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Amio Cajander / flickr / CC BY-SA 2.0

Essay

Die ordoliberalen Grundlagen der europäischen Integration

von Dr. Anselm Küsters

Historischer Hintergrund und Fortbestand

Der bis heute andauernde Prozess der Europäischen Integration wurde nach dem Zweiten Weltkrieg initiiert, um Frieden, Stabilität und Wohlstand zu fördern. Gerade in einer Zeit, in der sich Europa erneut mit Krieg auf dem eigenen Kontinent und einer zunehmend fragmentierten Weltwirtschaft beschäftigen muss, lohnt sich der Blick zurück auf die Personen und Umstände, die diesen Prozess angetrieben haben. In den Jahren nach 1945 suchten die Staaten in Westeuropa vor allem nach einem Weg, um die verheerenden Konsequenzen von Nationalismus und Protektionismus zu überwinden. Ordoliberale Ideen spielten dabei eine entscheidende Rolle.

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Der sogenannte Ordoliberalismus entwickelte sich in Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren und betonte – entgegen dem Zeitgeist – die Rolle von freier Marktwirtschaft, fairem Wettbewerb und regelbasierter staatlicher Intervention. Anhänger dieser Denkschule forderten, dass der Staat die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen so setzen müsse, dass ein gesellschaftlich vorteilhaftes Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, und letztlich individuelle Freiheit für alle, entstehen kann. Gleichzeitig grenzten sich die Anhänger des Ordoliberalismus von früheren liberalen Ideen eines Nachtwächterstaates ab, indem sie forderten, dass der Staat auch soziale Ungleichheiten und insbesondere ökonomische Machtkonzentrationen ausgleichen müsse. Welche Rolle spielten diese ordoliberalen Grundsätze nach dem Weltkrieg? Was ist ihre Bedeutung für die heutige Gestalt der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion?

 

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Alle Wege führen nach Freiburg

Die Entstehung der ordoliberalen Denkschule lässt sich nur vor dem dramatischen Hintergrund der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus verstehen. Die Folgen des Ersten Weltkriegs – politische Instabilität und die Hyperinflation sowie dann die Auswirkungen der aus den USA herüberschwappenden Weltwirtschaftskrise von 1929 – trafen auch die deutsche Wirtschaft schwer und führten, neben steigenden Arbeitslosenzahlen, zu einer tiefen Vertrauenskrise in das liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.

Vor diesem Hintergrund begann eine jüngere Generation von Akademikern, sich von dem starren theoretischen Korsett der vorherrschenden „Historischen Schule“ und den dogmatisch gewordenen Glaubenssätzen eines früheren Laissez-faire-Liberalismus abzugrenzen. Diese Wissenschaftler suchten nach neuen Wegen, um die Probleme der Zeit zu bewältigen. Zu dieser Generation gehörte eine Gruppe von Nationalökonomen und Juristen, darunter Walter Eucken, Franz Böhm und Wilhelm Röpke, die einen Mittelweg zwischen ungeregelter Marktwirtschaft und Staatsinterventionismus suchten.

Eine zentrale Anlaufstelle hierbei war die Universität Freiburg im Breisgau, wo Walter Eucken seit 1927 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre lehrte. Daher spricht man bis heute von der „Freiburger Schule“, wenn man den charakteristischen ordnungspolitischen Ansatz beschreiben möchte, der die Notwendigkeit staatlicher Rahmensetzung und institutioneller Regelungen für das Funktionieren von Marktwirtschaft und Wettbewerb betont. Eucken (1891–1950) konzipierte in seinen beiden Monografien – die „Grundlagen der Nationalökonomie“ von 1940 und die 1952 posthum erschienenen „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ – die theoretischen Grundlagen einer sinnvoll ablaufenden „Verkehrswirtschaft“. Er identifizierte die Bedeutung freier Preise, um eine effiziente Allokation von Ressourcen und ein Höchstmaß an individueller Freiheit zu erreichen, sah aber auch die Notwendigkeit einer aktiven staatlichen Gestaltung, um die negativen Auswirkungen von Marktmacht, Externalitäten und sozialen Verwerfungen zu verhindern. Der Jurist Franz Böhm (1895–1977) komplementierte Euckens ökonomische Ideen mit seinen Analysen des Wettbewerbsrechts, in denen er für eine rigorose Wettbewerbspolitik plädierte, um den unternehmerischen Aktionsradius vor Machtkonzentration, etwa in Form von Monopolen, zu schützen. Der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke (1899–1966) hingegen beschäftigte sich in seinen frühen Arbeiten – wie etwa „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ von 1942 – mit der Rolle einer dezentralen Wirtschaftsordnung von kleinen und mittelständischen Unternehmen und einer ethischen Kultur der Selbstverantwortung. Darüber hinaus forderte er – insbesondere im Einklang mit anderen Freiburger Forschern wie Euckens Studenten Leonhard Miksch (1901–1950) und Friedrich Lutz (1901–1975) – eine stabile Währung und eine unabhängige Zentralbank, um hohe Inflationsraten zu vermeiden.

