwicklung des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert
Auch in der Restaurationsphase und während des Vormärz blieb der Katholizismus in Deutschland unter Druck. Das lag nicht nur daran, dass die Beschlüsse des Wiener Kongresses (1815) zur Folge hatten, dass Millionen Katholiken unter die Herrschaft protestantischer Fürsten gerieten, etwa das Rheinland und Westfalen als preußische Westprovinzen. Neben Alltagsdiskriminierung gegenüber der katholischen Mehrheitsbevölkerung gab es infolgedessen handfeste Konflikte. Preußische Gesetze zum personenstandsrechtlichen Umgang mit konfessionsverschiedenen Ehen standen zum Beispiel im Widerspruch zum katholischen Kirchenrecht. Als der Kölner Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering deshalb seine Priester anwies, bei Eheschließungen die Normen des Kirchenrechts zu beachten, wurde er Ende 1837 von den preußischen Behörden verhaftet und unter scharfen Hausarrest gestellt. Dieses „Kölner Ereignis“ wurde zum Fanal des sozialen und politischen Katholizismus in Deutschland. Die nach den Revolutionsjahren darniederliegende Glaubens- und Frömmigkeitspraxis erlebte einen gewaltigen Aufschwung. Die geistlichen Orden und Klöster blühten in einer Weise auf, die alles bislang Gekannte in den Schatten stellte. Und es entwickelte sich ein katholisches Vereinswesen, das sämtliche Lebensbereiche abdeckte. Es entstand das katholische Milieu, das die deutsche Geschichte für hundert Jahre entscheidend mitprägte.
Von der katholischen Erneuerungsbewegung wurde auch das Caritas-Wesen erfasst. Ausgangspunkt waren dabei oft Freundeskreise, die in der Restaurationszeit und im Vormärz vielerorts von katholischen Bürgerinnen und Bürgern gebildet wurden und die die lokalen Keimzellen der Erneuerung waren. Einige dieser Kreise wendeten sich in besonderer Weise den Fragen der Caritas zu. Seit den 1840er Jahren gingen aus solchen Caritaskreisen die ersten Elisabeth- und Vinzenzvereine hervor, die sich diakonischen Aufgaben verschrieben. Einige Mitglieder solcher Freundeskreise gründeten caritative Ordensgemeinschaften, wie etwa in Aachen die Fabrikantentöchter Clara Fey und Franziska Schervier. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zur Neugründung hunderter katholischer Hospitäler durch Pfarreien, caritative Orden und Vereine, oftmals unterstützt durch eine hohe Spendenbereitschaft der katholischen Bevölkerung.
Gründung des Caritasverbandes durch Lorenz Werthmann
Die vielen lokalen Initiativen führten zu einer großen Vielfalt, aber auch zu einer Zersplitterung der in der katholischen Kirche geleisteten diakonischen Arbeit. Eine zentrale Koordinierung, wie sie bereits seit 1849 der „Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ leistete, fehlte im Bereich des Katholizismus lange Zeit. Dieser Zustand wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als Mangel wahrgenommen. Dafür gab es mehrere Gründe. Das beginnende sozialpolitische Engagement des Staates verlangte von den Akteuren der Wohlfahrtspflege mehr Organisation. Außerdem führte das Ende des Kulturkampfs zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Katholizismus und Deutschem Reich. Das hatte auch mit dem Erstarken der Sozialdemokratie zu tun, die sowohl die Staats- und Gesellschaftsordnung als auch die öffentliche Rolle der Kirchen radikal infrage stellte. Der gemeinsame Gegner relativierte alte Gegensätze und schuf neue Allianzen.
