Die neuen Dinge, die neuen Fragen, die neuen Entwicklungen – sie bilden das Zentrum der katholischen Soziallehre. Rerum novarum – so lauten dann auch die Anfangsworte des lateinischen Textes und damit auch der Titel der ersten Sozialenzyklika, das heißt des ersten großen Sozialrundschreibens, das 1891 von Papst Leo XIII. veröffentlicht wurde. Damals ging es um die neue Frage des 19. Jahrhunderts, das heißt um die Arbeiterfrage, da der Papst sie als das entscheidende Problem seiner Zeit erkannt hatte. Es war das erste Mal, dass ein päpstliches Schreiben als Ganzes sich einer großen gesellschaftlichen Problematik aus sozialethischer Perspektive annahm. Die besondere Bedeutung der Enzyklika wird auch darin deutlich, dass sie zum Fundament der sich darauf aufbauenden, inzwischen 130-jährigen Tradition der päpstlichen Sozialverkündigung wurde.
Die folgenden Ausführungen skizzieren zunächst das Aufkommen der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit als das Spezifikum der Soziallehre, bevor sie dann in einem zweiten Teil die wichtigsten Elemente der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum aufzeigen. Damit wird zugleich der „cantus firmus“ der weiteren Soziallehre intoniert, um schließlich mit Blick auf das zentrale sozialethische Anliegen, nämlich das der Realisierung eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit, aktuelle – neuer – Herausforderungen zu benennen.
Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit als Spezifikum der entstehenden Soziallehre
Die Termini „gerecht“ bzw. „ungerecht“ wurden in der vormodernen Zeit nur zur moralischen Bewertung individueller Handlungen und zur Bezeichnung einer sittlichen Eigenschaft des Menschen verwendet. Dieses rein tugendethische Verständnis des Gerechtigkeitsbegriffes wurde erst in der Moderne aufgebrochen. Mit der neuzeitlichen Wende zum Subjekt löste sich auch die politische Philosophie von den selbstverständlichen Gewissheiten des mittelalterlichen Ordo-Denkens. Die überkommenen Normen, Strukturen und Institutionen der politischen Gemeinschaft wurden nicht mehr umfassend als unwandelbare Elemente einer vorgegebenen göttlichen Ordnung begriffen, sondern als dem menschlichen Gestaltungswillen zugängliche und aufgegebene Größen. Damit wurde die Gestaltung von Strukturen überhaupt erst denkbar und somit auch eine Strukturenethik notwendig. So leuchtet es auch ein, dass die Kirche erst ab dem 19. Jahrhundert ihr pastorales Lehramt (magisterium pastorale; (P. Hünermann) im Format spezieller Sozialenzykliken wahrnahm, also die Frage der Gestaltung einer gerechten Sozialordnung (quantitativ und qualitativ) zunehmend im Mittelpunkt der sozialen Verlautbarungen der katholischen Kirche stand. Die Taktung lehramtlicher Verlautbarungen wurde dann bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts immer dichter.
Dass im 19. Jahrhundert die soziale Frage in Gestalt der Arbeiterfrage so breite Beachtung fand, die sich auch in vielfältigen Versuchen äußerte, die Not der Arbeiter zu beheben, hat darüber hinaus aber auch mit einer höheren Sensibilität sozialen Fragen gegenüber zu tun. Victor Cathrein (1845–1931, Jesuit und Philosoph) schrieb bereits in seinem Artikel Sociale Frage von 1899, dass es auch „in der Vergangenheit […] große Uebel gegeben (hat), welche von ganzen Massen der Gesellschaft als unerträglich und ungerecht empfunden wurden; allein die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit der vorhandenen Zustände war fast immer auf einzelne Kreise beschränkt und jedenfalls nie so allgemein verbreitet wie heute."[1]
Das Spezifikum des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit, der bald Karriere machte, bestand nun darin, dass die Sozialphilosophie auch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere in den Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen der Bürger fragte. Es ging hier also um Gerechtigkeit, die nicht nur, wie in deren klassischen drei Formen, das Verhältnis von Einzelpersonen untereinander (iustitia commutativa) bzw. das Verhältnis von Bürger und Staat (iustitia legalis und iustitia distributiva) zueinander im Blick hatte, sondern auch die Relevanz der (Zivil)Gesellschaft als eigenständigem Akteur.