 

Die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprach der politisch unbelastete Eucken sich in wirtschaftlichen Gutachten für die französische und amerikanische Militärregierung, später als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des bizonalen Verwaltungsamts für Wirtschaft, für die Schaffung einer dezentralen Wirtschaftsordnung sowie eine strikte Wettbewerbs- und stabilitätsorientierte Geldpolitik aus.

Euckens Kollege Alfred Müller-Armack (1901–1978) fasste die ordoliberalen Grundsätze unter dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zusammen. Ludwig Erhard (1897–1977), seit 1949 der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik und 1963–1966 Bundeskanzler, münzte das Konzept in konkrete politische Maßnahmen um. Diese umfassten etwa die Etablierung einer unabhängigen Bundesbank zur Sicherung von Preisstabilität sowie das Durchsetzen eines strikten Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Bereits im Frühjahr 1948 verantwortete Erhard die weitreichende Währungsreform, deren preispolitische Absicherung in Form des Leitsätzegesetzes wohl größtenteils aus der Feder von Miksch stammte.

Tatsächlich wich allerdings die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in manchen Punkten von ordoliberalen Grundsätzen ab. So unterschied sich beispielsweise die institutionelle Gestaltung der Geldpolitik von den frühen ordoliberalen Vorschlägen für eine Währungsverfassung, da keine Währung mit Warenreserve eingeführt wurde und der große Ermessensspielraum der Bundesbank Euckens Ideal eines „rationalen Automatismus“ widersprach.

Auf dem Weg nach Europa

Am 9. Mai 1950 trat der französische Außenminister Robert Schuman (1886–1963) mit dem Vorschlag einer gemeinsamen Kontrolle der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion an die Öffentlichkeit. Das besondere des Schuman-Plans waren dabei nicht allein seine ökonomischen oder politischen Vorstellungen, sondern deren Kombination. Ähnlich der ordoliberalen Vorstellung von einer grundlegenden „Wirtschaftsverfassung“, die die Interdependenz beider Bereiche widerspiegelte, verfolgte Schuman das Ziel, den politischen Missbrauch von wirtschaftlicher Macht zu verhindern. Schon seit den 1930er Jahren hatten Ordoliberale wie Röpke systematisch über die Vor- und Nachteile von Integration nachgedacht. Die an den Schuman-Plan anknüpfenden Wettbewerbsbestimmungen im Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 entstanden gleichwohl unter dem Einfluss einer starken US-Präsenz, da die Amerikaner befürchteten, dass die EGKS zu einem europäischen Kartell für Kohle- und Stahlproduzenten führen könnte.

In der Folge stellte sich die Frage, inwieweit man über diesen rein sektoralen Integrationsansatz hinausgehen wollte. Auf der einen Seite gab es mit Erhards Konzept der „funktionalen Integration“, das Röpke unterstützte, das Ziel einer Art Europäischen Freihandelszone, bei der sich die beteiligten Staaten zunächst untereinander annähern und zum Rest der Welt hin offenbleiben würden. Als Anhänger einer liberalen Wirtschaftsordnung hegten Erhard und Röpke Bedenken gegenüber einer Integration durch die Schaffung supranationaler Institutionen, denn sie sahen die Gefahr, dass diese einen protektionistischen Ansatz verfolgen und zu einer zentralistischen, geplanten Wirtschaftsordnung beitragen könnten. Auf der anderen Seite standen die Ideen des Juristen Hans von der Groeben (1907–2005), der in der Schuman-Plan-Abteilung des Bundeswirtschaftsministeriums den Ton angab. Er vertrat die Ansicht, dass der Abbau von Zöllen und die Einhaltung strenger Wettbewerbsregeln eine institutionelle Grundlage erforderten, um die Einhaltung von Liberalisierungsmaßnahmen zwischen den europäischen Staaten zu gewährleisten – ganz im Sinne einer Ordnungspolitik im Sinne Euckens.