Der Katholizismus wandelte sich auf diese Weise – sowohl in der Selbst-, als auch in der Außenwahrnehmung – seit den 1880er Jahren von einer oppositionellen zu einer staatstragenden Kraft. Es ging nicht mehr primär um Selbstbehauptung in einem feindseligen Umfeld als vielmehr um innere Festigung des katholischen Milieus sowie um Stabilisierung der Stellung in Staat und Gesellschaft. Diesem Zweck diente etwa der 1890 als Sammlungsverein der katholischen Sozialbewegung ins Leben gerufene „Volksverein für das katholische Deutschland“. Mit seinen praktisch-sozialen Kursen trug der Volksverein maßgeblich zur Qualifizierung und Professionalisierung der Arbeit in den katholischen Arbeitervereinen und später in den Christlichen Gewerkschaften bei. Ein solcher Kurs gab 1894 den Anstoß, auch für den Bereich der Caritas einen zentralen Verband zu schaffen. Der Kurs fand in Freiburg i.Br. statt und war von Lorenz Werthmann, dem Sekretär des dortigen Erzbischofs, vorbereitet worden. Werthmann tauschte sich mit Franz Hitze, Franz Brandts und anderen führenden Personen des Volksvereins aus, und man kam überein, eine gemeinsame Initiative zur Gründung eines zentralen Caritasverbandes zu unternehmen. 1895 wurde ein „Charitas-Comité“ unter Wertmanns Leitung gegründet, das noch im selben Jahr ein Netzwerktreffen von Gleichgesinnten aus verschiedenen Diözesen in Bingen a.Rh. organsierte. Am 14. Oktober 1896 fand der erste deutsche Caritastag in Schwäbisch Gmünd statt. Im Rahmen des zweiten Caritastages am 9. November 1897 in Köln wurde dann der „Charitasverband für das katholische Deutschland“ mit Sitz in Freiburg und Werthmann als Vorsitzendem ins Leben gerufen.
Schwierige Anfänge
Die Anfangszeit gestaltete sich zäh. Die Gründung diözesaner und örtlicher Caritasverbände – eine notwendige Bedingung für die Konzeption als Dachverband – ging nur schleppend voran. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte noch nicht einmal jedes dritte Bistum einen eigenen Diözesancaritasverband; Ortsverbände gab es nur in 24 Städten. Darüber hinaus hatten sich ein Dutzend Fachverbände dem Caritasverband als Mitglieder angeschlossen. Wesentlicher Grund für diese unzulängliche organisatorische Infrastruktur war das noch nicht geklärte Verhältnis zur Amtskirche. Durch die Unterstützung einiger Werthmann wohlgesonnener Bischöfe gelang es, das Thema auf die Agenda der Fuldaer Bischofskonferenz zu setzen. In dem sogenannten „Anerkennungsbeschluss“ von 1916 bestimmten die Bischöfe schließlich „den Caritasverband für das katholische Deutschland als die legitime Zusammenfassung der Diözesanverbände zu einer einheitlichen Organisation“. Werthmann sah darin die Rettung seines Lebenswerks, und in der Tat kam es in den Folgejahren zu einem ungeheuren Aufschwung und Ausbau der verbandlichen Caritas. 1922 gab es in jedem deutschen Bistum einen eigenen Diözesancaritasverband. Mitte der 1920er Jahre betrieb die verbandliche Caritas reichsweit bereits über 10.000 Einrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitsfürsorge und der Altenpflege
Zu der bischöflichen Unterstützung kam in der Weimarer Republik ein für den Deutschen Caritasverband (DCV; so die seit 1921 gültige Bezeichnung) äußerst günstiges politisches Umfeld. Die Zentrumspartei war an allen parlamentarischen Regierungen der Weimarer Republik beteiligt. Von 1920 bis 1928 hieß der für die Sozialpolitik zuständige Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns, ein ehemaliger Direktor des Volksvereins. Unter seiner Ägide erhielt Deutschland ein modernes Fürsorgerecht. Im Zuge dessen kam es auch zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege. Es ist maßgeblich auf den Einfluss von Brauns und des Zentrums zurückzuführen, dass sich diese Verhältnisbestimmung stark an dem Subsidiaritätsprinzip orientierte. Die mit der Reichsfürsorgeverordnung von 1924 eingeführten Bezirks- und Landesfürsorgeverbände waren gehalten, die freien Wohlfahrtsverbände in der Wohlfahrtspflege zu beteiligen. Für ihre Arbeit bekamen die freien Träger Mittel aus den öffentlichen Haushalten.