Allerdings muss man festhalten, dass die katholische Soziallehre niemals den Versuch unternommen hat, eine inhaltlich systematisch abgeschlossene Gerechtigkeitstheorie zu formulieren. Sie hat vielmehr immer wieder konkrete, die Menschenwürde verletzende gesellschaftliche Missstände kritisiert und, ausgehend von ihren zentralen Prinzipien, konstruktive Hinweise für eine Verbesserung der sozialen Lage gegeben. Der Begriff bleibt jedoch eine (regulative) Idee, der sich die Kirche nur annähern, aber niemals in vollem Umfang realisieren kann. Das heißt aber wiederum nicht, dass Gerechtigkeit nur eine inhaltsleere Worthülse wäre. Vielmehr benennt die christliche Sozialethik fundamentale Bausteine, die für das Konzept sozialer Gerechtigkeit unverzichtbar sind und als Gradmesser dienen können, wie gerecht ein System wirklich ist.
Die zentralen Inhalte der Sozialenzyklika Rerum novarum
Das 19. Jahrhundert war unter ökonomischem Aspekt geprägt von der Industrialisierung, unter soziologischem und (sozial)ethischem Aspekt vom Pauperismus und von der sozialen Frage. Dabei war die „soziale Frage“ dem Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning SJ, zufolge zu verstehen als in Frageform gebrachte Sozialkritik bzw. als die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit der Gesellschaftsordnung.[2] Diese Sozialkritik fokussierte sich bezüglich des 19. Jahrhunderts auf den Pauperismus, der nicht die Armut meinte, die es schon immer gegeben hatte, sondern die spezifische, im Zusammenhang mit der industriellen Revolution entstehende Massenarmut im 19. Jahrhundert, die eine eigene Qualität und vielfältigste materielle, physische, intellektuelle und moralische Konsequenzen für die Betroffenen hatte. Diese Problematik als spezielle und unübersehbare Herausforderung für das depositum fidei, für Kirche und Christen erkannt zu haben, war das Verdienst des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), der als einer der wichtigsten Wegbereiter von Rerum novarum gilt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte die katholische Kirche neben der sozialistischen Arbeiterbewegung[3] einen entscheidenden Akteur im Kontext der Beschäftigung mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts dar. Zu Beginn dieser Entwicklung stand sie jedoch selbst vor einer doppelten Herausforderung: Nicht nur war sie selbst zu Beginn dieser Entwicklung durch die Säkularisation (1803 Reichsdeputationshauptschluss) ihrer finanziellen und vieler ihrer bisherigen Mittel der Seelsorge beraubt. Sie stand darüber hinaus zunächst auch ohne fest formuliertes Sozialideal da und suchte nach Antwortmöglichkeiten auf die neu aufgekommene soziale Frage.
In dieser gesellschaftlichen und kirchlichen Situation entstand in unterschiedlichen Ländern und Kontexten die christlich-soziale Bewegung, die sich jeweils mit Problemen vor Ort beschäftigte und Lösungsansätze entwickelte. Impulse und Ansätze von dort aufnehmend und diese weiterentwickelnd verfasste dann Leo XIII. gegen Ende des Jahrhunderts Rerum novarum.
Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital
Das Grundproblem des 19. Jahrhunderts und damit auch das Urproblem, aus dem heraus die erste Sozialenzyklika und die Soziallehre entstanden, war der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Die Lohnarbeiter waren in der frühen Zeit der Industrialisierung schutzlos der Macht der Unternehmer ausgeliefert. Die Profitgier des Kapitals, also der Kapitalbesitzer, die von ihnen zu verantwortenden katastrophalen Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer, die fehlenden Arbeiterschutzmaßnahmen, die Rechtlosigkeit führten den Arbeiter und seine Familie in die Verelendung. Unter diesen Prämissen entstand ein völlig asymmetrischer Arbeitsmarkt, aus dieser Wirtschaftsordnung entwickelt sich eine Klassengesellschaft.
