„Rosa Luxemburg war eine charismatische Persönlichkeit.“ So lautet der erste Satz in der neuesten Luxemburg-Biographie aus der Feder von Ernst Piper. Dieser treffende Umstand erklärt neben weiteren Faktoren den großen Rummel um Luxemburg. Zu ihrem 100. Todestag bleibt eine Heroisierung nicht aus. Sie betrifft mehr die Person als das Werk. Kaum eine historische Persönlichkeit findet eine derartige Würdigung wie sie. Einige wenige Beispiele:
Seit 1996 findet Jahr für Jahr, jeweils am zweiten Samstag im Januar, in Berlin eine Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz statt, die im Anschluss in einer Broschüre dokumentiert wird, ergänzt um weitere Materialien. Veranstalter ist die linksextreme Tageszeitung junge Welt, wobei sie zahlreiche Organisationen unterstützen, wie Cuba Si oder die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend. Die Vielzahl der Organisationen und die stetig gestiegene Zahl der Teilnehmer dürfen nicht über die mangelnde politische Relevanz hinwegtäuschen. Ein wesentlicher Grund: Die Texte in der Broschüre stammen überwiegend aus dem Milieu orthodoxer Kommunisten des In- und Auslandes. Allerdings gibt es noch immer Repräsentanten der Partei Die Linke, die auf der Konferenz auftreten und Artikel für die junge Welt schreiben. Große Aufmerksamkeit erreichte z. B. 2011 die damalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch mit ihrem Artikel über die „Wege zum Kommunismus“. Im Vorfeld der Konferenz hatte Lötzsch der eigenen Partei einen Bärendienst erwiesen. Sie hatte zustimmend Luxemburgs Satz zitiert: „So soll die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen.“ Die Linke war von dieser offensiv vorgetragenen Ablehnung der demokratischen Kräfte überrascht und geriet dadurch öffentlich in die Defensive.
Die alljährliche Rosa-Luxemburg- Konferenz – die 24. fand am 12. Januar 2019 unter dem Luxemburg-Diktum „Sozialismus oder Barbarei“ statt – wird jeweils einen Tag vor der traditionellen großen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am zweiten Sonntag im Januar veranstaltet. Diese führt zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde, zur Gedenkstätte der Sozialisten. Sie gab es bereits in der Weimarer Republik, später, mit großem propagandistischem Aufwand, in der DDR. Die Partei Die Linke bevorzugt ein „stilles Gedenken“ und legt Kränze für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nieder. Berlin-Friedrichsfelde ist nach wie vor ein Wallfahrtsort.
Die Linke schmückt sich mit dem Namen Rosa Luxemburgs. Darin ist sich die Partei bei allen sonstigen Streitigkeiten einig. Zum 100. Todestag der revolutionären Sozialistin gab es zwischen dem 10. und dem 15. Januar 2019 zahlreiche Veranstaltungen der der Partei nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin unter dem Motto „Hommage an Rosa Luxemburg“, ferner zahlreiche weitere in anderen deutschen Städten.
Mit der Ikone Rosa Luxemburg werden höchst unterschiedliche Positionen begründet, undemokratische und demokratische, bedingt durch selektive Wahrnehmung. Selbst Teile der SPD und der Grünen greifen vereinzelt auf ihr Gedankengebäude zurück. Und Bürgerrechtler aus der DDR hatten sich 1988 unter die „Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ gemischt, um mit Luxemburgs wohl berühmtesten Satz „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ ein Signal gegen die SED-Alleinherrschaft zu setzen.
Die Person, das Werk und die Rezeption
Geboren am 5. März 1871 in Zamość, einer Stadt im galizischen Teil Polens, aufgewachsen in Warschau, studierte Rosa Luxemburg, die einer begüterten jüdischen Familie entstammte, in Zürich Nationalökonomie. Nach der Dissertation über „Die industrielle Entwicklung Polens“ im Jahr 1897 ging sie eine Scheinehe mit Gustav Lübeck ein, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Sie siedelte 1898 nach Berlin über, trat der SPD bei, nahm an Wahlkampfveranstaltungen und an Sozialistenkongressen teil. Als Vertreterin des linken Parteiflügels, der für die „Diktatur des Proletariats“ eintrat, bekämpfte sie zunehmend die Positionen des „Revisionisten Eduard Bernstein und des „Zentristen“ Karl Kautsky. 1914 wirkte sie als Dozentin an der Zentralen Parteischule in Berlin.