Die Veränderungen in den strukturellen Rahmenbedingungen führten zur weiteren Professionalisierung der Caritas. Dem gestiegenen Bedarf an Aus- und Weiterbildung trug man Rechnung durch die Einrichtung mehrere Ausbildungsstätten unter dem Dach des DCV. 1920 wurde in Freiburg die „Caritasschule“ eröffnet, an der Frauen zu „Caritasbeamtinnen und Laienhelferinnen“ in Diakonie und Seelsorge ausgebildet wurden. Später wurden die beiden Bereiche in einer „Gemeindehelferinnenschule“ und einer „Sozialen Frauenschule“ getrennt. 1927 gründete der DCV zudem eine „Berufsschule für männliche Wohlfahrtspfleger“ sowie ein Jugendleiterinnenseminar, in dem katholische Erzieherinnen auf eine Leitungsaufgabe vorbereitet wurden. Zur wissenschaftlichen Begleitung wurde 1925 an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg das „Institut für Caritaswissenschaft“ eingerichtet.
Der Caritasverband in der NS-Zeit
In der Zeit des Nationalsozialismus beanspruchte die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) den Führungsanspruch im Bereich der Wohlfahrtspflege. Aber anders als das Deutsche Rote Kreuz, das gleichgeschaltet wurde, und die Arbeiterwohlfahrt oder der Paritätische Wohlfahrtsverband, die aufgelöst wurden, blieben der evangelische Zentralverband für die Innere Mission und der Deutsche Caritasverband als eigenständige Wohlfahrtsverbände bestehen. Sie mussten viele Repressalien hinnehmen. Ganze Aufgabenbereiche wie die Bahnhofsmissionen oder fast die gesamte Kinder- und Jugendhilfe zog die NSV an sich. Einrichtungen und dazugehörige Immobilien wurden enteignet. Die DCV-Zentrale in Freiburg wurde 42 Mal von der Gestapo durchsucht. Benedict Kreutz, seit 1921 als Nachfolger Werthmanns Präsident des DCV, stand unter permanenter Beobachtung, mehrere seiner Mitarbeiter landeten im Konzentrationslager.
Die Caritas war in der NS-Zeit aber nicht nur Opfer, sondern sie war an manchen Stellen auch in Verbrechen des Regimes involviert. So kam es in kirchlichen Einrichtungen mitunter zu dem Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, in Diakonie und Caritas etwa in den Bereichen Hauswirtschaft und Krankenpflege. Diesem Thema und der damit verbundenen Verantwortung haben sich Kirche und Caritas erst in den frühen 2000er Jahren gestellt.
Die zweifellos größte menschliche und moralische Niederlage war, dass die Caritas es nicht vermochte, tausende psychisch kranke und behinderte Menschen in ihren Einrichtungen vor der Ermordung aufgrund des geheimen „Euthanasie-Erlasses“ Hitlers von 1939 zu bewahren. Es blieb dem Mut einzelner Verantwortlicher in den Pflegeheimen überlassen, die ihre Schützlinge retteten, indem sie sie vor der Deportation zu ihren Angehörigen entließen oder auf andere Weise den Häschern entzogen. In den meisten Fällen allerdings kam es dazu nicht. Die Bischöfe protestierten bei den zuständigen Innenministerien, auch Kreutz wählte diesen Weg. Als das nichts fruchtete, wendeten sich mehrere Bischöfe mit Stellungnahmen an die Öffentlichkeit, am prominentesten der Münsteraner Bischof Clemens von Galen in einer Predigt am 3. August 1941.
Entwicklung des Caritasverbandes seit 1945
Durch die Kontinuität ihrer Strukturen, konnten die kirchlichen Wohlfahrtsverbände ihre Arbeit unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 fortsetzen. Wegen ihrer weltweiten kirchlichen Vernetzung kam ihnen bei der Werbung um Spenden aus dem Ausland eine Schlüsselrolle zu. Bereits im Sommer 1945 baute der DCV im Auftrag der Bischofskonferenz einen Suchdienst für Nachforschungen nach Vermissten und Kriegsvertriebenen auf, der später als „Kirchlicher Suchdienst“ gemeinsam mit der Diakonie fortgesetzt wurde. Auch die Diözesan- und Ortscaritasverbände reorganisierten sich schnell und entfalteten in der Situation eines allgegenwärtigen Mangels eine enorme Kreativität bei der Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit.
