Pandemien haben sich in der Geschichte nicht zwangsläufig spürbar auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen ausgewirkt, also auf die Machtverhältnisse und die Hierarchien zwischen den Staaten und die mehr oder minder geregelte Organisation der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Dessen ungeachtet kam es zu mannigfaltigen Auswirkungen auf die kollektive Psychologie, die Wahrnehmung der Welt oder den literarischen und künstlerischen Ausdruck, wie es für das Europa des 14. Jahrhunderts mit der Verbreitung von „Totentänzen” belegt ist. Aber das ist nicht das Thema, um das es uns hier geht.
Der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts hat nicht verhindert, dass der Hundertjährige Krieg sich über ein Jahrhundert lang fortsetzen konnte. Aber in Wirklichkeit begann damit ein komplizierter Prozess, nämlich der Übergang des feudalistischen Europas zu einem System moderner Staaten, die auf dem Gefühl nationaler Zugehörigkeit beruhten. Die „Spanische Grippe” der Jahre 1918 bis 1919, die eigentlich von den Vereinigten Staaten ausging, wurde aus politisch-militärischen Gründen sorgfältig verschwiegen. Wer erinnert sich heute schon noch an die Asiatische Grippe von 1957, die in Frankreich immerhin 100.000 Menschen das Leben kostete? Unmittelbar nach der Suezkrise – mitten im Algerienkrieg und am Vorabend des Putsches von Mai 1958 – hatten die Franzosen, die im Übrigen gerade einen Wirtschaftsaufschwung erlebten, eben andere Sorgen.
Die derzeitige Pandemie jedoch könnte zu wesentlich deutlicheren Einschnitten führen. Da weder ihre Dauer noch ihre weitere Entwicklung, geschweige denn ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen absehbar sind, ist weiterhin Vorsicht geboten. Gleichwohl sollen uns drei hier drei Überlegungen als Orientierung dienen.
Die Geschichte der Pandemien zeigt, dass sie im Allgemeinen keine Auswirkungen auf das Verhältnis der Länder untereinander oder auf die geographischen Großräume haben. (Die Große Pest von London des Jahres 1665 hat nicht die globale Expansion Großbritanniens verhindert; die zahlreichen Ausbrüche der Cholera haben im 19. Jahrhundert Europa nicht daran gehindert, die ganze Welt zu dominieren; und die Spanisch genannte Grippe von 1918 bis 1919 hat die Alliierten nicht davon abgehalten zu tun, wonach ihnen der Sinn stand.) Pandemien führen schlicht dazu, dass der Starke in einem Darwin’schen Prozess stärker und der Schwache schwächer wird.
Entwicklung des Multilateralismus auf der Grundlage westlicher Werte
Zweite Überlegung: Seit der Entstehung des Völkerbunds im Jahre 1919 und erst Recht seit der Gründung der Vereinten Nationen (UN) im Jahre 1945 ging die Gesamtheit des Planeten dazu über, internationale Angelegenheiten nach dem System des Multilateralismus zu regeln, das sich in Europa mit dem Westfälischen Frieden von 1648 und noch mehr auf dem Wiener Kongress von 1815 vorsichtig abzeichnete. Die UN gründeten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Welthandelsorganisation (WTO). Diese Einrichtungen, die tatsächlich westliche Länder nach ihren Vorstellungen gründeten, haben der Welt lange Zeit große Dienste erwiesen, und zwar sowohl für die Gesundheit der Weltbevölkerung und die Bekämpfung von Pandemien als auch für die Einhaltung eines Mindestmaßes an internationalen Handelsregeln, angefangen bei der Nicht-Diskriminierung sowie der Einhaltung von gesundheitlichen, technischen und vielen anderen Normen. Das begrenzte die negativen Auswirkungen der Lähmung, zu der es häufig wegen des Vetorechts der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat kam.