In dieser Situation kam Müller-Armack, der seit 1952 die Abteilung Wirtschaftspolitik im Bundeswirtschaftsministerium leitete, eine Schlüsselrolle zu. Er selbst schilderte dies später in seinen Memoiren mit dem Titel „Auf dem Weg nach Europa“. So trug er im Mai 1955 entscheidend dazu bei, die Gegensätze innerhalb des deutschen Lagers zu überwinden, indem er die maßgeblichen Akteure in sein Sommerhaus einlud.  Als die Römischen Verträge verhandelt wurden, war Müller-Armack der Sprecher der Bundesregierung im Ausschuss für den Gemeinsamen Markt. Zusammen mit den anderen deutschen Mitgliedern von der Groeben und dem ordoliberalen Ministerialdirigenten Hans von Boeckh verteidigte er vehement eine starke Wettbewerbspolitik gegen französische Planungsideen. Letztlich erkannte Müller-Armack, dass die neuen Zeiten starke europäische Institutionen erforderten, und überzeugte Erhard, mit dem EWG-Vertrag die aus ordoliberaler Sicht „zweitbeste“ Lösung zu akzeptieren.

Nach intensiven Verhandlungen folgten Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland diesem grundlegenden Gedanken und beschlossen die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Eine Gruppe von Rechtsexperten, bekannt als Groupe de rédaction, wurde Ende 1956 eingerichtet, um die rechtlichen und institutionellen Bestimmungen des Gründungsvertrages auszuarbeiten.

Obwohl Erhard und Müller-Armack ursprünglich andere Pläne verfolgt hatten, war die Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, der den freien Wettbewerb fördert und Handelshemmnisse abbaut, durchaus im Einklang mit ordoliberalen Grundsätzen. Die Idee eines integrierten europäischen Marktes mit freiem Warenverkehr, freiem Dienstleistungsverkehr, Personenfreizügigkeit und freiem Kapitalverkehr versprach, dass der Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern und Unternehmen zu gesteigerter Effizienz, mehr Innovationen und niedrigeren Preisen führen würde. Die Stärkung des Wettbewerbs durch einen Binnenmarkt zielte außerdem darauf ab, nationalen Protektionismus zu überwinden und damit letztlich zu einer Stabilisierung des Friedens in Europa beizutragen.

Im schließlich am 25. März 1957 verabschiedeten Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (kurz EWG-Vertrag) erlangte der Wettbewerb – nicht zuletzt aufgrund der direkten Mitwirkung Müller-Armacks – eine zentrale Stellung mit einem starken verfassungsrechtlichen Status. In der Präambel verpflichteten sich die Mitgliedstaaten zu koordiniertem Handeln, um eine stetige Expansion, einen ausgeglichenen Handel und fairen Wettbewerb zu garantieren. Darüber hinaus sollte die EWG ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit fördern und ein System sicherstellen, das den Wettbewerb im gemeinsamen Markt nicht verfälscht. Dafür übertrug der Gründungsvertrag der Kommission die Aufgabe, das Verhalten von Unternehmen zu überwachen, damit sie Märkte nicht durch Kartelle oder abgestimmte Praktiken aufteilten (Artikel 85, heute Artikel 101 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, kurz: AEUV) oder ihre beherrschende Marktstellung missbrauchten (Artikel 86, heute Artikel 102 AEUV). Der EWG-Vertrag befugte die Kommission zudem, staatliche Beihilfen (Artikel 92 bis 94, heute Artikel 107 bis 109 AEUV) oder bestimmte Maßnahmen der Mitgliedstaaten zugunsten öffentlicher Unternehmen (Artikel 90, heute Artikel 106 AEUV) zu überwachen und zu verbieten.