Was die Schärfe der Kritik an dieser liberalen Staats- und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anging, stand die Enzyklika den Frühsozialisten und auch Karl Marx (1818–1883) in nichts nach. Die Beschreibung der dramatischen Situation der Zweiklassengesellschaft hat deutliche Anklänge an die Marxsche Analyse, wenn es heißt, „dass die Arbeiter allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet wurden“ (RN 2). Wie Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fragten auch Christlich-Soziale wie der bereits erwähnte Wilhelm Emmanuel von Ketteler, was die Arbeiter von der in den liberalen Verfassungen garantierten formellen Freiheit hätten, wenn sie in ihren realen Lebensbedingungen einen alltäglichen Kampf um ihre materielle Existenz führen müssten. Aber auch wenn Marx und Ketteler bzw. die erste päpstliche Sozialenzyklika sich in der Kapitalismuskritik einig waren, so unterschied sich ihre Analyse der Arbeiterfrage doch signifikant und sie verfolgten ein gänzlich unterschiedliches politisches Programm zu deren Bewältigung. Für Marx ergab sich der Entfremdungscharakter der Lohnarbeit aus der in ihr vollzogenen Trennung von Arbeit und Kapital. Die Lösung der Arbeiterfrage konnte daher für ihn nur in der kompromisslosen Abschaffung des Lohnarbeitsverhältnisses und in der Zusammenführung von Arbeit und Kapital durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel liegen. Auch Leo XIII. kritisierte die Trennung von Arbeit und Kapital, er verteidigte aber entschieden das Eigentumsrecht.
Die Eigentumsfrage
So stellt auch in Rerum novarum die Eigentumsfrage den ersten zentralen inhaltliche Aspekt dar. Allerdings steht die Schlussfolgerung im direkten Gegensatz zu der von Marx: Nicht die Aufhebung des Privateigentums – so die sozialistische Lösung –, sondern die Ermöglichung von Privateigentum lag dem Papst zufolge als Absicht klar auf der Hand – als ein von Natur aus gegebenes Recht und als Ausdruck der Gerechtigkeit. Hier klingt die traditionelle Naturrechtsargumentation an, die im heutigen Wissenschaftsverständnis als Argumentationsfigur problematisch geworden ist und an deren Stelle, so könnte man sagen, eine menschenrechtsbasierte Argumentation getreten ist. Diese wissenschaftstheoretische Debatte aber ändert nichts am Wert des Ergebnisses der Argumentation.
In der Argumentation kamen zwei unterschiedliche Stränge zusammen: Zum einen rekurrierte Leo XIII. auf die Natur des Menschen, auf seine Vernunft und Würde. Zum anderen berief er sich auf die Lockesche Tradition, die besagt, dass der Mensch den Gütern der Natur, die er bearbeitet, „den Stempel des Bearbeiters“ aufdrückt und sie sich damit zu eigen macht. So steht einerseits zwar in der Enzyklika argumentativ das Recht auf Privateigentum im Vordergrund, um damit in diesem Zusammenhang die Position der damals völlig rechtlosen Arbeiter zu stärken. Andererseits jedoch ist es entscheidend, auf das, was wir heute die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nennen, zu verweisen. Letztlich müssten alle, so Leo XIII., durch die Bearbeitung des eigenen Bodens oder durch eine andere Form der Arbeit und entsprechenden Lohn an den Früchten der Erde teilhaben können. Das Zusammenspiel beider Dimensionen der christlichen Eigentumslehre, grundgelegt bereits bei Thomas von Aquin, prägt bis heute in aktuelle Debatten hinein den christlichen Beitrag zur Lösung anstehender Fragen. Gerade Papst Franziskus greift in seinen sozialethischen Äußerungen in erkennbarer Gegenbewegung zur global weithin prägenden Kapital- und Gewinnorientierung immer wieder auf den Grundsatz der universalen Bestimmung der Güter der Erde zurück, die für alle Menschen da sind. Er zieht die Linien dieser Lehre in seiner jüngsten Sozialenzyklika Fratelli tutti sogar aus auf das (wie auch immer näher zu bestimmende) Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge, denn „die Güter eines Territoriums dürfen einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden“ (FT 124).
