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Essay

„Der Weg zur Europäischen Union ist unumkehrbar.“ Der Vertrag von Maastricht als deutsch-französische Gemeinschaftsaktion 1992

von Prof. Michael Gehler
Die Zusammenarbeit zwischen dem französische Staatspräsidenten François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl war maßgeblich dafür, dass die Maastricht-Verhandlungen im Dezember 1991 zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden konnten. 30 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags im Februar 1992 fällt die historische Bilanz und die Bewertung seiner Folgen jedoch ambivalent aus, denn mehr und mehr traten seither seine Grenzen zutage. Die Vorläufigkeit des damals erzielten Ergebnisses lässt sich daran ablesen, dass bis 2009 bereits vier neue europäische Vertragswerke (Amsterdam, Nizza, Verfassungsvertrag und Lissabon) verhandelt wurden.

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Mit diesem in der Überschrift zitierten Satz begann Helmut Kohl am 13. Dezember 1991 seine Ausführungen im Deutschen Bundestag in Bonn zum Bericht über die abschließenden Verhandlungen von Maastricht, die vom 9. bis 11. Dezember in der südniederländischen Stadt der Provinz Limburg stattgefunden hatten. Er führte weiter aus: „Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die ein Ausbrechen oder einen Rückfall in früheres nationalstaatliches Denken mit all seinen schlimmen Konsequenzen unmöglich macht. Wir haben damit ein Kernziel deutscher Europapolitik in die Tat umgesetzt. Maastricht ist der Beweis dafür, daß das vereinte Deutschland seine Verantwortung in und für Europa aktiv wahrnimmt und zu dem steht, was wir immer gesagt haben, nämlich daß die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.“ Damit war die deutsche Position, repräsentiert durch den Regierungschef, klar umrissen.

Die Römischen Verträge mit EWG und EURATOM (1957, in Kraft 1958) bildeten gleichsam ein Grundgesetz für den Integrationsfortschritt. Bis zum Vertrag von Maastricht gab es keinen vergleichbaren Vertrag in der Geschichte der europäischen Einigung, der auch dessen erste Säule bilden sollte. Die fortbestehenden Gemeinschaften (Montanunion, EWG und EURATOM) sollten mit der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP), die die „Europäische Politische Zusammenarbeit“ (EPZ) ablöste, und der „Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) drei Säulen der EU bilden. Was aber führte zu diesem Vertrag und seiner Unterzeichnung am 7. Februar 1992 in Maastricht vor dreißig Jahren?

 

Entscheidende Jahrzehnte vor Maastricht

Die Wurzeln des Vertrags gehen auf längere Entwicklungen vor dem großen geopolitischen Beben in Ostmitteleuropa von 1989 bis 1991 zurück. Trotz des starken Einflusses des veränderten internationalen Umfeldes, bedingt durch die deutsche Vereinigung und den Zusammenbruch der Sowjetunion, war die Agenda der Verhandlungen, die zum Vertrag von Maastricht führten, mindestens genauso sehr, wenn nicht sogar mehr noch vom Verlauf der europäischen Integrationsdynamik weit vor den genannten Umbrüchen vorgeprägt. Entgegen dem vorurteilsbehafteten Schlagwort der „Eurosklerose“ gab es in den 1970er Jahren mit dem Wechselkursmechanismus (WKM) und dem Europäischen Währungssystem (EWS) (1978) sowie den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlaments (1979) zukunftsweisende Impulse und Vorentscheidungen. Kontinuität bestand im Sinne der Erweiterungen von sechs auf neun und schließlich 12 Mitglieder. Mit der „Norderweiterung“ eröffnete sich durch den britischen Beitritt (1973) eine globale Außenperspektive für die EG. Mit der „Süderweiterung“ (1981, 1986) wurde die maritime Dimension der EG durch den Mittelmeerraum ergänzt. Die Einheitliche Europäische Akte (1987) ebnete vorentscheidend den Weg für eine weitere Vertiefung hin zum Binnenmarkt, der die innere Teilsouveränität der westeuropäischen Gemeinschaften stärkte, aber die Frage nach der Endgültigkeit der politischen Einigung offenließ. Laut dem britischen Historiker Piers Ludlow zeichneten sich in den 1980er Jahren vier Trends ab, die zu Maastricht führten: erstens die Erkenntnis, statt zu einer weniger formalen zu einer vertraglich festgelegten Reform vorzustoßen, zweitens der Wille jene Aspekte der Integration, die außerhalb des bisherigen gemeinschaftlichen Rahmens entstanden waren, zu strukturieren und in eine Ordnung zu bringen, drittens, das wachsende Vertrauen in einen institutionellen Umbau als Mittel um den stets zahlreicher werdenden Aufgaben und Herausforderungen gewachsen zu sein sowie viertens eine Tendenz, zu politischen Synergien beizutragen. Das Zusammenspiel dieser vier Motive und Ziele war Ausdruck einer Haltungsänderung der 12 EG-Mitglieder und der Gemeinschaftsinstitutionen zum weiteren Integrationsfortgang.