 

Ordoliberale Grundsätze in der europäischen Politikgestaltung

Der EWG-Vertrag war allerdings nur der erste Schritt in der „Ordoliberalisierung“ Europas – als recht allgemein gehaltener rechtlicher Rahmen unterlag er politischer Einflussnahme und konnte unterschiedlich interpretiert werden. Dies betraf die genannten Vertragsartikel über die Wettbewerbspolitik, deren endgültige Klärung um drei Jahre verschoben wurde. Vor diesem Hintergrund kann man nicht überschätzen, dass von der Groeben als mit der Umsetzung dieser Regeln beauftragter Wettbewerbskommissar ein enges Verhältnis zu zahlreichen Ordoliberalen pflegte. So setzte sich der Böhm-Schüler Ernst-Joachim Mestmäcker (geb. 1926) als Sonderberater der EWG-Kommission für Wettbewerbspolitik und Rechtsangleichung zwischen 1960 und 1970 dafür ein, Art. 86 so auszulegen, dass er wettbewerbswidrige Zusammenschlüsse erfasste. Auf dieser Grundlage verbot die Kommission im Jahr 1971 einen Zusammenschluss von Continental Can; eine Kompetenz, die das Gericht schließlich im Einzelfall anerkannte, womit es im Wesentlichen Mestmäckers Analyse folgte. Frühe Kartellfälle wie Grundig/Consten (1964) wurden im Privatbüro des Kommissars von Ivo Schwartz, der Jura und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg studiert hatte, bearbeitet. Von ähnlicher Bedeutung war Groebens erster Kabinettschef, Ernst Albrecht, der bei einem Schüler Euckens über Haftungsfragen in der Kohle- und Stahlindustrie promoviert hatte.

Durch die langjährige Mitarbeit von ordoliberal gesinnten Beamten wie Schwartz oder Albrecht wurde die ordoliberale Sprache Teil des institutionellen Gedächtnisses. Daher spielten ordoliberale Prinzipien in nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder eine Rolle in der europäischen Wirtschaftspolitik, so etwa beim Vertrag von Maastricht (1992), der die Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen vorsah. Ordoliberale Prinzipien wie Euckens Haftungsprinzip sowie die Einheitlichkeit und Konsistenz der Wirtschaftspolitik wurden in diesen Debatten angeführt, um die Bedeutung von Haushaltsdisziplin und Währungsstabilität zu unterstreichen. Laut dem Maastrichter Vertragstext sollten die Mitgliedstaaten eine solide Haushaltspolitik verfolgen und darauf achten, dass ihre Staatsschulden in einem angemessenen Rahmen bleiben. Die Einführung des Euro im Jahr 1999 stand im Einklang mit der ordoliberalen Idee, eine stabile Währung zu gewährleisten, die Preisstabilität und Vertrauen in dem gemeinsamen Währungsraum schafft.

In der rechtlichen und wirtschaftshistorischen Debatte wird seitdem diskutiert, ob die Europäische Zentralbank (EZB) sich in ihrem Aufbau und wirtschaftlichen Denken am ordoliberalen Vorbild der Bundesbank orientiert hat. In der Tat hat die EZB den klaren Auftrag, Preisstabilität zu gewährleisten. Sie soll unabhängig sein, um die Geldpolitik frei von politischer Einmischung durchzuführen. Hinsichtlich der Haushaltspolitik soll die nationale Verantwortung durch die No-Bailout-Klausel (Art. 125 AEUV) und das Verbot der monetären Finanzierung der Haushaltspolitik (Art. 123 AEUV) sichergestellt werden. Darüber hinaus ergänzten die sogenannten Maastricht-Kriterien und später der Stabilitäts- und Wachstumspakt die gemeinsame Geldpolitik, um einer allzu expansiven Haushaltspolitik entgegenzuwirken. Diese Elemente der europäischen Wirtschaftsverfassung spiegeln deutlich die ordoliberale Vorstellung wider, einen Rahmen von Regeln zu schaffen, der sowohl eine solide Haushaltspolitik als auch eine stabile Währung gewährleistet.