Die Frage nach dem gerechten Lohn
Ein weiteres zentrales Thema der Enzyklika Rerum novarum ist die Frage nach dem gerechten Lohn, die vor dem Hintergrund der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert zunächst einmal tatsächlich eine Überlebensfrage darstellte. Die Realität der Arbeiter sah meist so aus, dass der Lohn allein nach dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, woraus sich für die Arbeitgeber eine überaus günstige Marktposition ergab und niedrige Löhne – und damit eine weitverbreitete Armut – die Lebensverhältnisse der Arbeiter prägten. Das formulierte auch das sogenannte „eherne Lohngesetz“ (Ferdinand Lassalle, 1825–1864): Der Arbeiterlohn, der die einzige Grundlage für die materielle Existenz des Arbeiterstandes bildete, orientierte sich allein an den Angeboten der Arbeiter, die sich jeweils unterboten. Es war nebensächlich, was der Arbeiter für sich und seine Familie lebensnotwendig brauchte, um in seiner physischen Existenz nicht vernichtet zu werden. Und die Kriterien, die Rerum novarum als entscheidend für einen gerechten Lohn nennt, waren damals beinahe utopisch: „Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, dass der Lohn nicht etwa so niedrig sei, dass er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft.“ (RN 34)
Von Seiten der päpstlichen Sozialverkündigung wurde neben dem Lebensunterhalt noch ein zusätzlicher Aspekt für die Frage der Lohngerechtigkeit mit in Betracht gezogen, nämlich die Förderung des Gemeinwohls und des Schutzes der einzelnen Menschen, die sonst ohnmächtig der geballten Macht des Kapitals gegenüberstanden. Dieses Ziel rechtfertige es dann auch (vgl. RN 34), die Vertragsfreiheit staatlicherseits rechtlich zu ordnen, und so die prinzipielle Überlegenheit des Arbeitgebers gegenüber den einzelnen Arbeitnehmern zumindest zum Teil zu vermindern. Zu diesem Zweck wurden auch Eingriffe in die individuelle Vertragsfreiheit gerechtfertigt. Auch diese Überlegungen sind bis heute relevant, heutzutage werden allerdings nicht nur Maßnahmen des Gesetzgebers eingefordert, sondern unter der Perspektive der Tarifautonomie auch die Tarifparteien selbst in Pflicht genommen.
Ein weiterer Punkt erweist sich hier als interessant: Hatte Rerum novarum einen Familienlohn gefordert und damit gemeint, dass die Familie eines Arbeitnehmers bei der Lohnzahlung angemessen berücksichtigt werden müsste, so stellte sich sehr schnell heraus, dass das „kontraproduktiv“ wäre. Denn wenn das bei der direkten Lohnzahlung berücksichtigt werden sollte, dann hatten Familienväter kaum noch Chancen, eine Stelle zu bekommen, da sie weitaus teurer wären als kinderlose Arbeitnehmer. Im Laufe der Zeit entwickelte sich stattdessen die sogenannte Zweite Verteilung, also die staatliche Sozial- und darin die Familienpolitik. Es kristallisierte sich somit heraus, dass die Berücksichtigung der Lebenslage des Einzelnen eine Aufgabe der Politik und nicht der direkten Lohnzahlung durch die Arbeitgeber war. Hier wird sehr deutlich, dass also die Frage danach, ob der Mensch sich als Subjekt beachtet weiß, nicht nur vom engen Marktgeschehen abhängt, sondern gerade davon, ob und wie dieses Marktgeschehen in angemessene politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet ist!
Wenngleich sicher unter den gegenwärtigen Bedingungen gilt, dass die Armutssituationen unserer Zeit und unserer westeuropäischen Gesellschaften in keiner Weise mit denen der Frühindustrialisierung vergleichbar sind, so bleibt dennoch festzuhalten, dass sich heute – vielleicht wieder verstärkt – der Eindruck verfestigt, eine steigende Zahl von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen erhielte einen derart niedrigen Marktlohn, dass sie und ihre Familien allein davon nicht leben können. Die wesentlich vor diesem Hintergrund eingeführte Regelung zum gesetzlichen Mindestlohn beruht vorrangig auf der Überzeugung, dass jeder Arbeitnehmer einen Lohn in einer Höhe erhalten müsse, der es ihm erlaubt, seinen Lebensunterhalt ohne weitere staatliche Unterstützung zu bestreiten. Dabei geht es nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, um das rein physische Überleben, sondern um einen angemessenen Lebensstandard für alle Bevölkerungsschichten, das Beteiligung an allen gesellschaftlichen Errungenschaften, Prozessen und Einrichtungen ermöglicht.
Die drei Akteure zur Lösung der sozialen Frage
Zur Lösung der großen strukturellen und sozialen Probleme der damaligen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wurden in Rerum novarum drei Akteure genannt: Es geht um den Staat, die einzelnen Arbeiter selbst und die Kirche. Schon allein diese klare Abwendung von der Vorstellung, allein die Kirche habe die Macht und die Kompetenz, die Arbeiterfrage zu lösen, ist als eine große und wegweisende Errungenschaft anzusehen. Denn gerade hinter dieser gewandelten Perspektive stand die Erkenntnis, dass die soziale Frage vielfältige Ursachen hat und keinesfalls monokausal als Konsequenz eines beklagten Glaubensabfalls gewertet werden kann. Auch das ist ein bis heute prägender Grundzug christlicher Sozialethik und wurde in der Pastoralkonstitution des II. Vatikanums Gaudium et spes mit der Betonung der „richtigen Autonomie der Kultursachbereiche“ (GS 36) zum ersten Mal in der Deutlichkeit lehramtlich wegweisend formuliert: Erkenntnisse, sowohl zur Analyse einer Fragestellung oder Problemlage sowie auch Ansätze zur Lösung kommen immer nur im Dialog mit den einzelnen relevanten Sachbereichen und ggf. wissenschaftlichen Bezugspunkten zustande.