Doch der politische Aufstieg von nicht-westlichen Ländern in diesen Organisationen hat ihre Tagesordnungen und ihre Funktionsweise tiefgreifend verändert: Das war von den 1970er Jahren an in der UNESCO zu beobachten und auch in der WTO, in der China ohne das Zugeständnis wirklicher Gegenseitigkeit die Nicht-Diskriminierung erreichte. Und jetzt sieht man es auch in der WHO, die zu lange gezögert hat, von einem Zustand der Pandemie zu sprechen. Nebenbei bemerkt zeigt sich dasselbe Phänomen auch im UN-Menschenrechtsausschuss.
Nachteile eines unausgeglichenen Multilateralismus
Diese Verschiebungen wurden oft mit dem Hinweis auf die so genannten „optimierten Wertschöpfungsketten" gerechtfertigt, die sich den niedrigen Lohnkosten für asiatische Arbeitskräfte verdanken. Doch jede Kette hat zwei Enden, und Lenins Frage, wer wen kontrolliere, behält ihre volle Gültigkeit. Einst wurden die „Wertschöpfungsketten“ im Großen und Ganzen vom Westen kontrolliert, der in Technologie und Erfahrung überlegen war, während China dank seiner billigen Arbeitskräfte nur für die minderwertigen Produkte zuständig war. Seit den 2010er Jahren jedoch hat sich das Blatt gewendet: Immer häufiger kontrollieren die Chinesen die „Wertschöpfungsketten“, denn in vielen Bereichen (Informatik, Mobilfunknetze, Batterien, Solarpanels) haben sie längst die Führung übernommen.
Darüber hinaus sieht man derzeit, welche Nachteile die Abhängigkeit bei bestimmten Medizinprodukten, bei den Wirkstoffen von Medikamenten und beim 5G-Standard nach sich zieht. Die aktuelle Krise enthüllt und verschlimmert also lediglich die schon latent vorhandene Krise eines ungleichgewichtigen Multilateralismus.
Die dritte Überlegung gilt der zunehmenden Bedeutung dessen, was wir als „Regionalismus" bezeichnen, also die Tendenzen zum wirtschaftlichen Zusammenschluss geographischer Großräume, die erstmals in den 1930er Jahren und dann verstärkt seit den 1950er Jahren festzustellen waren. In diesem Zusammenhang ist natürlich die Europäische Union gemeint, aber auch die Asean in Asien und der Mercusor in Lateinamerika. In der Tat hat die Globalisierung Höhen und Tiefen gehabt. Im Grunde kann man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts drei große Phasen unterscheiden, die jeweils Rückschläge oder Zeiten des Stillstands gekannt haben. Die Globalisierung hat sich nicht durchgehend in dieselbe Richtung entwickelt. Seit einigen Jahren belegen die Zahlen des Welthandels, dass es innerhalb der einzelnen großen Wirtschaftsregionen ein schnelleres Wachstum als auf globaler Ebene gibt. Globalisierung und Regionalisierung stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander und die derzeitige Krise, die wohl so manchen Wirtschaftszweig in Frage stellen wird (Luftfahrt, weltweiter Massentourismus, globale Produktionsketten), wird möglicherweise die Tendenzen zur Regionalisierung verstärken.
Vom Multilateralismus zum Multiregionalismus?
Was haben wir also zu erwarten? Betrachten wir zunächst die Vereinigten Staaten als Schöpfer des Multilateralismus der Zeit nach 1945. Sie sind seit den 1970er Jahren nach und nach vom Multilateralismus abgekommen – übrigens ausgelöst durch die Entscheidungen, die man als „Nixon-Schock“ bezeichnet und die das Bretton-Woods-Abkommen obsolet machten. Den Amerikanern wurde damals klar, dass sie den Dollar nicht länger stabil halten konnten, indem sie in erster Linie ihrer internationalen Verpflichtung nachkamen, jeden Dollar in Gold zu konvertieren. Präsident Trump ist nicht der einzige, der die Wettbewerbsverzerrung auf dem Weltmarkt kritisiert, und seine Argumente zeugen nicht nur von nationalem Egoismus. Es besteht Grund zu der Annahme, dass die Vitalität der amerikanischen Wirtschaft und vor allem ihre Innovationsfähigkeit es den Vereinigten Staaten erlauben wird, die Krise zu überwinden und die erste Wirtschaftsmacht zu bleiben. Fraglich ist jedoch, ob sie in der Lage sein werden, dem Isolationismus zu widerstehen, und ob es ihnen gelingt, zwar nicht den kranken Multilateralismus wiederzubeleben, aber doch zumindest ausgewogene Beziehungen zu anderen Großräumen zu knüpfen, vor allem zu Europa und Südamerika. So könnte der Multilateralismus von einem weniger ehrgeizigen, aber dafür lebensfähigeren „Multiregionalismus" abgelöst werden.