 

Abweichungen und Kritik

Ordoliberale Ideen wurden von der Europäischen Gemeinschaft jedoch nicht ohne Abgleich mit anderen Denkschulen und Interessen übernommen. Bereits während der Vertragsverhandlungen brachten französische und italienische Ökonomen eigene Vorstellungen ein, was zu Kompromissen führte. Auch im internen Diskurs der europäischen Wettbewerbsbehörde gab es eine konkurrierende „keynesianische“ Auffassung von Wettbewerbspolitik, die in den 1970er Jahren florierte und nicht den Markt, sondern die Bedeutung von Planung für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, demokratische Rechenschaftspflichten und Neokorporatismus hervorhob. Insbesondere Pieter verLoren van Themaat, der die niederländische Delegation bei den Verhandlungen über den Schuman-Plan beraten hatte und erster Generaldirektor der Europäischen Wettbewerbsbehörde (1958-1967) wurde, vertrat andere Auffassungen als Mestmäcker. Auch der regelbasierte Ansatz zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion war nicht eine allein von der Bundesrepublik durchgesetzte ordoliberale Regelung, sondern basierte auf einem länderübergreifenden, neoliberalen Konsens von Eliten und wurde durch die damals aufkommende Glaubwürdigkeits- und Zeitkonsistenztheorie aus den USA gestützt, die Zentralbankunabhängigkeit und regelbasierte Haushaltspolitik betonte.

Zudem gab es im Laufe der Zeit Veränderungen.  So fand während des „More Economic Approach“ der 2000er Jahre eine Fokussierung auf die messbare Konsumentenwohlfahrt statt – eine Metrik, die aus der amerikanischen Antitrust-Literatur entlehnt ist und sich deutlich von ordoliberalen Ideen unterscheidet. Die jüngsten Entscheidungen bezüglich des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als Rettungsmechanismus für stark verschuldete Länder und die Akzeptanz unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen in Europa zeigen zudem, dass die europäische Wirtschaftspolitik größtenteils pragmatisch und nicht ordoliberal auf die durch die Finanz- und Eurozonenkrise zwischen 2008 und 2012 verursachten Herausforderungen reagierte. Auf ähnliche Weise deutet zuletzt das kritische Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts bezüglich des „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) der EZB darauf hin, dass die europäische Zentralbank seit ihren ordoliberalen Anfängen einen internen Wandel durchlaufen hat. Durch das 2015 eingeführte PSPP kaufte die EZB Staatsanleihen von Euro-Ländern auf dem Sekundärmarkt, um die Zinsen zu senken und die Kreditkosten zu reduzieren. Die deutschen Richter erklärten das PSPP, unter anderem in Bezugnahme auf ordoliberale Grundsätze, in Teilen für verfassungswidrig.

Insgesamt verdeutlichen die multiplen Krisen seit 2011, dass die Heterogenität der EU-Mitgliedsländer mit ihrer unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeit ein ungelöstes Problem bei der Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion darstellt. Kritiker bemängeln, dass der europäische Fokus auf ausgeglichene Haushalte, neoliberale Marktlogik und rigorose Preisstabilität zu sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten beitrage oder diese sogar verursache. Andere wiederum glauben, dass die Kriseninterventionen und aktuellen industriepolitischen Pläne der Europäische Union, wie der sogenannte „Chips Act“, mittlerweile zu weit von den ordoliberalen Wurzeln wegführen. In krisenhaften Zeiten werden die ordoliberalen Prinzipien – und ihre Umsetzung in der Wirtschafts- und Währungsunion als auch in anderen Politikbereichen der EU – also weiter diskutiert.

 

Fazit

Ordoliberale Grundsätze haben den Charakter der europäischen Wettbewerbs- und Geldpolitik in der Vergangenheit stark beeinflusst. Auch wenn viele ideologische Parallelen erkennbar sind, erkundet die Forschung bis heute, inwieweit solche theoretischen Überlappungen auf biographisch erklärbare Einflüsse konkret zurückgeführt werden können. Die ordoliberalen Prinzipien haben dazu beigetragen, den europäischen Binnenmarkt zu stärken, den Wettbewerb zu fördern und die Wirtschafts- und Währungsunion zu begründen. Allerdings verdeutlicht die seit der Eurozonenkrise grassierende Kritik, dass diese ordoliberalen Grundlagen weiterentwickelt werden müssen, um weiterhin eine im ökonomischen wie politischen Sinne nachhaltige Wirtschaftspolitik anzuleiten.

 

Literatur:

  • Anselm Küsters:The Making and Unmaking of Ordoliberal Language. A Digital Conceptual History of European Competition Law. Diss., Frankfurt am Main 2022.

 

Anselm Küsters ist Fachbereichsleiter „Digitalisierung / neue Technologien“ am Centrum für Europäische Politik (cep), Berlin und Assoziierter Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main.

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KAS-ACDP 10-001-650
27. September 2023
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