Zurück zu den in Rerum novarum genannten Akteuren: Im Detail ging es zunächst um den Staat, der, so die Perspektive des Papstes, über eine staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung und ein Sozialversicherungssystem seiner Pflicht zu einem Beitrag zur Lösung der sozialen Frage nachkommen sollte. Dabei ist dieser Einbezug des Staates noch in besonderer Weise auffällig, denn bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war man auch im Kontext der katholisch-sozialen Bewegung der Überzeugung gewesen, dass ein etwaiger Sozialstaat den Christen die Möglichkeit zur Übung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit nehmen würde. Als zweiter Akteur gelang die Arbeiterselbsthilfe in den Blick. Hier klingt, ohne dass es in dieser Enzyklika schon expressis verbis genannt würde, das in der zweiten Sozialenzyklika (Quadragesimo anno, Nr. 79, 1931 erschienen) ausformulierte Subsidiaritätsprinzip an: Das, was die Arbeiter selbst und aus der Kraft ihrer solidarischen Vereinigung leisten können, das sollen sie auch tun. Hier wurde also die Bedeutung der Solidarität der Menschen in sehr ähnlicher Lage und ihre gemeinsame politische Kraft stark gemacht. Letztlich wurde mit dieser Argumentation die Gründung von Gewerkschaften und Arbeitervereinigungen nicht nur legitimiert, sondern sogar gefordert. Als dritter Akteur wurde die Kirche selbst genannt, zum einen mit den althergebrachten Mitteln der Predigt und dem Verweis auf die Nächstenliebe, aber zum anderen auch mit Hinweis auf notwendige strukturelle und institutionelle Maßnahmen in der Gesellschaft.
Die immer wieder diskutierte Frage, ob diese erste Sozialenzyklika zu spät kam, muss differenziert beantwortet werden. Die Industrialisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen liefen in den einzelnen Ländern in einem sehr unterschiedlichen Tempo ab. Für Deutschland beispielsweise lässt sich sagen, dass hier die soziale Frage erst drei Generationen später als in England, also zwischen 1850 und 1870, relevant wurde. Außerdem war die Enzyklika zwar das erste Dokument päpstlicher Beschäftigung mit der anstehenden Frage, aber im Blick auf das sehr früh beginnende Ringen des deutschen Sozialkatholizismus um die angemessene Analyse der Ursachen und um mögliche Lösungen ist sie eher als ein Meilenstein auf dem Weg zu sehen: als ein klärender Abschluss bis dahin geführter Diskussionen und zugleich als Grundstein für eine neue Tradition.
Die Botschaft von Rerum novarum und ihre aktuelle Bedeutung
In den vergangenen 130 Jahren zwischen der Veröffentlichung der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum und der jüngsten von Papst Franziskus Fratelli tutti im Jahr 2020 hat sich das Spektrum der Fragen sehr erweitert, die im Kontext der Sorge um ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit behandelt werden. Für die Lösung unterschiedlicher Fragen wurden Ansätze entwickelt, zu denen auch die christliche Sozialethik ihren Beitrag leisten konnte. Eine Vielzahl von sogenannten Gerechtigkeitslücken ist in den Blick geraten. Papst Franziskus hat diese in Fratelli tutti auf neue Art in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Während in Rerum novarum vor allem mit Verweis auf die Arbeiterselbsthilfe das Prinzip der Solidarität seine Bedeutung entfaltete, entwickelte Papst Franziskus dies in Fratelli tutti weiter und führte das Prinzip der Geschwisterlichkeit neu ein. Dessen Bedeutung lässt sich inhaltlich in zwei Aspekten skizzieren: Für Papst Franziskus bedeutet das Prinzip der Geschwisterlichkeit, dass die gleiche Würde jedes Einzelnen und aller Menschen tatsächlich anerkannt wird. Der Blick auf die Realität führt ihn zu dem Schluss, dass die Menschenrechte zwar auf dem Papier allgemein anerkannt sind, aber wohl „tatsächlich […] nicht für alle gleich gelten“ (FT 22). Konkret nennt er drei Teilungen der Weltgesellschaft, in denen eine offenkundige Kluft zwischen den Menschen genau diese Geltung der Menschenrechte faktisch in Abrede stellt: Arme und Reiche, Frauen und Männer sowie Freie und Sklaven.