 

Zentraler Partner Frankreich

In den Jahren von 1989 bis 1991 vorverhandelten französische Regierungsstellen den Maastrichter Vertrag, wobei es ihnen um zwei Dinge ging: einerseits sollte Europas eine neue politische Struktur erhalten, die den Herausforderungen nach der Charta von Paris (1990) mit der offiziellen Erklärung zur Beendigung des Kalten Krieges gerecht würde, andererseits waren die EG-Institutionen an die neuen Aufgaben anzupassen, besonders mit Blick auf eine gemeinsam mit Deutschland geplante „Wirtschafts- und Währungsunion“ (WWU). Den Instruktionen des französischen Sozialisten und Staatspräsidenten François Mitterrand zufolge schlossen seine Unterhändler zu diesem Zweck eine Vereinbarung mit Bundeskanzler Helmut Kohl, die darauf abzielte, Großbritannien mit seiner zu befürchtenden Veto-Haltung zu isolieren und einen Elfer- Mitgliederverbund zu bilden, der bereit sein sollte, auf dem Maastrichter Gipfel der Staats- und Regierungschefs einen Vertragstext zu vereinbaren. Mitterrand forderte die Währungsunion mit einer Wirtschaftsregierung. Dagegen wehrte sich die deutsche Seite auch mit Blick auf den Eintritt in die letzte Stufe der WWU, dem unwiderruflichen Übergang zum Euro, zumal Kohl wusste, dass die Mehrheit der Deutschen gegen die Aufgabe der D-Mark war. In Bezug auf die geforderte Wirtschaftsregierung fürchteten die Deutschen französischen Dirigismus und traditionellen Staatsinterventionismus, außerdem sahen sie die Unabhängigkeit der Bundesbank in Gefahr. Die deutsch-französischen Verhandlungen über die Politische Union und die Währungsunion waren letztlich von Kompromissen gekennzeichnet, die auf bilateraler Ebene geschlossen wurden. Damit versuchte man dazu beizutragen, Form und Unzulänglichkeiten der späteren Vereinbarung von Maastricht zu klären. Erst am 5. Dezember 1991, unmittelbar vor Beginn der Konferenz und wenige Tage vor Abschluss des zu paraphierenden Vertrages, rückte der damals noch bekennende Föderalist Kohl vom Vorrang der Bildung einer „Politischen Union“ ab, ohne die Wirtschaftsregierung zu akzeptieren. Der Weg zum Euro war damit freigemacht und unausgesprochener Weise die D-Mark aufgegeben. Trotz Mitterrands Standpunkt, das Vertragsergebnis nach seinen Präferenzen zu gestalten, nahm Frankreich während der Verhandlungen eine Vermittlerrolle ein und drang so mit der Durchsetzung von WWU, PJSZ und GASP durch, obwohl es ursprüngliche Ambitionen in anderen Bereichen (Soziales, Industrie) zurücknehmen musste. Kohl und Mitterrand waren damit maßgeblich dafür verantwortlich, dass die deutsche Vereinigung die Maastricht-Verhandlungen nicht zum Scheitern brachte oder verzögerte. Ihre Zusammenarbeit war entscheidend für den Abschluss. Die bilateralen Zugeständnisse in Bezug auf institutionelle und wirtschaftspolitische Fragen schränkten jedoch die Vertragsambitionen in den beiden Schlüsselbereichen Wirtschaft und Währung ein.