Luxemburg lehnte die parlamentarische Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten entschieden ab. Sie gründete mit anderen die „Gruppe Internationale“, dann den Spartakusbund, dessen Programm sie verfasst hatte, und schließlich Ende 1918 mit Karl Liebknecht die Kommunistische Partei Deutschlands. Sie sprach sich für eine Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung aus, unterlag aber mit dieser Position. Den „Januaraufstand“ unterstützte sie mit pathosgetränkten Artikeln in der von ihr und Liebknecht gegründeten Zeitung Die Rote Fahne. Nach dem schnellen Scheitern des Aufstandes wurde sie zusammen mit Liebknecht von Mitgliedern eines Freikorps am 15. Januar 1919 festgenommen und noch am selben Tag ermordet.
Ihr stattliches Gesamtwerk liegt in den Gesammelten Werken vollständig vor. Gleiches gilt für die Gesammelten Briefe. Um aus der Vielzahl der Texte nur auf drei einzugehen: Großes Aufsehen erregte Luxemburgs Schrift Sozialreform oder Sozialismus aus dem Jahre 1899. In ihr verwarf sie mit ihrer scharfen Kritik an Bernstein den friedlichen Übergang zum Sozialismus. Die Studie Massenstreik, Partei und Gewerkschaften analysierte die russische Revolution von 1905, befürwortete den Massenstreik, auch in Deutschland, und verwarf den als reformistisch geltenden Parlamentarismus. In ihrem theoretischen Hauptwerk Die Akkumulation des Kapitals aus dem Jahre 1913 entfaltete sie eine eigene deterministisch ausgerichtete Imperialismustheorie. Die größte Aufmerksamkeit fand und findet bis heute ihre erst 1922 veröffentlichte, unvollständig gebliebene Schrift Zur russischen Revolution.
Die Rezeption von Luxemburgs Schriften und ihrer politischen Tätigkeit verlief keineswegs linear. Hatte Lenin sie ungeachtet ihrer Kritik an seinem „Ultrazentralismus“ noch überwiegend gelobt, so wurde der „Luxemburgismus“ unter Stalin getadelt. In der DDR schwächte sich die Kritik an der Position Luxemburgs ab, als Person wurde sie ohnehin idealisiert. In der Bundesrepublik erlebte sie zur Zeit der Studentenbewegung eine Renaissance. Der „Massenspontaneismus“ Luxemburgs wurde gegen den „Zentralismus“ Lenins ausgespielt. Aber ist das stimmig? Was auffällt: Häufig steht Luxemburgs Person im Vordergrund, weniger ihr Schrifttum.
Die russische Revolution
Rosa Luxemburg lobte in ihrer Schrift Zur russischen Revolution entgegen manchen Mythen Lenin und seine Bewegung zum Teil euphorisch. „Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik.“ Das Lob für den Bolschewismus ging einher mit einem wütenden Tadel für die deutschen Sozialdemokraten, deren Reihen sie entstammte. „Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit aus der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: Zuerst werben wir eine ‚Mehrheit‘. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d. h. vorwärtszutreiben versucht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: Die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern!, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten, ‚illegalen‘ Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mussten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht.“
Obwohl Luxemburg die russische Revolution überschwänglich guthieß, übte sie in drei Punkten Kritik. Die ersten zwei fallen bei einer Würdigung der Schrift meistens unter den Tisch, während der dritte Aspekt mittlerweile legendäre Bedeutung gewonnen hat. Erstens erscheint Luxemburg die Aufteilung von Grund und Boden an die Bauern als kritikwürdig. „Sie ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.“ Die Autorin sieht in den Bauern, die nun Besitz zu verteidigen haben, gefährliche Feinde des Bolschewismus. Zweitens prangert Luxemburg Lenins Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen an. Diese trage zur Schwächung Russlands bei. Die Bolschewiki „haben durch diese Förderung des Nationalismus den Zerfall Russlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stoßen sollten“.
Drittens schließlich kritisiert sie die Einschränkung der Freiheiten durch den Bolschewismus. „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft.“ Im Zusammenhang gelesen bedeutet dies: Die Verfasserin, eine Anhängerin des erwähnten „Massenspontaneismus“, verwirft die parlamentarische Demokratie – ein oft unterschlagener Sachverhalt. Die von ihr gepriesene „sozialistische Demokratie“ fällt mit der „Diktatur des Proletariats“ zusammen.