Darüber hinaus impliziert dieser Grundgedanke der Geschwisterlichkeit die Notwendigkeit, das Individuelle, die jeweils eigene Identität jedes und jeder Einzelnen anzuerkennen und eben nicht einer Einheitsgesellschaft das Wort zu reden. Dabei geht Papst Franziskus davon aus, dass „ein gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich [sein wird], der niemanden ausschließt, und eine Geschwisterlichkeit, die für alle offen ist.“ (FT 94)
Mit dieser zweifachen Perspektive blieb Papst Franziskus nicht nur auf der individuellen Ebene stehen, sondern er übertrug diesen Gedanken (ähnlich wie Papst Johannes XXIII. es in Pacem in terris (erschienen 1963) mit den Menschenrechten auch gemacht hat) in Analogie auf die Ebene der einzelnen Nationen bzw. Staaten mit ihrer je eigenen kulturellen Identität und der gesamten Weltgesellschaft, die mehr ist als die Summe der verschiedenen Länder.
Mit diesen Koordinaten zur Geschwisterlichkeit ausgerüstet, lässt sich im Blick auf die bisherige Entwicklung eine Vielzahl an Facetten der sozialen Frage identifizieren und der Punkt, durch den auch heute Gerechtigkeitslücken in verschiedenen Bereichen entstehen, wurde so eindeutig markiert: Es geht immer wieder um die Würde des Menschen und die sich daraus ergebenden sozialen Konsequenzen. Im Blick auf unser Jahrhundert sind hier exemplarisch vielfältige Aspekte der sozialen Frage zu nennen: Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit, nach neuen unternehmerischen Formaten (hier sei als Beispiel auf das durch zunehmende Digitalisierung ermöglichte Crowdworking verwiesen), aber auch Fragen nach der weltweiten Verteilung von Impfdosen im Kontext der Corona-Pandemie, nach medizinischen Behandlungschancen, nach der Gleichberechtigung von Frauen und Männern im großen politischen und gesellschaftlichen Kontext, aber auch im kleinen familiären und arbeitsweltbezogenen Alltag, nach dem Verhältnis der Generationen zueinander, nach dem Umgang der Menschen mit den Fragen des Klimas und der Umwelt u.v.m., nach den Möglichkeiten der politischen Partizipation und freiheitlicher Entscheidung, nach dem Umgang mit Migration und Flucht. Zusammen gefasst könnte man auch hier sagen: Die neuen Dinge, Rerum novarum.
Die Sorge um diese vielfältigen sozialen Fragen und um die Realisierung von sozialer Gerechtigkeit stellt eine fundamentale Herausforderung für die Kirche dar und ist ein zentraler Bestandteil ihres christlichen Auftrags. Die Glaubwürdigkeit der Kirche mit ihrer Botschaft erweist sich aktuell besonders an der Beachtung auch dieser Dimension des gesellschaftlich-politischen Diakonie. Die Grundlagen dafür hat bereits Papst Leo XIII. mit Rerum novarum der Kirche ins Stammbuch geschrieben, und keiner der nachfolgenden Päpste hat es bisher versäumt, diese konstitutive Dimension aufzugreifen und immer wieder die neuen Fragen zu benennen und nach Antworten zu suchen.
Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br.
Anmerkungen:
[1] Alle Zitate dieses Abschnitts aus: Cathrein, Victor: Art. Sociale Frage, in: Wetzer, Heinrich-Joseph/ Welte, Benedikt (Hg.): Kirchenlexikon, Bd. 11. Freiburg ²1899, S. 431–465, hier S. 431.
[2] Vgl. Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Einführung in die Christliche Sozialethik, in: Karlheinz Ruhstorfer (Hg.): Systematische Theologie. Theologie studieren – Modul 3. 1. Aufl. Stuttgart 2012, S. 233–285, hier S. 235.
[3] Grebing, Helga: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Teil II, in: Walter Euchner und Helga Grebing u.a. (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik; ein Handbuch. 2. Aufl. Wiesbaden 2005, S. 355–862.
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