Die deutsche Teilung nach dem Krieg führte zu einer unterschiedlichen Entwicklung der Caritas in Ost und West. In der DDR, in der die SED auch das sozialpolitische Monopol beanspruchte, konnte die Caritas als freier Wohlfahrtsverband nicht fortbestehen. Sie konnte aber dadurch gerettet werden, dass die Bischöfe sie an ihre eigenen Diözesanverwaltungen angliederten. Im Vergleich zu Westdeutschland blieben die Strukturen der ostdeutschen Caritas in bescheidenem Rahmen. In den von der Caritas betriebenen Krankenhäusern, Kinder-, Behinderten- und Altenpflegeheimen sowie Kindergärten arbeiteten 1988 rund 10.000 hauptamtlich Beschäftigte. Arbeitsfähig blieb die Caritas in der DDR nicht zuletzt durch finanzielle Unterstützung aus Westdeutschland.
Die Bundesrepublik hingegen knüpfte nahtlos an das in der Weimarer Republik etablierte Nebeneinander von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege samt führender Stellung von Diakonie und Caritas an. Im Bundessozialhilfegesetz von 1961 wurde die Wohlfahrtspflege – auf Betreiben der alleinregierenden Union und gegen den erbitterten Widerstand von SPD und FDP – konsequent nach dem Subsidiaritätsprinzip geordnet. Demnach sind die öffentlichen Träger der Sozialhilfe zur Zusammenarbeit mit den Kirchen und der freien Wohlfahrtspflege verpflichtet. Sie sollen die freie Wohlfahrtspflege angemessen unterstützen, dabei aber deren Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Arbeit berücksichtigen. Zudem sind die öffentlichen Träger gehalten, von der Schaffung eigener Einrichtungen abzusehen, sofern bereits solche in freier Trägerschaft vorhanden sind. Ähnliche Bestimmungen enthält das ebenfalls 1961 beschlossene Jugendwohlfahrtsgesetz.
Die verbandliche Caritas in der Bundesrepublik wuchs gewaltig. Von 1950 bis 1970 verdoppelte sich die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter annähernd von rund 106.000 auf 191.000. Im Jahr 1990 war die Zahl auf rund 348.000 Beschäftigte angewachsen. Betrachtet man die Anfänge des DCV in der katholischen Erneuerungsbewegung im 19. Jahrhundert, so ist der soziale und institutionelle Wandel der verbandlichen Caritas vielleicht am augenfälligsten, wenn man daneben folgende Zahlen betrachtet: 1950 stellten 60.500 Ordensbrüder und vor allem Ordensschwestern noch weit mehr als die Hälfte des Personals der Caritas. Bis 1970 sank ihr Anteil auf 30 Prozent; 1990 stellten Ordensangehörige nur noch sechs Prozent aller Beschäftigten.
Herzstück des christlichen Auftrags
Heutzutage ist die Caritas mit rund 690.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der größte soziale Arbeitgeber in Deutschland. In einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ist die Verankerung all dieser Beschäftigten im christlichen Glauben – lange Zeit war das eine Einstellungsvoraussetzung – keine Selbstverständlichkeit mehr. Das christliche Profil der Caritas muss heute anders zum Ausdruck kommen als in der formalen Kirchenzugehörigkeit ihrer Angestellten. Es gilt vielmehr das Wort Jesu aus der Bergpredigt: „An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20).
Auf dem Holzweg sind die, die den Kirchen empfehlen, sich in der säkularen Gesellschaft „gesund zu schrumpfen“ und sich auf „das Wesentliche“ zurückzuziehen. Wer die Caritas nicht zum Wesentlichen zählt und für verzichtbar erachtet, verkennt das Wesen der Kirche, zu deren Grundvollzügen seit den Tagen der Jerusalemer Urgemeinde neben der leiturgía, also dem Gottesdienst, und der martyría, der Verkündigung des Evangeliums, gleichberechtigt die diakonía zählt. Gerade das diakonische Zeugnis hat maßgeblich zu der rasanten Verbreitung des Christentums in der Antike beigetragen. Auch heute steht der diakonische Dienst der Kirchen – im Gegensatz zu manchen anderen Aspekten – im allgemein hohen Ansehen. Es wäre deshalb eine theologische Verirrung sondergleichen und ein Treppenwitz der Geschichte, die zunehmende Säkularisierung zum Anlass zu nehmen, die kirchliche Caritas infrage zu stellen. Der Verzicht auf die diakonische Dimension wäre eine Selbstverzwergung und mehr noch: eine Selbstversektung der Kirchen.
Dr. Arnd Küppers ist stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.