Die Quintessenz: Die Verteidigung Lenins, weniger die Kritik an ihm, steht im Vordergrund: „Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus, geradezu die brennende Zeitfrage nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die revolutionäre Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!“
Die deutsche Revolution von 1918/19
Diese Position setzte sich nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis am 8. November 1918 fort. Einstige SPD-Genossen wie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann beschimpfte sie auf dem Gründungsparteitag der KPD mit wüsten Worten als „Zuchthäusler, die überhaupt nicht in eine anständige Gesellschaft hineingehören.“ In der Roten Fahne ließ sie sich über die USPD, die linke Konkurrenz der Mehrheitssozialdemokratie, zu folgenden Äußerungen hinreißen: „Vor allem aber muss die nächste Zeit der Liquidierung der USP, dieses verwesenden Leichnams, gewidmet werden, dessen Zersetzungsprodukte die Revolution vergiften. Die Auseinandersetzung mit der Kapitalistenklasse gestaltet sich in Deutschland in ersterer Linie als Abrechnung mit den Scheidemann-Ebert, die die Schutzwand der Bourgeoisie sind. Und die Abrechnung mit den Scheidemännern setzt voraus die Liquidierung der USP, die als Schutzwand der Ebert-Scheidemann fungiert.“
Nach wie vor steht die Idealisierung Rosa Luxemburgs in einem bemerkenswerten Gegensatz zur Geringschätzung von Friedrich Ebert, der an der Spitze der deutschen Revolution 1918/19 stand und ihr zugleich die Spitze nahm. Die linksextremistische Militanz Luxemburgs ist keine Reaktion auf das Verhalten der Sozialdemokratie, sondern hatte sich schon zuvor herausgebildet und wurde durch den Zusammenbruch des Kaiserreiches verstärkt. Die parlamentarische Demokratie, die aus diesem Zusammenbruch hervorging, interessierte die Revolutionärin nicht.
„Die Revolution hat keine Zeit zu verlieren, sie stürmt weiter über noch offene Gräber, über ‚Siege‘ und ‚Niederlagen‘ hinweg – ihren großen Zielen entgegen. Ihren Richtlinien, ihren Wegen mit Bewusstsein zu folgen ist die erste Aufgabe der Kämpfer für den internationalen Sozialismus. (…) die Revolution ist die einzige Form des ‚Krieges‘ – auch dies ihr besonderes Krisengesetz –, wo der Endsieg nur durch eine Reihe von ‚Niederlagen‘ vorbereitet werden kann! (…) Ihr stumpfen Schergen! Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh‘ richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verbinden. Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Solche militant-pathosgetränkten Worte – es waren ihre letzten zu Lebzeiten gedruckten – haben erstaunlicherweise zu ihrem Nachruhm beigetragen, weniger zu distanzierenden Kommentaren.
Fazit
Auch wenn Die Linke sich permanent auf Rosa Luxemburg beruft, so deckt sich deren revolutionärer Impetus nur zum Teil mit dem zunehmenden Pragmatismus der Partei, wiewohl es schwierig sein dürfte, die Verhältnisse von heute auf die Zeit vor 100 Jahren zu übertragen und umgekehrt. Die Linke steht mehrheitlich Lenin deutlich kritischer gegenüber als es Luxemburg tat. Der Verfasser sieht sich also genötigt, Die Linke vor ihrer Ikone in Schutz zu nehmen. Die Verteidigung Luxemburgs steht in einem gewissen Widerspruch zur Praxis der Partei. Hingegen weiß sich die junge Welt der Ideologie Lenins weithin verpflichtet. Ihr steht weitaus eher das Recht zu, Rosa Luxemburg für sich in Beschlag zu nehmen.
Luxemburgs so erbitterte wie verbitterte Polemik gegen die „Führer“ der deutschen Sozialdemokratie, denen sie Verrat an der Revolution vorwirft, zeugt von manichäistischen Denkmustern. Sie wurde damit zur „Kronzeugin des Kampfes gegen die demokratische Republik von links“. Es wäre aber verfehlt, sie mit ihrer Schrift über die russische Revolution als „Kronzeugin des Kampfes gegen die undemokratische Republik von links“ anzusehen. Diesem Trugschluss unterliegen viele. Die Gründe dafür sind vielgestaltig. Die Ermordung der Revolutionärin hat dazu ebenso beigetragen wie ihr intellektuelles Charisma, das selbst auf Kritiker faszinierend wirkte und bis heute wirkt. Diese Umstände entbinden uns jedoch nicht von einer kritischen Einordnung ihrer Person: Rosa Luxemburg war keine Demokratin.