Die übrigen großen Partner

Italiens Position bewegte sich unter der Regierung des Christdemokraten Giulio Andreotti zwischen europäischen Hoffnungen und hausinternen Zwängen. Die italienische Ratspräsidentschaft hatte in der zweiten Jahreshälfte 1990 die zwischenstaatlichen Verhandlungen über die WWU vorangetrieben. Roms Augenmerk lag auf der Linie von Kohl, der eine Stärkung des Europäischen Parlaments befürwortete. Man erwartete sich von ihm, dass es die Interessen des Landes verteidigen und gleichzeitig ein Gegengewicht zur verstärkten deutsch-französischen Partnerschaft bilden würde. Aufgrund der Abschwächung seiner Wirtschaft im Jahre 1991, versuchte Italien durch Finanzminister Guido Carli und Vertreter der Banca d'Italia seine EG-Partner davon zu überzeugen, dass Rom in der Lage sei, die wirtschaftliche Misere des Landes zu überwinden. Gleichzeitig rang Andreotti dem Parlament und Parteilobbyisten die Annahme einer Politik des wirtschaftlichen Sparens, der Liberalisierung der Märkte und Privatisierungen ab. Italien hegte mit dem Vertrag von Maastricht, so der italienische Historiker Antonio Varsori, die Hoffnung, die europäische Integration zu vertiefen und eine vorteilhafte Wirtschaftspolitik anzustoßen, um die inneren Widersprüche zu überwinden und um allem voran die steigende Inflation einzudämmen, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, den Einfluss des organisierten Verbrechens einzudämmen sowie die politische und wirtschaftliche Glaubwürdigkeit innerhalb der EG am Vorabend der Verhandlungen des Vertrags zu erhalten. Doch schon 1992 fand sich Italien in einer dramatischen Krise wieder, die mit einem Ausscheiden aus dem EWS verbunden war. Der Maastrichter Vertrag veränderte jedoch mittelfristig das Land nachhaltig. Er verhalf einer neuen Schicht proeuropäischer Technokraten zum Einstieg in das politische System. Sie hatten die WWU mit ausgehandelt und gewannen somit das Vertrauen ihrer europäischen Partner zurück.

Mit dem Nachfolger der Eisernen Lady Margaret Thatcher als neuem britischen Premierminister, John Major, verstand sich Kohl viel besser. Dem weniger doktrinär argumentierenden und mehr pragmatisch agierenden neuen britischen Regierungschef konnten Ausnahmeregelungen zugebilligt werden, sodass er in Sachen einheitlicher Währung und Politischer Union kein britisches Veto einlegte, sondern sich mit opting outs begnügte. Innenpolitisch konnte er diese als Erfolge verkaufen, vor allem sich von der Währungsunion und aus der geplanten Sozialcharta ausnehmen sowie dem britischen Parlament vorbehalten, spezifische Richtlinien der EU nicht in nationales Recht umsetzen zu müssen. Kohl war mit der Verhinderung eines britischen Vetos gegen die Kernbestände des Vertrages geholfen, gleichwohl hoffte er, dass Major seinen Konservativen in der Folge noch einige Zugeständnisse abringen würde – was jedoch nicht in Erfüllung gehen sollte. Das gehört zur längeren Vorgeschichte des Brexit.

 

Die WWU als kontroverser und zentraler Vertragskern

Die nationalen Notenbanker waren im Vorfeld von Maastricht maßgeblich an der Formulierung der neuen Währungsstruktur beteiligt, zunächst im Delors-Komitee (1988–1989) und dann im Komitee der Zentralbankgouverneure. Das erklärt auch, warum die EZB zunächst nicht mit der Bankenaufsicht und der Regulierung des Bankensektors betraut wurde. Besonders befürchtete die Bundesbank, dass die EZB in die Funktion eines letztinstanzlichen Geldverleihers gedrängt würde. Kohl hatte weder währungs- noch wirtschaftspezifische Kenntnis, sondern betrachtete die Materie rein politisch. Mit einer gemeinsamen Währung sollte seinem Willen nach ein Maß an politischer Verflechtung und europäischer Staatlichkeit erreicht sein, welche die Integration irreversibel machen würden. Allerdings sollten die Fortschritte auf den Gebieten, die entweder dem Bundeskanzler oder dem französischen Staatspräsidenten besonders wichtig waren – die Stärkung der europäischen Institutionen bzw. die Schaffung eines europäischen Verteidigungssystems – weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, die für einen nachhaltigen Erfolg notwendig gewesen wären. Das Ausbleiben einer „Wirtschaftsregierung“, deren Fehlen später in der „Eurokrise“ beklagt wurde, war in erster Linie auf den nicht geringen Einfluss der deutschen Bundesbank zurückzuführen, die auf der Unabhängigkeit der EZB bestand. Auf paradoxe Weise sind so die Anstrengungen, die Stabilität der Währungsunion auf Dauer zu sichern, von den deutschen Verteidigern monetärer Stabilität selbst zunichte gemacht worden. Die in Maastricht vereinbarte WWU wurde von Kritikern in beiden Ländern als Gefahr für das nationale Selbstverständnis wahrgenommen. Während sie in Deutschland behaupteten, dass die ordnungspolitischen Grundlagen der Währungsunion von französischen Vorstellungen dominiert würden, erklärten die französischen, dass die Währungsunion zu stark von deutschen Vorstellungen beeinflusst sei. Letztlich war die WWU Ausfluss unentschiedener Debatten über nationale Identitäten und Währungskulturen, die aufeinanderprallten, wie der deutsche Historiker Guido Thiemeyer gezeigt hat. Mit Maastricht verbunden war der mittelfristige Verzicht auf die D-Mark. Ihr Ersatz durch den Euro war von Kohl jedoch nicht als Opfer für die Deutsche Einheit, sondern als Beitrag für ein geeintes Europa und zur Stärkung monetär schwächerer EG-Mitglieder gedacht.