China war nach den Vereinigten Staaten der zweite große Nutznießer des Multilateralismus und könnte nach der Krise, die es anscheinend rasch zu überwinden vermag, noch weiter an Bedeutung gewinnen. Aber das gilt nur auf kurze Sicht: Langfristig dürften die Schieflage seines Entwicklungsmodells, die in grellem Licht zu Tage getreten ist, und die Verhärtung seines politischen Regimes das Wachstum des Landes hemmen. Vieles wird von den Reaktionen seiner Nachbarn im asiatisch-pazifischen Raum abhängen, deren Wille, sich dem chinesischen Druck zu widersetzen, in der Krise eher zu wachsen scheint. Es wird aber auch von den Reaktionen im Nahen Osten und in Afrika abhängen, wo sich nicht jeder über das Vordringen Chinas freut, und natürlich auch von denen Europas.
Die Wiederbelebung des Westens als Ausweg aus der Krise?
Europa kommt bei den Neuausrichtungen, die im Gange sind, eine entscheidende Rolle zu. Die Krise hat eher einen Mangel an Solidarität zwischen den Mitgliedern der durch den Brexit geschwächten Europäischen Union vor Augen geführt. Könnte sich dieser Trend in Zukunft wieder umkehren? Das ist keineswegs sicher: Die Staaten haben sich als anpassungsfähiger erwiesen und dabei in ihre alte Rolle zurückgefunden. Die Schwerfälligkeit der Brüsseler Verfahren und das Fehlen einer ausreichenden affectio societatis, wie sich an den Reaktionen der öffentlichen Meinung ablesen ließ, lassen an der Umkehr des Trends zweifeln.
Weniger Zweifel besteht hingegen an der Hierarchie zwischen den Mitgliedern der Union: Deutschland und Nordeuropa bereiten sich darauf vor, die Wirtschaft wesentlich schneller wieder anzukurbeln als Frankreich oder Südeuropa im Allgemeinen. Sollte diese Tendenz noch weiter zunehmen, werden wir in einem Jahr die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen zu spüren bekommen.
Die europäische Grundausrichtung hängt letztlich weitgehend von Berlin ab, so wie es im Allgemeinen seit 1871 der Fall war. Ebenso klar ist, welche Debatte heute schon geführt wird: Sollte sich Europa nach der Krise trotz allem wieder Peking zuwenden, so wie es viele Industrieunternehmer fordern? Dann wäre Europa früher oder später tatsächlich nur noch ein Kap Eurasiens. Oder wäre es nicht besser, eine atlantische Welt wiederaufleben zu lassen, mit im weitesten Sinne westlichen Werten, im Einvernehmen mit London und Washington (sofern die beiden Hauptstädte sich von ihrer Seite dazu bereit erklären) und unter Einbeziehung von Afrika, Südamerika und dem indopazifischen Raum?
Georges Henri Soutou ist Mitglied des Institut de France und emeritierter Professor an der Sorbonne Université in Paris. Der Artikel ist ursprünglich auf der Webseite der Académie des Sciences morales et politique des Institut de France (https://academiesciencesmoralesetpolitiques.fr/2020/05/06/georges-henri-soutou-coronavirus-et-systeme-international/) erschienen.