 

Ambivalentes Erbe

30 Jahre nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags ist gebührender Abstand vorhanden, um eine Bilanz zu ziehen und eine historische Einordnung vorzunehmen. Es bietet sich damit die Möglichkeit, daran zu erinnern, dass die historische Beurteilung der Vergangenheit immer wieder von gegenwärtigen Entwicklungen abhängig ist. Die nach Maastricht folgende Geschichte ist durch eine Entwicklung von Vertragsrevision zu Vertragsrevision gekennzeichnet und erscheint als ein Erbe, das unzureichend war. Die left overs und ihre politischen Auswirkungen gehören zu seinen Schattenseiten, denkt man an den gestiegenen demokratischen Legitimationsdruck und an eine noch nie dagewesene Erweiterung nach Nordost-, Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Neue Themen gelangten auf die Tagesordnung, die alsbald die Grenzen des Maastrichter Vertrags aufzeigten. Die befürchteten Folgen der sogenannten „Osterweiterung“ sowie die zunehmende Rivalität zwischen großen und kleineren Mitgliedsstaaten im Vorfeld und im Kontext des Nizza-Vertrags (2000, in Kraft 2003) kamen hinzu. Bis 2009 gab es allein vier neue Vertragswerke (Amsterdam, Nizza, Verfassungsvertrag und Lissabon), die allesamt unvollständig blieben. Aufgrund der zentralen Bedeutung der WWU ist eine tiefgreifende Vertragsreform in der Post-Lissabon-Phase eine der unerledigten Aufgaben des Maastricht-Vertrags. Die andauernde Leistungsbilanzdefizit- und Staatsschuldenkrise, in der eine immer größere werdende Gruppe von Experten, Schaulustigen und Untergangspropheten vor der wachsenden Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs des Euro-Systems warnt, hat nicht nur das öffentliche Bewusstsein für die jüngste Geschichte der EU stark geprägt, sondern stellte auch erste allzu positive Interpretationen der historischen Forschung zum Maastricht-Vertrag in Frage. Im Zeichen der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahren weckte die zweite Säule mit der GASP Kritik und löste eine Debatte über die Zukunft der EU-Außen- und Sicherheitspolitik aus – mit bescheidenem Fortschritt und geringem Erfolg bis heute. Die terroristischen Anschläge des 9/11 auf Institutionen in den USA haben das Interesse für die dritte Säule des Vertrags mit Justiz und Innerem wachsen lassen, während die Ratifikationskrise des „Verfassungsvertrags“ von 2005 sowie die zählebigen Verhandlungen und die schleppende Ratifizierung des Vertrags von Lissabon zwischen 2007 und 2009 die Aufmerksamkeit auf die rechtlichen und konstitutionellen Aspekte des Maastrichter Vertrags gelenkt haben. Diese nach Maastricht einsetzenden und veränderten Entwicklungen haben die seinerzeit bereits bestehende Komplexität der Vertragsmaterie, aber gleichzeitig auch ihre Defizite verdeutlicht.

 

Michael Gehler ist Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim sowie Inhaber eines Jean Monnet-Chairs für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Geschichte der europäischen Integration.

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